Samstag, 20. April 2024


Das Volk erfindet sich neu

Letzte Fähnchen hängen noch an den Balkonen, an den Autobahnen liegen schwarz-rot-goldene Tücher bisweilen an Böschungen. Sprechen solche Zeichen für Gedanken und Gefühle?

Von Hans Ottomeyer | 05.10.2006
    Vor Jahren, wenn ich einmal die Bundesflagge auch alltags auf Museumsgebäuden aufziehen wollte, machte mir mein Verwaltungsleiter richtige Vorhaltungen, dass das Hissen der Nationalfarben nur auf ausdrückliche Anordnung des Innenministers geschehen dürfte. Sonst wäre es verboten. Eine ebenso verbreitete wie falsche Annahme, die analog für vieles gal. Es galt-– angeordnet oder verboten - so für das Singen und Abspielen der Nationalhymne, das Zeichen des Adlers, für die Nationalfarben und natürlich auch für Nationalgefühl. Manchmal, wenn man nicht einschlafen konnte, nach Mitternacht spielten Radiosender als fernes Echo zum Programmabschluss "Einigkeit und Recht und Freiheit", in Bayern "Gott mit Dir, Du Land der Bayern". Höchst erstaunlich war es, wenn Amerikaner oder Engländer jede Kinovorführung mit der Nationalhymne beendeten. "Please wait when national anthem is playing”, warnte dann die Leuchtschrift im Foyer.

    Zugegeben, der totalitäre Staat hat seinen Bürgern die Vaterlandsliebe, ihren Patriotismus, übel vergolten und sie auf den Brandaltären des aggressiven Nationalismus geopfert oder die Verführten geschunden. La Patrie, my country, das Vaterland ist mit den unmenschlichen Staatsidealen nicht deckungsgleich. Es ist nämlich älter als der totale Staat, und es hat ihn Gott sei Dank überlebt. Die den Einzelnen tragende Gemeinschaft ist an die freie Bereitschaft gebunden, sich für das Land einzusetzen, Erfolge des Landes gemeinsam zu feiern und auch der Niederlagen zu gedenken.

    Die Bundesrepublik Deutschland hat in den Jahren ihres Bestehens nicht gelernt, auf staatlichem, hohen Niveau zu feiern oder sich darzustellen. Sie spricht Prosa und vermittelt nichts über augenfällige Zeichen, einprägsame Bilder oder schöne Handlungsabläufe. Der Staat ist nun einmal sparsam und verbissen puritanisch, will nichts, und was er hatte - so die meisten der nationalen Gedenktage - schafft er am liebsten ab. Die politische Gestaltungskraft und Ikonografie des Staates läuft gegen null.

    Wenn da König Fußball nicht wäre. Er hat sich der wenigen Zeichen bemächtigt, die uns noch bleiben: Flagge, Hymne, Adler, und sie gebraucht, um umfassende zustimmende Begeisterung zu signalisieren. Natürlich: Die ressentimentgeschüttelten Oberlehrer der Nation verdächtigten diese Symbole des blinden Nationalismus und übersahen dabei, dass die Nationalhymne von 1841, die deutsche Trikolore von 1832 und der Bundesadler von 1848 nun einmal aus den Anfängen der deutschen Demokratie stammen und in besten freiheitlich-republikanischen Traditionen stehen, völlig unverdächtig sind. Als Originale sind sie alle in dem am 2. Juni 2006 neueröffneten Deutschen Historischen Museum als Indizien historischer Wirklichkeit im Zusammenhang mit den großen Abläufen der Geschichte der Deutschen präsentiert.

    Die Welt und die Mentalitäten in Deutschland sind gegen Ende 2006 sicher nicht anders geworden. Aber der Umgang mit den Formen des Patriotismus oder der Vaterlandsliebe hat sich normalisiert. Das Land hat zugleich Blicke auf seine lange Geschichte geworfen, die jenseits der Gräben und der Gräber des 20. Jahrhunderts liegt. Wir haben gelernt, dass man auch ohne Anordnung die Nationalhymne einfach so singen darf und Schwarz-Rot-Gold nun einmal eine starke Signalwirkung haben und vielleicht mehr sind als eine "Fußballfahne". Dies bleibt.

    Die Choreografien des Staates sind auf der Strecke geblieben, das Volk erfindet sich spontan, seine Feiern und Zeichen wieder neu. Patriotismus ist nun einmal im besten Sinne ein persönliches Gefühl. Und das hat mit dem "Hurra-Patriotismus" des Nationalismus oder dem verordneten Patriotismus aus kalter Staatsräson oder "im staatsbürgerlichen Ethos" wurzelnd nicht viel zu tun. Der Alltag ist eingekehrt mit all dem Hader und den Sorgen der Deutschen, aber auch der Alltag einer gemeinsamen Geschichte und Erinnerung, und wenn es die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft in dem strahlenden Sommer 2006 war.


    Zeit seines beruflichen Lebens widmet sich Hans Ottomeyer, Jahrgang 1946, historischen Ausstellungen. Die Basis dafür erwarb er sich mit einem Studium der Archäologie, Literatur- und Kunstgeschichte sowie der Rechtswissenschaften. Seit 2000 ist er Generaldirektor des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Dort wurde in diesem Jahr die ständige Ausstellung "Deutsche Geschichte in Bildern und Zeugnissen" eröffnet.