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"Das Urteil war zu erwarten gewesen"

Alexander Graf Lambsdorff hält das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte zum Mord an Hrant Dink völkerrechtlich betrachtet für ein Schuldeingeständnis der Türkei. Aufgabe eines Staates sei es, das Leben seiner Bürger zu schützen.

Alexander Graf Lambsdorff im Gespräch mit Silvia Engels | 15.09.2010
    Silvia Engels: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Aufgabe, auf Einhaltung der europäischen Menschenrechtskonvention zu dringen. Juristisch ist er damit dem Europarat, nicht dem EU-Parlament zuzuordnen. Dieser Gerichtshof für Menschenrechte also fällte gestern in Straßburg ein ungewöhnliches Urteil. Er gab der Regierung der Türkei eine Mitschuld für den Mord an Hrant Dink. Der armenisch-türkische Journalist war 2007 auf offener Straße erschossen worden, offenbar von einem Rechtsextremisten. Die Bestürzung in der Türkei und weltweit war damals groß, und damals sagte auch der Journalist Oral Calislar:

    O-Ton Oral Calislar: Die Türkei hat zwei Gesichter. Das eine weinte millionenfach beim Trauermarsch für Hrant und das andere hat den Mord vorbereitet. Und diese zwei Gesichter bekämpfen sich ständig. Den Mord an Dink aufzuklären hieße, die Strukturen und Organisationen der Hintermänner zu zerstören und eine demokratische Türkei zu errichten.

    Engels: Die zwei Gesichter der Türkei. – Die Straßburger Richter warfen gestern der Führung in Ankara vor, sie hätte den Journalisten nicht ausreichend geschützt. – Am Telefon ist nun Alexander Graf Lambsdorff, er sitzt für die Liberalen im Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments. Guten Morgen!

    Alexander Graf Lambsdorff: Schönen guten Morgen, Frau Engels.

    Engels: Hat Sie das Urteil und vor allen Dingen die Begründung überrascht?

    Graf Lambsdorff: Nicht wirklich. Das Urteil war zu erwarten gewesen. Es war ja auch schon nach außen gedrungen, dass es so ausfallen würde. Es war auch bekannt, dass den türkischen Sicherheitsbehörden Drohungen gegen Dink vorlagen und man trotzdem nichts unternommen hat.

    Engels: Aber generell wirkt es doch erstaunlich, dass für die Mordtat eines Einzelnen der Staat Mitschuld tragen soll. Steht das auf breitem, völkerrechtlich gesicherten Boden?

    Graf Lambsdorff: Nun, es steht in der europäischen Menschenrechtskonvention selbstverständlich das Recht auf Leben und es ist Aufgabe eines Staates, das Leben seiner Bürger zu schützen. Wenn staatlichen Stellen bekannt wird, dass einer seiner Bürger unmittelbar bedroht wird – und zwar nicht wegen einer privaten Angelegenheit, oder irgendeines Streits in der Nachbarschaft oder so, sondern ganz klar wegen öffentlicher, wegen politischer Tätigkeit -, dann hat der Staat auch eine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diesem Bürger nichts passiert. Der Hintergrund war ja, dass Dink zuvor, bevor er ermordet wurde, bereits von einem türkischen Gericht verurteilt worden war auf Grundlage dieses berüchtigten Paragrafen 301 des türkischen Strafgesetzbuches, nämlich Beleidigung des Türkentums. Dink – das muss man wissen – war halb Armenier und hat eine Zeitung herausgegeben, die sowohl auf Armenisch als auch auf Türkisch erschien. Das war manchem, ich sage mal, von der kemalistisch-autoritären Seite, der traditionalistischen Elite dort, ein Dorn im Auge. Dementsprechend gab es immer wieder Drohungen gegen ihn, die den staatlichen Stellen bekannt waren.

    Engels: Die türkische Regierung hat angekündigt, keinen Widerspruch gegen das Urteil einzulegen. Werten Sie das als Schuldeingeständnis, dass man wirklich da Verantwortung vernachlässigt hat?

    Graf Lambsdorff: Da muss man auch genau hinschauen. Ich habe das eben gesagt: Die kemalistisch-autoritären Kräfte in der Türkei waren sehr stark gegen jemanden wie Dink eingestellt. Die Türkei wird ja jetzt von einer islamisch-konservativen Partei regiert, also ein anderes politisches Lager. Wenn Sie es völkerrechtlich betrachten, haben Sie Recht: ja, das ist ein Eingeständnis der Türkei. Wenn Sie es politisch betrachten, kommen Sie sehr schnell zu dem Schluss, dass diejenigen, die das jetzt akzeptieren, nicht dieselben sind, die hinter diesem Mord standen.

    Engels: Nun trifft dieses Urteil in eine Zeit, wo die Türkei ohnehin in einer großen Debatte, in einem großen Umbruch steht. Wir haben am Wochenende erlebt, dass sich die Mehrheit der Bevölkerung für eine neue Verfassung ausgesprochen hat, und ironischerweise ist es ja so: Wenn diese Verfassung bereits in Kraft gewesen wäre und die daraus abzuleitenden Gesetze auch, dann hätte die Familie von Hrant Dink sich gar nicht nach Straßburg wenden müssen, dann hätte sie auch vor dem türkischen Verfassungsgericht Klage einreichen können. Erklärt das, dass man auch insgesamt jetzt einfach diesen Urteilen auf europäischer Ebene gelassener gegenübersteht, weil man denkt, man ist auch auf dem Weg dorthin?

    Graf Lambsdorff: Ich denke, ja. Dieses Verfassungsreferendum, auch sein Ergebnis, ist ja ein Schritt in die richtige Richtung für die Türkei. Das ist mehr Demokratie, es gibt mehr bürgerliche Rechte für die Menschen in der Türkei, eben auch eine Verfassungsbeschwerde. Es gibt die Möglichkeit, sich ans Verfassungsgericht zu wenden. Die hohe Zahl der Verurteilungen durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – denn die Türkei wird ja immer wieder verurteilt – hatte einfach auch damit zu tun, dass türkische Staatsbürger den Rechtsweg zu Hause nicht vernünftig ausschöpfen konnten. Insofern: Wenn da etwas Gelassenheit jetzt eintreten sollte in Ankara, dann wäre die nachvollziehbar, und für die regierende Partei jedenfalls ist mit dem Ausgang des Referendums die Gelassenheit doppelt zu erklären: einerseits inhaltlich, andererseits politisch. Das war natürlich ein Sieg für die AKP von Premierminister Erdogan.

    Engels: Die Europäische Union und auch Sie gerade haben die Verfassungsreform, die nun umgesetzt wird, begrüßt. Nun haben aber auch die Gegner der Reform immerhin über 40 Prozent an Stimmen aufgebracht. Wie tief ist da die Spaltung der türkischen Gesellschaft?

    Graf Lambsdorff: Ich habe in der Tat das Verfassungsreferendum begrüßt, genau wie viele andere auch, weil wenn Sie sich anschauen, was zum Beispiel auch die Amerikaner gesagt haben, auch ich, auch andere, es geht jetzt um die Umsetzung. Die Art und Weise der Umsetzung wird ganz entscheidend dafür sein, ob die Türkei sich in Richtung Pluralismus entwickelt und damit wirklich in Richtung Europa, oder ob die Ergebnisse dieses Verfassungsreferendums dazu genutzt werden, die aktuellen Machtstrukturen zu zementieren, bei denen die AKP am Drücker ist.
    Die Türkei ist nach wie vor sehr gespalten. ich habe eben schon mal erwähnt, islamisch-konservativ einerseits, kemalistisch-autoritär andererseits. Wenn Sie sich anschauen, wer wie abgestimmt hat, sehen Sie die Spaltung, die bei den Kommunalwahlen schon zu sehen war, zwischen der Küste einerseits, die viel, ich sage mal, eher moderner einerseits ist, andererseits gegen dieses Referendum gestimmt hat, und dem Binnenland, also dem anatolischen Binnenland andererseits ist eine genauso tiefe Spaltung. Sie haben diese Spaltung zwischen religiösen und säkularen Kreisen, sie haben die Spaltung zwischen Modernisten und eher traditionell eingestellten Menschen mit auch sehr, sehr, ich sage mal, von europäischen Werten weit entfernten Vorstellungen, was Familienwerte angeht. Also die Türkei ist ein komplexes, aber nach wie vor in meinen Augen auch tief gespaltenes Land.

    Engels: Nun ist klar, dass diese Reformen auch deshalb vorankommen, weil die Türkei nach wie vor das Ziel des Beitritts zur Union verfolgt. Kann denn die EU da noch als ehrlicher Makler auftreten, wo man ja bekanntlich intern gespalten ist über die Umsetzung dieses Beitrittsziels?

    Graf Lambsdorff: Ja, die Europäische Union ist intern gespalten, das ist bekannt. Auch die Türkei ist intern gespalten. Sie haben inzwischen nur noch eine Zustimmung zum EU-Beitritt in der Türkei von ungefähr 30 Prozent. In der Europäischen Union liegen sie nach einer ganz aktuellen Umfrage, die heute veröffentlicht werden wird, noch bei 23 Prozent Zustimmung. Also ich glaube, dass sowohl die Türken als auch die Europäer erkennen, dass es mit diesem Beitrittsprozess allein nicht getan ist. Dennoch ist die Türkei ja ein wichtiger und bleibt ein wichtiger NATO-Partner, ein wichtiger strategischer Nachbar. Ich finde es deswegen sehr richtig, was Außenminister Westerwelle und seine Kollegen letzte Woche hier in Brüssel beschlossen haben, nämlich mal unabhängig vom Beitrittsprozess im engeren Sinne mit der Türkei in einen strategischen außenpolitischen Dialog einzutreten, um der wichtigen Rolle der Türkei auch in der Außenpolitik gerecht zu werden.

    Engels: Alexander Graf Lambsdorff, er sitzt für die Liberalen im Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments. Wir sprachen mit ihm über die Türkei, das Urteil gestern und das Verfassungsreferendum vom Wochenende. Vielen Dank für das Gespräch.

    Graf Lambsdorff: Danke auch. Tschüss!