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Das Turnen bleibt politisch

Friedrich Ludwig Jahn hat vor 200 Jahren das Turnen als eine spezifisch deutsche Betätigung erfunden. Besonders wichtig war ihm dabei die deutsche Sprache. 1811 schrieb er über das Turnen: "Aller Anfang ist schwer. Dazu muss die ganze Sprache erst umgeschaffen werden, denn geradebrechte Kunstwörter können doch Deutsche nicht gebrauchen."

Von Sandra Schmidt | 03.04.2011
    Das Wort Turnen erklärte Jahn kurzerhand zum urdeutschen Laut, obschon es vom Lateinischen tornare abstammt. Jahn hatte vor allem die Gründung einer deutschen Nation im Sinn. Seine Sprachstudien waren dabei ebenso wie das Turnen und die damit einhergehende Wehrertüchtigung Mittel zum Zweck. In seinem Werk Das deutsche Volkstum heißt es:

    #’"Nichts ist ein Volk ohne Staat, ein leibloser, luftiger Schemen, wie die weltflüchtigen Zigeuner und Juden. [...] Mischlinge von Tieren haben keine echte Fortpflanzungskraft und ebenso wenig Blendlingsvölker ein eigenes volkstümliches Fortleben. [...] Je reiner ein Volk, je besser; je vermischter, je bandenmäßiger."

    Schon die zeitgenössischen Literaten Heinrich Heine und August von Kotzebue kritisierten derlei Aussagen. Kotzebue wurde später von einem Turner ermordet. Beim Wartburgfest 1817, dessen Planung auch auf Jahn zurückgeht, verbrannten Turner und Burschenschaftler Bücher, die sie als undeutsch und turnerfeindlich ansahen. Darunter Napoleons Code Civil.

    Die Nationalsozialisten fanden für ihre Rassenideologie somit bei Jahn dankbare Anknüpfungspunkte. Die zuvor nationalistische Turnbewegung wurde früh und ohne Zögern eine nationalsozialistische. Beim Deutschen Turnfest 1933 in Stuttgart rief Adolf Hitler zu einer Gedenkminute für Jahn auf. Dort hieß es:

    "Zurück zu Jahn, es gibt kein besseres Vorwärts! [...] Wir können das Erbe Jahns nie in bessere und mächtigere Hände als die des Führers legen."

    Jahn wurde zum "politischen Soldaten" und als Vorbild für die Leibeserziehung der NS-Zeit instrumentalisiert. Mit seinen Ideen, die anfänglich auch einen kosmopolitischen Zug aufwiesen, hatte das freilich nicht mehr viel zu tun.

    Doch Jahns Werk ist in sich nicht stimmig. So ließen sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg Anknüpfungspunkte finden: Die DDR nannte 1957 ihren Dachverband Deutschen Turn- und Sportbund. Jahn wies sie eine wichtige Rolle für die Traditionsbildung zu, und zwar für den olympischen wie den nicht-olympischen Sport. Er wurde als Repräsentant des "fortschrittlichen Bürgertums" gepriesen und besonders sein "Gemeinschaftsgeist" sollte der DDR-Gesellschaft zum Vorbild dienen. Perfekt synchrone Massen- und Freiübungen prägten denn auch die Turnfeste. Auf internationaler Bühne trugen nicht zuletzt die vielen Medaillen der DDR-Turner dazu bei, dem Staat zu Anerkennung zu verhelfen. Der Sozialist und DDR-Bühnenautor Peter Hacks allerdings ließ kein gutes Haar an Jahn:

    "Ich zermartere mir ganz vergeblich den Kopf, welcher bestehenden Abteilung der Gesellschaft die Jahnsche Lehre hätte den mindesten Nutzen bringen sollen. [...] Indem Jahns Entwurf für keine Klasse taugte, taugt er für manche. Jeder Schwachkopf und jeder Betrüger kann ihn brauchen. Jeder, der die Dinge im Argen lassen will, in dem sie liegen, greift auf ihn zurück."

    Auch der im Westen neu begründete Deutsche Turner-Bund hält zunächst an Jahn fest. So fordert Heinz Wetzel 1957 in der Verbandszeitschrift im Namen Jahns zu politischem Engagement auf; nun eben für die demokratische Gesellschaft. Nur mit großer Verzögerung setzte sich ein differenzierteres Jahnbild durch.

    Heute vereint der DTB unter seinem Dach sowohl den Spitzensport als auch die Jahnschen Turnspiele. Völkerball, Orientierungslauf und Friesenkampf existieren friedlich neben den olympischen Disziplinen. Das Deutsche Turnfest heißt seit 2005 Internationales Deutsches Turnfest.

    Doch auch heute soll das Turnen politischen Zwecken dienen. So schreibt DTB-Präsident Rainer Brechtken zum Jubiläumsjahr:

    "Wir wollen beispielsweise aufmerksam machen auf Turnen und Gymnastik als Gesundheitssport für alle Altersgruppen, mit dem die Turnvereine und -abteilungen heute einen erheblichen Beitrag zur Gesundheitsförderung bzw. zur Vermeidung von Krankheiten durch Prävention leisten und damit dazu beitragen, Kosten im Gesundheitswesen einzusparen."

    Es braucht offenbar immer noch höhere Weihen, um Turnen und Sport zu rechtfertigen.
    Jahns deutsche Turnsprache hat sich schließlich nicht durchgesetzt. Holger Albrecht, Chef der deutschen Kampfrichter, zur Verbreitung des Wortes Turnen:

    "Ich denke da würden wenige Kampfrichter was mit anfangen können, weil ja die internationale Bezeichnung für Turnen 'gymnastics' ist und viele sich an den internationalen Begriffen orientieren."

    Jahnsche Bezeichnungen wie Kehre und Schere, Aufsprung und Umschwung würden der Komplexität des Turnens längst nicht mehr Herr. So erhalten neue Elemente zumeist den Namen ihres Erfinders. Darunter gibt es auch einige deutsche Namen, wie zum Beispiel den Giengersalto oder den Jägersalto.

    Und sollte Philipp Boy in der kommenden Woche Europameister am Reck werden wird, dann mit folgender Übung:

    "Beginnend mit einem Cassina, gefolgt von einem Kolman, gefolgt von einer Staldo-Rybalko in den Ellgriff, ein Adler mit ganzer Drehung in Verbindung mit einem Yamawaki, ein Adler mit halber Drehung in Verbindung mit einer Tkatschow gestreckt, ein Rybalko in den Ellgriff, einen Quast und einen Doppeltsukahara als Abgang."

    Dies nun sind zwar nach Jahn allesamt "geradebrechte Kunstwörter", aber das wird Philipp Boy wohl kaum stören.