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Das tragische Lebensgefühl. Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Reinhold Schneider

Am 15. November des Jahres 1955 kam es im Funkhaus des Westdeutschen Rundfunks in Köln zu einer denkwürdigen Begegnung zweier Schriftsteller. Es traten sich zwei sehr gegensätzliche Repräsentanten des literarischen Nachkriegsgeistes gegenüber, um über eine Frage zu streiten, die in ihrer Weitläufigkeit charakteristisch war für die damals noch vorhandene Ehrfurcht gegenüber der Literatur. Dichtung galt damals noch als Königsdisziplin der Künste, die Schriftsteller hielt man für prädestiniert zur Erforschung der geistigen Situation der Zeit. "Soll die Dichtung das Leben bessern?", lautete die Frage, und die beiden literarischen Kontrahenten hießen Gottfried Benn und Reinhold Schneider. Dem einen war als nihilistisch aufgelegtem Dichterarzt der Gottesglaube und mit ihm jede Form von Transzendenz abhanden gekommen. Der andere, streng katholisch erzogen und in großbürgerlicher Atmosphäre aufgewachsen, hatte sich durch Seelenqual und Daseinsverzweiflung zu einem "radikal christlichen Ethos" vorgearbeitet, ohne aber seine Glaubens-Zweifel je beruhigen zu können. Der eine, Gottfried Benn, übernahm den Part des radikalen Ästhetizisten. Er bekannte sich vorbehaltlos zum Monologischen in der Kunst und zum rettungslos einsamen Geschäft des Dichters, der geschichtlich unwirksam bleibt, aber gerade daraus seine Größe bezieht. Sein Antipode Reinhold Schneider versuchte eine Standortbestimmung als christlicher Dichter, der um die Unabwendbarkeit des eigenen Scheiterns weiß, aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, dass aus dem lyrischen Monolog ein Dialog wird.

Michael Braun | 13.05.2003
    Unserem heutigen Bewusstsein ist von den Streitenden nur noch Gottfried Benn präsent, der Vertreter der von allen ethischen Utopien befreiten "Metaphysik der schöpferischen Lust". Sein Kontrahent, der christliche Tragiker Reinhold Schneider, ist dagegen so gründlich dem Vergessen anheim gefallen, dass selbst sein Name nur noch wenigen Eingeweihten geläufig ist. Reinhold Schneider, der heute vor hundert Jahren in Baden-Baden geboren wurde, teilt das Schicksal jener katholischen Schriftsteller, die in Nachkriegsdeutschland als Vertreter eines christlichen Humanismus zunächst hofiert und dann, im Gefolge politischer Paradigmenwechsel, als verstaubt und reaktionär ad acta gelegt wurden. Autoren wie Stefan Andres, Werner Bergengruen, Gertrud von le Fort oder eben Reinhold Schneider, die bis in die frühen sechziger Jahre hinein als "Gewissen der Nation" bewundert wurden, sind im Gefolge des literarischen Säkularisierungsprozesses nach 1968 aus dem literarischen Bewusstsein gestrichen worden.

    Die Gründe für das auffällige Desinteresse an Reinhold Schneider liegen auf der Hand. Nicht nur der christliche Dichter ist aus der Mode gekommen, sondern auch der Pathetiker der steilen geistesgeschichtlichen Gebärde, der die Begegnung mit den Existenzphilosophen Schopenhauer, Kierkegaard und Nietzsche als Erschütterung empfindet. Auch wird das ironisch trainierte Bewusstsein heutiger Leser kaum mehr affiziert von einem Autor, der als überzeugter Monarchist den gefallenen Imperien der europäischen Kaiser- und Königreiche hinterher geträumt hat.

    Um die Verwaltung und Vermittlung des literarischen Erbes von Reinhold Schneider bemüht sich seit 1970 die Reinhold-Schneider-Gesellschaft, die seit vielen Jahren von dem Historiker und Altertumswissenschaftler Carsten Peter Thiede geleitet wird. Zum 100. Geburtstag Schneiders hat Thiede gemeinsam mit dem Theologen Karl-Josef Kuschel im Insel Verlag einen Auswahlband mit Textproben aus den wichtigsten Romanen, Erzählungen und Essays des Autors veröffentlicht.

    Befragt nach der möglichen Modernität des Autors Schneider, verweist Thiede auf das fortdauernde Interesse an Schneiders Schriften, das sich freilich außerhalb der germanistischen Zirkel und auch jenseits des Literaturbetriebs manifestiert.

    Reinhold Schneider ist nach seinem frühen Tod -er ist 1958 gestorben, wir haben also auch das 45. Todesjahr - vergessen worden. In vielen Kreisen des öffentlichen Bewusstseins war das plötzlich - um das neudeutsche Wort zu gebrauchen - ein Paradigmenwechsel. Es gab diese Art Kulturrevolution in den sechziger Jahren, dann war diese Generation der Autoren grundsätzlich nicht mehr präsent, verschwand auch aus den neueren Literaturgeschichten. Aber es gibt da ein Phänomen, dass man dann bemerkt, wenn man den Buchhandel überprüft und die Aktivitäten der Verlage, dass die wichtigsten Werke Schneiders immer im Handel waren und nie vergriffen waren und zum Teil in erstaunlichen Auflagenzahlen - der Suhrkamp Verlag legte jetzt gerade beispielsweise die siebte Auflage der Taschenbuchausgabe von Schneiders vielleicht wichtigstem Werk , der Erzählung "Las Casas vor Karl V." vor. Portugal-Reisende kennen alle - ohne Ausnahme gleichsam, - wenn sie sich nur ein bisschen für Geschichte interessieren, "Portugal. Ein Reisetagebuch" - da sind sich alle einig: das ist das beste Buch, das jemals über Portugals Geschichte und Kultur geschrieben wurde - wird ständig von Suhrkamp und Insel in verschiedenen Ausgaben neu aufgelegt.

    Carsten Peter Thiede formuliert diese Thesen kurz vor Beginn der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag Reinhold Schneiders, die am Ort seiner Kindheit, einem Luxus-Hotel in Baden-Baden, zelebriert werden. Hier erlebte Schneider, der Abkömmling der Hotelierdynastie Messmer, als Kind den Untergang einst glanzvoller geschichtlicher Größe. Sein Großvater Wilhelm Messmer hatte in Baden-Baden das legendäre Hotel "Maison Messmer" erbaut, in dem der junge Reinhold gemeinsam mit seinem älteren Bruder Willy aufwuchs. Zu den prominenten Gästen des Hotels gehörten Kaiser Wilhelm II. und mit ihm all die stolzen Herrlichkeiten des langsam untergehenden Kaiserreichs. Hier widerfährt Reinhold Schneider im April 1922 die traumatische Erfahrung seines Lebens. Der Selbstmord des Vaters, der das Hotel nach 1918 verkauft und sein komplettes Vermögen durch die Inflation verloren hatte, stürzte den lebensängstlichen Neunzehnjährigen in eine tiefe Depression. Die Schwermut wurde fortan zur Signatur seines Werks. Das Tragische, dem er biographisch begegnet war, erhob er spätestens 1926 zum Daseinsgesetz jeder geschichtlichen Existenz. In diesem Jahr fällt dem damals in seiner geistigen Orientierung noch unentschiedenen Schneider ein Buch des Dichterphilosophen Miguel de Unamuno mit dem Titel "Das tragische Lebensgefühl" in die Hände.

    Carsten Peter Thiede warnt jedoch davor, Schneider zum großen Tragiker zu stilisieren und verweist auf die Kindheitserinnerungen in dem Aufzeichnungsbuch "Der Balkon" von 1957, in dem ein eher wehmütig-ironisch gestimmter Schneider auf seine kindliche Lebenswelt zurückblickt. Die Modernität Schneiders liege nicht in seiner existenzialistischen Affinität zur Schwermut und zum Scheitern, sondern vor allem in seinem leidenschaftlichen Plädoyer für "Europa als Lebensform". Als Kultureuropäer und Kritiker der Judenverfolgung sei Schneider seiner Zeit voraus gewesen:

    Schneider war Europäer, ehe das Mode wurde. Heute will jeder Europäer sein, jede Festrede ist irgendwo europäisch, oder soll es sein und will es auch sein.

    Er war immer einen Schritt voraus, auch einen Schritt voraus, als es darum ging, den Nationalsozialismus zu durchschauen und sich an die Seite der Juden zu stellen, beispielsweise. Da war er viel früher da, da brauchte er nicht die Reichskristallnacht, da schrieb er seinen "Las Casas" und andere Texte vorher. 33, 35, 36, 38: Ehe es eigentlich zu spät war, erhob er seine literarische Stimme des Widerstandes, des Appells zur Umkehr.


    Auf keine Emotion verstand sich Reinhold Schneider so sehr wie auf das hingebungsvolle Verehren gekrönter Häupter. Seine Domäne war der historische Roman, in dem er die Größe und den Untergang von König- oder Kaiserreichen in pathetischen Reminiszenzen einzufangen verstand. Der passionierte Monarchist begann mit Werken über die Könige und Kaiser der iberischen Kultur, begeisterte sich z.B. für "die Seele Portugals", bevor er sich in den dreißiger Jahren historischen Konstellationen zuwandte, mit denen er sich den Unwillen der Nationalsozialisten zuzog. Kurz vor dem politischen Schicksalsjahr 1933 hatte Schneider eine Schrift über den Philosophen Johann Gottlieb Fichte und dessen Begeisterung für die "deutsche Nation" veröffentlicht. Die Kulturpolitiker des NS-Staats ergriffen dankbar die Gelegenheit, um Schneider für die eigenen Reichs-Phantasien zu instrumentalisieren. Schneider entzog sich jedoch schroff allen Anbiederungsversuchen und schrieb von 1935 bis 1938 gleich drei Werke, die in verschlüsselter Form seine Ablehnung des NS-Staats formulierten. Sein 1933 publizierter, vom Regime bald darauf unterdrückter Exkurs über die Hohenzollern, den er unter das Motto "Tragik und Königtum" stellte, konnte ebenso als Absage an deutschen Größenwahn gelesen werden wie seine emphatische Studie über England, "Das Inselreich", und sein Hauptwerk, die 1938 erschienene Erzählung "Las Casas vor Karl V." Die Erzählung formuliert einen scharfen Widerspruch gegen jede Anmaßung einer vermeintlichen Herrenkultur - und wurde von den Zeitgenossen auch sofort als Schneiders Protest gegen die Judenverfolgung interpretiert.

    Bereits 1936, lange vor den furchtbaren Vernichtungskriegen Nazi-Deutschlands, entsteht sein bekanntestes Sonett "Allein den Betern kann es noch gelingen", das berühmteste Exempel jener dichterischen Arbeiten, mit denen Schneider besonders in den Kriegsjahren "literarischen Sanitätsdienst" leisten wollte. Seine Sonette hat Schneider einmal mit der Grabstätte der spanischen Könige verglichen und von ihrer symmetrischen Architektonik gesprochen. Tatsächlich haben all diese Sonette etwas schwerfällig Rhetorisches, einen auf Verkündung und Predigt gestimmten Ton. So auch das Sonett "Die Überlebenden", in dem Schneider sein Wort an die vom Kriegs-Terror Verschonten richtet und die Einkehr ins rettende Gebet fordert. Auf einer 1956 oder 1957 aufgenommenen Schallplatte des Christophorus Verlags, eine der ganz wenigen Tonaufzeichnungen, die von Schneider überliefert sind, rezitiert der Autor sein Sonett:

    Die Überlebenden

    Die Hölle streifte uns. Wir blicken nicht nach Trümmern um, die Gut und Werk bedecken. - Verglühter Richtstatt, unerhörtem Schrecken entkamen wir und eilen ins Gericht. - Beugt euch in Gottes waltendes Gedicht Die Letzten sind wir, die euch schaudernd wecken. - Seht aus der Tiefe sich den Schatten recken. - Fasst euch ans Herz und glaubet an das Licht.

    Die Engel und die Drachen streiten weiter. - Uns ist die Welt versehrt, das Herz zerrissen - und geisterhafte Lichter wirft der Tag. - Ihr Beter streitet fort und wecket Streiter. - Die Gnade fast, dass wir vom Abgrund wissen und von der Liebe, die euch retten mag.

    Das Sonett stammt aus einer Zeit, da Schneider beschloss, in einer Reihe von kleinen Denkschriften und moralisch ambitionierten Dichtungen sich direkt als Tröster an sein Publikum zu wenden. Als Schneider 1951 drei Artikel in der Ostberliner Zeitschrift "Aufbau" veröffentlicht, in denen er gegen die Wiederbewaffnung Westdeutschlands protestiert, wird er in den konservativen Medien im Westen als "Kommunist" und willfähriger Helfer des SED-Regimes denunziert. Der sogenannte Fall Reinhold Schneider bringt den Autor in eine existenzbedrohliche Situation, seine Artikel werden nicht mehr gedruckt, vereinbarte Funkbeiträge nicht mehr ausgestrahlt. Erst die Intervention des damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss setzt der Kommunistenjagd ein Ende. 1956 wird Schneider der "Friedenspreis des deutschen Buchhandels" verliehen, und nutzt seine Paulskirchen-Rede zu einem Appell an die "Opferbereitschaft" für den Frieden, einen Frieden, den er noch völlig kirchenkonform als "geschichtliche Darstellung glaubensstarker Liebe zu Gott, der Menschheit und aller Kreatur" definiert. In dieser Friedenspreis-Rede kommt noch einmal der christliche Moralphilosoph Schneider zum Vorschein. Auch diese Rede ist auf der Schallplattenaufnahme von 1957 dokumentiert::

    Kein Schriftsteller, der seine Sache ernst nimmt, wird sich einbilden, dass er Staaten und Völkern etwas vorschreiben kann. Auch weiß er wohl, dass für die Lenker der Staaten und Völker Gesetze gelten, von denen er frei ist, er nun wirklich in seiner geistigen Entscheidung. Nicht in seiner Beziehung zur Öffentlichkeit -eine einigermaßen freie Existenz. Als solcher kann, möchte er nur aus der ganzen Kraft seines Herzens ein Zeichen sein - und zwar der Liebe. Gegen alle Wahrscheinlichkeit muss an der Stelle, wo wir angelangt sind, eine Hoffnung sich erheben, ein Bemühen entfacht werden, die den heute gedachten vollzogenen Gedanken des Todes entgegen sind. Alle Katastrophen der Geschichte haben sich im Geistigen und Sittlichen ereignet, ehe sie sich in materiellen Machtkämpfen dargestellt haben. Sie sind also angewiesen auf ein bestimmtes Klima des Denkens, Glaubens, Wünschens. Wo sie dieses nicht spüren, brechen sie nicht vor. Um dieses Klima geht es. In dieser Stunde unheimlichen Waffenstillstandes.

    Im Winter 1957/58 tritt Schneider die letzte Reise seines Lebens an. Von Freiburg, wo er seit 1937 lebt, bricht er auf nach Wien, wo er nicht nur die Herrschaftszeichen einer ins Sakrale weisenden Weltordnung vorfindet, sondern noch einmal eine furchtbare Erschütterung seiner katholischen Glaubensgewissheiten erlebt. Wien, das ist für Schneider nicht nur die Stadt verlöschender kaiserlicher Pracht, sondern auch der Ort einer neuerlichen Gottesverdunkelung, des Absturzes in transzendentale Obdachlosigkeit. Das "Phänomen Wien" beschreibt er in seinen letzten Aufzeichnungen als "inneren Unfall", als "Einbruch der dunklen Wasser in einen leer gewordenen Raum, einen Einbruch also von unten her". Für Reinhold Schneider, der zeitlebens wie ein Mönch lebte und nie eine Ehe eingehen wollte, um nicht die ererbte Schwermut an seine Nachkommen weiterzugeben, war am Ende der Schmerz die zentrale Kategorie seines Lebens. Eine schwere Darmerkrankung zwang ihn dazu, nur noch flüssige Nahrung zu sich zu nehmen. Schon bevor er am Ostersonntag des Jahres 1958 an den Folgen eines Sturzes starb, hatte sich die Qual in die Gesichtszüge des Fünfzigjährigen eingeschrieben. Der baumlange Mann schleppte sich in seinen letzten Jahren wie ein moribunder Greis durch die Welt. Dennoch, so glaubt Carsten Peter Thiede, war auch der todkranke Schneider nie nur ein verzweifelter Hiob in der Glaubensleere, sondern ein Prophet der Daseinsbejahung und des friedensstiftenden Handelns:

    Dieser Opfergedanke, der ist etwas, das darf man - glaube ich - so sagen, etwas Urchristliches, das er sich zu eigen machte. Der Gedanke des Martyriums. Das Leben, die Gesundheit, die gesellschaftliche Stellung, Sicherheit aufzugeben oder zumindest dafür bereit zu sein, es zu tun, um etwas Höherem willen.

    Und insofern ist die Bereitschaft zum Opfer, also für das wovon man überzeugt ist öffentlich einzustehen, dafür auch Nachteile bis hin zum Verlust des Lebens - Schneider wäre fast gegen Ende des Krieges ja noch hingerichtet worden in einem Verfahren wegen Hoch- und Landesverrats - ist das ein entscheidender Bestandteil des - aristotelisch gesagt - des zoon politikon, des in der Gesellschaft wirkenden Menschen. ...Aber dieses Grundsätzliche, bereit zu sein, auch ein Opfer zu bringen, darf man nicht als tragische Leidenssehnsucht missverstehen, sondern nur als die Bereitschaft, die Konsequenz des eigenen Handelns auch zu tragen.