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"Das Verhalten von Frau Merkel und Herrn Sarkozy irritiert doch jeden"

Portugal kämpft gegen die Schuldenkrise - und immer öfter mit der Vorstellung, dass Frankreich und Deutschland in Europa den Wirtschafts- und Finanzkurs vorgeben. Lissabon vermisst vor allem eines: Solidarität unter den Mitgliedsstaaten.

Von Tilo Wagner | 23.11.2011
    Zur Primetime im portugiesischen Fernsehen kommentiert seit Jahren Marcelo Rebelo de Sousa das politische Geschehen im In- und Ausland. Der Jura-Professor und ehemalige Parteivorsitzende der konservativen PSD nimmt kein Blatt vor den Mund. In jüngster Zeit hat sich Rebelo de Sousa auf die Eurokrise spezialisiert. Sein Urteil über Europas politische Führung fällt vernichtend aus:

    "Ich spüre eine große Abneigung gegenüber der Führungselite in Europa. Das Verhalten von Frau Merkel und Herrn Sarkozy irritiert doch jeden, also mich irritiert es jedenfalls sehr. Sie machen nicht das, was sie tun sollten, sie sind hochmütig und sie kommentieren die Situation in Griechenland auf eine Art und Weise – das kann doch niemand nachvollziehen. Sie geben einfach unglaubliche Dinge von sich."

    Vielen Portugiesen spricht der bekannte Fernsehkommentator aus der Seele. In Internet-Blogs, Cartoons und Massenmails spiegelt sich das Unverständnis wider, das viele Portugiesen gegenüber der Politik der Bundesregierung empfinden. Missverständliche Äußerungen der Bundeskanzlerin und anderer Regierungsvertreter werden in Portugal schnell aufgegriffen und kommentiert. Der Soziologe Filipe Carreira da Silva meint, die Portugiesen könnten die Entscheidungen der Bundesregierung zur Euro-Krise realistisch einschätzen:

    "Innerhalb von wenigen Stunden sind in Portugal die Wahlschlappen der Kanzlerin bei Landtagswahlen kommentiert worden – als Zeichen dafür, dass ihr opportunistisches Verhalten auch in Deutschland nicht gefruchtet habe. Über die Politik in Europa wird heutzutage sehr schnell und interaktiv berichtet. Kurioserweise urteilen die Portugiesen dabei ähnlich kritisch über die Europa-Politik der Kanzlerin wie die Mehrheit der Deutschen."

    Die portugiesische Regierung ist darum bemüht, die öffentliche Meinung in Portugal über die deutsche Politik nicht noch zusätzlich mit einer neuen Diskussion zu belasten. Deshalb spielt die Frage der Eurobonds für Premierminister Pedro Passos Coelho und seine liberal-konservative Koalition zurzeit keine große Rolle. Während die Bundesregierung gegen die Einführung von Eurobonds ist, sind in Portugal beide Regierungsparteien und große Teile der Opposition dafür. Passos Coelho hat diese Meinungsverschiedenheit mit der Bundeskanzlerin bei bilateralen Treffen in jüngster Zeit nicht verschwiegen. Doch der portugiesische Premierminister setzt seinen politischen Schwerpunkt auf die strikte Einhaltung des Reform- und Sparprogramms. Portugal soll auf keinen Fall ein ähnliches Schicksal erfahren wie Griechenland. Ein offener Konflikt zwischen Berlin und Lissabon über die Frage der Eurobonds könnte diese Strategie untergraben.

    Gegenwind bekommt die Regierung von herausragenden portugiesischen Politikern. EU-Kommissionspräsident Barroso hat die Eurobonds zur Chefsache gemacht. Und der konservative Staatspräsident Cavaco Silva hat seinen Unmut über die Krise in der europäischen Politik deutlich zum Ausdruck gefasst.

    Auch der ehemalige Staatspräsident und Premierminister Mário Soares wirft Deutschland und Frankreich vor, die europäische Einigung infrage zu stellen:

    "Wir haben mit Frau Merkel und Herrn Sarkozy zwei Persönlichkeiten, die lediglich ihre jeweiligen Staaten vertreten, aber eine Politik auf europäischer Ebene machen, die den Willen der anderen 25 EU-Staaten praktisch ignoriert. Ich frage mich, werden die nicht konsultiert, wird deren Meinung übergangen, sind es nur diese beiden, die Entscheidungen treffen? Das kann doch nicht sein. Das bedeutet das Ende des europäischen Projektes. Und dann bricht ganz Europa in sich zusammen, und damit auch Deutschland."

    Der politische Aufstieg von Mário Soares ist eng an die deutsch-portugiesischen Beziehungen geknüpft, die seit der Nelkenrevolution ein wichtiger Bestandteil der Lissabonner Außenpolitik sind. Soares' sozialistische Partei wurde 1973 mithilfe der SPD um Willy Brandt neu gegründet und konnte so nach dem Sturz des autoritären Regimes ein Jahr später eine Führungsrolle beim Demokratisierungsprozess übernehmen. Diese Form der Solidarität gegenüber dem südlichen Europa vermisst der 86-jährige Politiker in der derzeitigen Krise:

    "Deutschland hilft zurzeit nicht so, wie es eigentlich seine Berufung sein sollte. Das wichtigste Grundprinzip der Europäischen Union ist die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten. Und diese Solidarität vermisse ich bei deutschen Politikern. Sie versprechen Hilfe, feilschen aber um den Betrag, dann sagen sie Nein und diskutieren und werfen anderen Staaten Fehlverhalten vor und so weiter und so fort. Natürlich kann man bei so einem Verhalten nicht erwarten, dass die Dinge in Europa rund laufen.""

    Sammelportal dradio.de: Euro in der Krise