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Das verhandelnde Kind

Die Kindererziehung ist besser als ihr Ruf. Gegen das republikweite Getöse um den angeblichen Notstand in den Familien setzt Martin Dornes Zahlen: Demnach ist es um die kindliche Seele überwiegend gut bestellt und eine Rückkehr zur Disziplinierung alter Schule falsch.

Von Barbara Sichtermann | 20.12.2012
    Auch wer keine Kinder hat, wird sie vernommen haben: die große Klage der letzten Jahre, die in Talkshows geäußerten Vorwürfe, die in Büchern begründeten Warnungen, die alle dies eine meinten. Eltern erziehen ihre Kinder nicht mehr, die Jugend missrät, die Pädagogen verzweifeln und der Rest der Welt ist eh überfordert.

    Der "Erziehungsnotstand" wurde zur "Erziehungskatastrophe" gesteigert, die Familien zerfielen, die Gewalt an Schulen eskalierte, die Lehrer gingen mit Burnout geschlossen in den Vorruhestand, so das Horrorszenario. Und dann die Gefahr, die im Medienmissbrauch lauert, die asozialen Computerfreaks, die bleichen Netzjunkies, die Generation Porno.

    Unter den Autoren dieses republikweiten Getöses waren und sind durchaus seriöse Vertreter ihres Fachgebietes wie Gerald Hüther und Remo Largo; aber auch den Nichtwissenschaftlern unter den Klageführenden darf man echte Sorge und ernsthafte Recherche zutrauen. Gleichwohl hatte man als Mutter, Zeitungsleserin oder TV-Zuschauer zuweilen den Eindruck, da würde zu arg auf die Pauke gehauen. Man kannte doch selbst ein paar nette Kinder und zufriedene Familien. Alles nur Schein und hinter der Fassade ein Abgrund von Verwahrlosung?

    Keineswegs, sagt Martin Dornes, der in seinem 400-Seiten-Werk "Die Modernisierung der Seele" sämtliche Erkenntnisse über die tiefe Krise der Erziehungsleistung, der seelischen Verfassung von Kindern und Eltern auf den Prüfstand stellt. Er schreibt:

    "Die meisten Kinder kommen mit den modernen Bedingungen des Aufwachsens gut zurecht und sind mit sich, ihren Eltern und ihren Lebensumständen überwiegend zufrieden. Ich plädiere für eine realistische Einschätzung von Chancen und Gefahren und nicht für eine Spürhundmentalität, die jede individuelle, familiäre und soziale Veränderung vorwiegend auf ihre potenziellen Gefährdungen absucht und damit unvermeidlich aggraviert."

    Was Dornes zunächst konstatiert, ist, dass die meisten Autoren, die das Verhältnis der Generationen als zerrüttet beschreiben, mit unzureichendem Datenmaterial arbeiten. Fallbeispiele ersetzen Statistik, steile Thesen die gesicherte Theorie und "impressionistische" Untergangsvisionen die aus den erhobenen Daten abzuleitenden Schlussfolgerungen. Über Zahlen, die sich mühseliger Erhebungsarbeit verdanken, verfügt Martin Dornes. Er kennt alle Studien, er hat selbst geforscht, er gehört dem Leitungsgremium des Frankfurter Instituts für Sozialforschung an. Und er gibt dem skeptischen Zeitungsleser, der nicht glauben mag, dass sich Kinder heute nur noch zu Tyrannen entwickeln, auf der ganzen Linie recht.

    80 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind, großo modo, mit ihrer Lebenslage in den Familien zufrieden, nur 15 bis 20 Prozent sehen größere Probleme zu Hause und in der Schule. Der dem permissiven Erziehungsstil zugerechnete schwache, schwankende, aggressive und narzisstische Charakter des Kindes von heute ist ein Phantom. Die Tatsache, dass sich die Gesellschaft vom "Befehlshaushalt zum Verhandlungshaushalt" fortentwickelt hat, ist für alle Beteiligten ein Segen und einer der Gründe dafür, dass Kinder von den differenzierten Bildungsangeboten, die ihnen heute in noch nie da gewesener Fülle unterbreitet werden, erfolgreich Gebrauch machen.

    Die Tatsache, dass es an den Rändern der Gesellschaft prekäre Verhältnisse und Bildungsverlierer gibt, leugnet Dornes nicht. Er weist aber nach, dass in den entsprechenden Familien immer noch der autoritäre Erziehungsstil dominiert, der Schritt zur Partnerschaftlichkeit in der Familie, also weg vom Befehl und hin zum Gespräch, gerade nicht getan wurde. Anstrengungen, die patriarchale Autorität wieder mit ein Mehr an Versagungen, Grenzen und Disziplin zu reetablieren, wie sie zum Beispiel Bernhard Bueb nahe legt, können nur nach hinten losgehen. Die Zeit des pädagogischen Zwangs ist vorbei. Die Folgen sind durchaus ambivalent, aber "das Positive" überwiegt.

    Dornes' umfangreiches Werk, das sich seiner klaren Sprache wegen gut liest, geht über Erziehungsfragen hinaus und stellt sich den Problemen, die im Zusammenhang mit Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung diskutiert werden. Die Eltern-Kind-Beziehungen aber sind als Thema dominant.

    Und hier bleibt der Soziologe nicht etwa bei der Widerlegung des erwähnten Alarmismus stehen – er konstatiert seinerseits, dass sich im Erziehungsverhalten und im Leben von Eltern und Kindern vieles geändert hat. Aber er begründet den Wandel anders und zieht andere Konsequenzen aus ihm. So erkennt und benennt er die fatale Unsicherheit, in der viele Eltern sich bei Erziehungsfragen heute wiederfinden, und er kommentiert die Lage folgendermaßen:

    "Vor allem sollte das Orientierungswissen vergangener Zeiten nicht idealisiert werden. Wenn Vorstellungen wie 'Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will' oder 'Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr', welche die Disziplinierung von Kindern legitimationsideologisch begleiteten, verloren gehen, so ist das kein Verlust, sondern ein Gewinn – auch dann, wenn das 'verwissenschaftliche' Erziehungswissen über die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern weniger eindeutig ist. Ein solcher Verlust an Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit bedeutet noch lange nicht, dass moderne Eltern nicht mehr wüssten, was sie für ihre Kinder wollen oder was für diese gut ist. Leider übernehmen viele Autoren ungeprüft die Auffassung von der wachsenden Erziehungsinkompetenz moderner Eltern, von deren Dramatik die Ratgeberliteratur lebt."

    Das ist ein großer Vorteil dieses Buches für Leser ohne soziologisches und psychologisches Vorwissen: Ihnen gehen ein ums andere Mal die Augen auf, sie lernen, dass die "gute alte Zeit" in Sachen Pädagogik eine schlechte alte Zeit war. Dass zwar der menschliche Zugewinn durch das Aushandeln von Konflikten anstelle von väterlicher Basta-Politik mit einem Mehraufwand an Zeit, Kraft und Gedankenarbeit verbunden ist – dass sich der aber lohnt.

    Übrigens: Eltern verbringen entgegen dem 'gefühlten' Wissen um Arbeitshetze und Berufsstress heute mehr Zeit mit ihren Kindern als vor 50 Jahren. Lesen Sie nach bei Dornes. Er hat die Zahlen. Und die sind sehr tröstlich.

    Buchinfos:
    Martin Dornes: "Die Modernisierung der Seele", S. Fischer Verlag, 2012, 527 Seiten, 12,99 Euro