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Das unbeugsame Streben als Hauptmotiv

Der Protagonist in diesem Roman von Charles Dickens ist der elternlose Pip. Der Vollwaise erfährt eine wundersame Rettung aus elenden Verhältnissen. Ein Wohltäter verhilft im zu einem Vermögen und nun beginnt die neue Identität als Gentleman.

Von Ursula März | 06.02.2012
    Dass die weltliterarische Bedeutung Charles Dickens unterschätzt würde, kann man wahrhaft nicht behaupten. Er gilt als der berühmteste englische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, sein Nachruhm ist in vorzüglichen Editionen beheimatet und wird beglänzt von biografischer wie soziologischer Forschungsarbeit der liebevollsten und akribischsten Art. Und doch wird Charles Dickens in einer Hinsicht wohl unterschätzt: in seiner Modernität. In seiner Statur als Avantgardist. Für sein Heimatland dürfte dies etwas weniger gelten als für unsere Breitengrade, wo der Name Dickens bis heute eine Assoziationskette auslöst, die von Titeln wie "Oliver Twist", "David Copperfield" oder "Weihnachtserzählungen" zu der vagen Vorstellung führt, es handele sich hierbei um Romane von beschaulicher Munterkeit und jugendliteraturhafter Abenteuerlichkeit. Tatsächlich ist das Werk Dickens´ ohne seine zahlreichen jugendlichen Helden, ohne all seine Waisenkinder, die das Leben als picareske Achterbahnfahrt durch Armut und Schufterei, Entbehrung und Hoffnung kennenlernen, überhaupt nicht vorstellbar. Ebenso wenig aber ohne die Dramaturgie des Schocks, ohne die Ästhetik des Unheimlichen, ohne das Bewusstsein für die Störung des modernen Zeitempfindens. Diese Modernität indes betrifft nicht nur das Werk. Sie betrifft auch dessen energische Vermarktung durch den Autor. Charles Dickens, der sich in Verlagsverhandlungen, in Honorarforderungen und in der Multiverwertung seiner Texte als knallharter Business- und Selfmademan erwies, der bei allem, was er tat und unternahm den Faktor Geld, beziehungsweise den möglichen Erwerb von Immobilien scharf im Auge hatte, beherrschte das operative Geschäft des literarischen Erfolges wie keiner vor und - dies ist das wahrhaft Erstaunliche - auch keiner nach ihm. Allein das Gewaltpensum seiner Lesetouren irritiert unsere Annahme, vor 150 Jahren sei der Literaturbetrieb Europas so grundlegend anders gewesen, dass sich kaum Vergleiche mit der Gegenwart ziehen ließen. Mitnichten. Dickens' öffentliche Präsenz nimmt sich nicht geringer aus als die Daniel Kehlmanns zu Zeiten der Veröffentlichung seines Bestseller "Die Vermessung der Welt" erschien.

    Allein in den ersten Monaten des Jahres 1867 trat Dickens bei 42 Lesungen in England und Irland auf. Im Herbst schiffte er sich nach Amerika ein, um dort eine Serie von 75 Lesungen zu absolvieren. Im wiederum nächsten Herbst startete er eine Abschiedstour von 72 Lesungen, der 1870, seinem Todesjahr, eine allerletzte Auftrittsserie von elf Lesungen folgte.

    Das unbeugsame Streben nach oben - dies ist das Hauptmotiv im Leben des Schriftstellers Charles Dickens. Und es ist das Hauptmotiv seines autobiografisch gefärbten Werks. Für den Autor aber wie für seine jungen Helden gilt: Der eiserne Wille, es in der Gesellschaft hinaufzuschaffen, steht in reinster Form vor allem jenen zur Verfügung, die einmal oder von Beginn an ganz weit unten waren. Das war Dickens. Denn bevor er im Alter von fünfzehn Jahren als Lehrling in einer Anwaltskanzlei eintrat, sich bereits zwei Jahre später gegen die juristische und für eine journalistisch-literarische Laufbahn entschied, geriet das Kind Charles Dickens in den Tunnel einer Arbeitsfron, dessen Licht am Ausgang ein Zwölfjähriger nicht sehen kann. Es ist das Erniedrigungstrauma in Leben von Dickens, in vielen Variationen, in "David Copperfield" beispielsweise, poetisch bearbeitet: Dickens Vater, unfähig zu vernünftigem Haushalten, wurde 1822 als Schuldgefangener in Haft, sein Sohn daraufhin aus dem Schulunterricht genommen, um in einer Schuhwichsfabrik zu arbeiten und so zur Ernährung der Familie beizutragen. Die Arithmetik des Erfolgs, die Dickens sich so märchenhaft aneignete, hat an diesem gespenstischen Nullpunkt seiner Kindheit ihren Ursprung.

    Es ist mir unbegreiflich, wie man mich in so zartem Alter so leichthin fallen lassen konnte. Es ist mir unbegreiflich, dass, nachdem ich seit unserer Ankunft in London bereits zu einen kleinen Packesel geworden war, niemand genug Mitgefühl mit mir aufbrachte - mit einem Kind von einzigartigen Gaben, aufgeweckt, lebhaft, zart und verletzlich an Körper und Geist - um auch nur vorzuschlagen, mich auf eine gewöhnliche Schule zu schicken. Keine Worte können die heimliche Agonie meiner Seele ausdrücken, die das Versinken in solche Gesellschaft in mir bewirkte, wenn ich diese Genossen mit den Gefährten meiner glücklicheren Kindheit verglich und wenn ich daran dachte, dass alle Hoffnungen, einmal ein gelehrter und angesehener Mann zu werden, in meiner Brust erstickt waren.

    Kaum ein Roman ist besser geeignet, dem heutigen Leser die literarische und soziobiografische Modernität Charles Dickens zu veranschaulichen wie "Große Erwartungen". Dass gerade dieser Roman zum 200. Geburtstag des englischen Giganten in der überragenden Neuübersetzung von Melanie Walz im Deutschen erschien, ist ein Glücksfall. Es ist Dickens künstlerisch anspruchsvollster und komplexester Roman, den er vom Dezember 1860 bis zum August 1861 zunächst als Fortsetzungsgeschichte veröffentlichte. Die Geschichte des Vollwaisen Pip umfasst die Zeit von 1812 (Dickens Geburtsjahr also) bis 1840. Pip lebt zunächst im öden, düsteren Marschland der Themsemündung und ist als das elternloses Kind bei seiner dragonerhaften älteren Schwester und ihrem Mann, einem einfachen Dorfschmied untergekommen. Schon in der Ausgangsepisode des Romans deutet sich dessen Gattungsmischung aus Gothic Novel, Psychothrillers und Bildungsroman an: Auf dem Friedhof begegnet Pip dem geflohenen Zuchthäusler Magwitch. Dieser bedroht und zwingt Pip, ihm eine Feile zu besorgen und ihn von seinen Fußketten zu befreien. Fast 500 Seiten später, von Pip und vom Leser nahezu vergessen, taucht dieser Magwitch plötzlich wieder auf; ein Untoter, ein zombiehafter Demiurg, der den Gang, vor allem aber den Sinn der Erzählung nun an sich reißt, parodiert, ja pervertiert. Bis zu diesem Zeitpunkt vollzieht sich der Roman als Märchen, als Pips wundersame Rettung aus elenden Verhältnissen. Ein anonymer Wohltäter finanziert seine juristische Ausbildung in London, ermöglicht ihm finanziell ein vollkommen neues Leben in bürgerlichen Verhältnissen. Das Waisenkind streift die erbärmliche Herkunft ab - und damit seine von der Geburt mitgegebene Identität. Dann der Schock: Kein anderer als Magwitch, ein von der Polizei gesuchter, charakterlich ruchloser Verbrecher ist Pips anonymer Schutzengel. Planmäßig und strategisch formte Magwitch aus dem Hintergrund des Romans das Waisenkind Pip zum Gentleman. Als nichts anderes denn als Frankensteinprodukt erweist sich Pips neue Identität. Das Märchenhafte kippt grausam ins Gespenstische.

    "Und das hier", sagte er und schwenkte meine Hände auf und ab, "das hier ist der Gentleman, den was ich gemacht hab! Ein echter Originalexemplar! Tut mir in der Seele wohl, wenn ich Sie seh Pip. Ich will weiter nichts als hier stehen und Sie ansehn, mein Junge."

    Der Moment dieser Erkenntnis ist einer der großen kathartischen Momente der Weltliteratur. Aktuell wie gestern geschrieben. Atem verschlagend vor Spannung. Aufschlussreich wie die "Dialektik der Aufklärung". Natürlich kommt auch in diesem Roman die Dicken'sche Komik voll auf ihre Kosten. Deutlicher aber als in anderen Romanen ist sie hier verschwägert mit der Poetik des Unheimlichen. Allein die exzentrische Miss Havisham, die Pip zunächst für seine Gönnerin hält: Sie lebt im still gestellten Museum ihrer eigenen Vergangenheit. Seit ihr Bräutigam sie vor Jahrzehnten am Hochzeitstag verließ, hat sie vom Essbesteck bis zu ihrem weißen Kleid nichts von der Kulisse dieses Tages verändert, nie mehr das Haus verlassen. Um Rache an der Männerwelt zu nehmen, zieht sie sich die junge, hübsche Pflegetochter Estella als Verführmaschinchen heran, wie Magwitch seinen kleinen Gentleman Pip heranzieht. Dickens war, buchstäblich sein Leben lang, über die Maßen tüchtig, diszipliniert, fleißig und zielbewusst. Er war ein Kind modernen Gesellschaft, die verspricht, eben diese Eigenschaften mit sozialem Aufstieg zu belohnen. In seinem Leben erfüllte sich der bürgerliche Aufstiegstraum aufs Schönste. In seinem Werk stellte Charles Dickens auch die albtraumhaften Seiten des rationalistischen Welt- und Menschenbildes dar, dessen historische Durchsetzung seine Biografie begleitete.

    Charles Dickens
    Große Erwartungen, Roman, herausgegeben und aus dem Englischen neu übersetzt von Melanie Walz. Hanser Verlag 2011, 832 Seiten, 34,90 Euro.