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Das Verschwinden des Menschen im 20. Jahrhundert

Wie bildet man ein ganzes Jahrhundert - im vorliegenden Fall das 20. - ab, ohne ein Geschichtsbuch zu schreiben? Mit "Jahrhundertschnee" ist dem Schweizer Schriftsteller Ernst Halter genau das gelungen. Er verdichtete die 100 Jahre währende Zeitspanne nach dem Prinzip der Montage.

Von Matthias Kußmann | 16.04.2009
    War nun, was um mich herum vorging oder einfach vorhanden war und lebte, war's Anlass zum Zorn oder zur Freude? Dieses Phänomen, dass für einmal nichts passiert, keiner die Welt auf den Kopf stellt, seine Mitbürger und die Zeit mit seinen Vögeln und Flöhen strapaziert, keiner mit einem Transparent für die Menschenrechte der Yetis demonstriert, sondern jeder seinem Studium, seiner Aufgabe, seinem Hobby, seiner Geliebten nachging oder -stieg. Dass keiner im KZ hungerte oder im Gulag fror oder sichernd um sich schaute, bevor er den Mund auftat. Im Gegenteil.
    Sätze aus Ernst Halters "Jahrhundertschnee". Eine friedliche Utopie, die genau in der Mitte des Buches steht - das tatsächlich ein "Jahrhundertroman" ist. Hört man diesen Begriff, denkt man an den "Ulysses" von Joyce oder Prousts "Recherche": literarische Meilensteine des 20. Jahrhunderts. Doch hier ist es anders. Der 70-jährige Ernst Halter wollte nicht unbedingt einen Epoche machenden Roman schreiben, sondern das ganze 20. Jahrhundert abbilden - ein großes, ein mutiges Unternehmen, das naturgemäß fast scheitern muss: Wie will man ein Saeculum, zumal ein so bewegtes, faszinierendes, brutales wie das zwanzigste, auf ein paar hundert Seiten darstellen?

    "Ich fand das Prinzip der Montage das angemessenste. Sie können das 20. Jahrhundert genauso wie ein Menschenleben nicht durcherzählen. Natürlich, theoretisch können Sie das schon - aber es würde eine Bibliothek ergeben, die Sie schreiben müssen. Und immer wäre ja nur Ihr persönlicher Standpunkt vertreten. Montage war die einzige Möglichkeit, das zu bewältigen."

    Und es ist Halter gelungen. Im Buch stehen über 70 Kapitel unverbunden nebeneinander, erzählt aus verschiedenen Perspektiven. Manche beleuchten eine historische Begebenheit, etwa die Atomkatastrophe von Tschernobyl. Andere bringen Personen in ein Gespräch, das es so nie gegeben hat: Brecht und Canetti zum Beispiel. In wieder anderen finden historische und fiktive Personen zusammen. Die meisten Texte spielen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und Halter konzentriert sich vor allem auf den deutschsprachigen Raum. Er erzählt von Deutschland, der Schweiz, Österreich und "Kakanien", der "k. u. k. Monarchie". Neben den genannten Abschnitten gibt es Erzählstränge, die sich durch das ganze Buch ziehen. Einer zeigt den Mentalitätswandel auf einem Bauernhof, mehrere Generationen einer Familie kommen zu Wort. Einer schildert Szenen aus dem Leben eines Fotografen, der zunächst ein kleines Studio besitzt, später die "bessere" Gesellschaft fotografiert, und schließlich das sucht, was man fotografische "Wahrheit" nennen könnte. Ein dritter erzählt von Halters Begegnungen mit dem Schweizer Historiker Jean von Salis. Und schließlich ist da die Geschichte der S. A. Thorwaldt-Gesellschaft. Anhänger des Philosophen Thorwaldt tun sich Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen, um sein Andenken zu pflegen und sein Werk zu edieren.

    "Der Thorwaldt-Strang war für mich wichtig, weil ich die Brüche der deutschen Geschichte um keinen Preis nacherzählen wollte, ich wollte sie gespiegelt haben. Nun konnte und wollte ich kein Leben konstruieren, das 102 Jahre gedauert hat wie das von Ernst Jünger. Ich hatte die Idee einer Spiegelung in einer solchen Gesellschaft und habe versucht, zum Teil auch humoristisch, diese Brüche zu spiegeln","

    denn wie es halt so ist mit Geistesprodukten, zumal mehrdeutigen: Thorwaldts Werk wird im Lauf des Jahrhunderts zunächst von deutschen Kulturkonservativen, dann von den Nazis vereinnahmt, später gar von 68ern und den Grünen: Von Oswald Spengler bis Joschka Fischer, jeder holt sich, was er braucht. Thorwaldt und die gleichnamige Gesellschaft freilich sind listige Erfindungen Halters, die den schmalen Grat zwischen Fiktion und Realität zeigen - ein Muss bei einem Buch über ein mediengeprägtes Jahrhundert zwischen Original und Fälschung. Und: Die Schilderung der abstrusen Thorwaldt-Rezeption wirft ein bezeichnendes Licht auf die Wankelmütigkeit deutscher Intellektueller und der Geisteswissenschaften. Doch warum steht überhaupt die deutsche Geschichte im Zentrum des Romans? Der Schweizer Autor hätte ja auch über die Historie seines Landes schreiben können:

    ""Das wäre aber ein langweiliger "Jahrhundertschnee” geworden! Natürlich könnte man das. Mich interessiert aber von klein auf, weil meine Familie eine sehr politische war, Deutschland als Epizentrum des 20. Jahrhunderts, was es zweifellos ist. Es ist nicht Russland, meines Erachtens, nicht die Sowjetunion, es ist Deutschland. Und das hat mich umgetrieben, der Tischgespräche zuhause wegen. Die haben mich tief beeindruckt, schon damals. Vielleicht, weil ich nicht ganz begriffen habe, warum die Geister so stark aneinander gerieten über dem Essen. Ich ging noch kaum zur Schule, da wusste ich schon viel zu viel - mein Vater war Historiker."

    Auf dem Schutzumschlag des Buches steht "Jahrhundertschnee", darunter "Roman". Innen, auf dem Buchtitel, fehlt die Gattungsbezeichnung, es heißt schlicht: "Eine Revision". Gut, inzwischen ist es üblich, dass Verlage auf fast jedes Buch "Roman" schreiben, weil es sich wohl besser verkauft. Doch bis auf den Innentitel hat es der "Roman" hier nicht geschafft. Warum ist Halter der Begriff der "Revision" so wichtig - der ja verschiedenes bedeuten kann: eine Neubetrachtung, aber auch den Einspruch gegen ein Gerichtsurteil?

    "Für mich ist es sicher einer neue Betrachtung, und zwar meine persönliche Betrachtung, nachdem ich sechzig Jahre über dieses Jahrhundert nachgedacht und darüber gelesen habe. Ich habe es als Trauerarbeit und als eine Aufgabe des Gedenkens empfunden, dieses Buch zu schreiben. Ganz abgesehen davon, dass ich es sehr gern geschrieben habe, aber eine Trauerarbeit ist es natürlich schon. Auch wir jenseits der Grenze, in der Schweiz, haben Trauerarbeit zu leisten, was das betrifft."
    Auf die friedliche Utopie, die wir am Anfang hörten - dass "einmal nichts passiert" - folgt Ernüchterung:

    Die dunkle Unterströmung bleibt, kein Glück, keine Freude trocknet sie aus, noch immer sind wir auf Fausts Osterspaziergang unterwegs, und die Nacht bricht herein. Die Ungerechtigkeit bleibt, auch wenn Hunderte von Millionen Menschen sich aufrichtig bemühen, sie zu berichtigen oder doch möglichst wenig Anteil an ihr zu haben. Die aus Osteuropa hierher verkauften Frauen warten am Fenster auf Freier, die Flüchtlinge aus Afrika am Bahnhof auf nichts. Die Ohnmacht bleibt, denn die Macht bleibt.
    "Jahrhundertschnee" ist ein beziehungsreicher Titel. Schnee- und Eisbilder gibt es immer wieder in dem Buch über ein geradezu arktisch kaltes Jahrhundert - das von heute aus gesehen zugleich "der Schnee von gestern" ist:

    "Das andere ist das Sedimenthafte, das jeder Schnee hat. Er fällt und häuft sich und sedimentiert sich. In diesem Schnee sehe ich auch ein Symbol des 20. Jahrhunderts, das unter diesem Schnee eingelagert ist, aber nie zur Ruhe kommt. Und als drittes sehe ich im Schnee das Verschwinden des Menschen, das im 20. Jahrhundert eine Dimension erreicht hat, die vorher unbekannt war. Für mich ist das auch ein Symbol für das Verschwinden von Millionen."

    Doch Schnee kann auch Metapher sein für die Kapitel dieses melancholischen und großen Buchs: Individuell verschieden wie Schneekristalle fügen sie sich doch zu einer Einheit, bilden einen regelrechten "Erzählteppich" - Halters Roman ist trotz aller Düsternis hervorragend zu lesen, seine musikalische, anschauliche Sprache besticht. Auf dem Umschlag sieht man eine menschliche Spur im Schnee, die verweht - doch darüber hat der Grafiker eine Handschrift des Autors gelegt, stenografische Notizen zum Roman. Auch wenn die Menschen verschwinden - Erinnerung und Bücher, zumal Bücher wie dieses, bleiben.

    Ernst Halter: Jahrhundertschnee. Eine Revision. Ammann Verlag, Zürich. 442 Seiten, 22,95 Euro