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Das Wahrnehmungssystem der Viren

Viren brauchen Wirtszellen, um sich zu vermehren. Dank ihrer Wirtszellen besitzen manche Pflanzenviren aber auch eine Art Wahrnehmung. Sie registrieren, wenn Blattläuse an der von ihnen infizierten Pflanze knabbern.

Von Michael Böddeker | 30.01.2013
    Kohlpflanzen wie der Blumenkohl sind für Blattläuse ein gefundenes Fressen. Wenn sie auf so einem Gewächs sitzen, haben sie es auf das Cytoplasma abgesehen, also auf das flüssige Innere der Zellen, sagt Martin Drucker vom französischen Institut für Agrarforschung INRA in Montpellier.

    "Sie stoßen mit ihrem Stechrüssel in das Zellgewebe der Pflanzen und testen, ob es sich um eine gute Nahrungsquelle handelt. Sie geben dabei etwas Speichel ab und saugen etwas Cytoplasma auf."

    Manchmal sind die angestochenen Pflanzen mit einem Virus infiziert, dem Blumenkohl-Mosaik-Virus. Diese Viren werden von den Blattläusen übertragen. Um vom Insekt zur nächsten Pflanze mitgenommen zu werden, haben sie nur wenig Zeit, denn der Stechvorgang dauert nicht lange - nur wenige Sekunden bis eine halbe Minute. Sinnvoll wäre es also, wenn die Viren "bemerken", dass gerade ein Insekt an der Zelle saugt, in der sie sich befinden. Und genau das scheint tatsächlich der Fall zu sein. Denn nur wenige Sekunden, nachdem eine infizierte Pflanzenzelle von einer Blattlaus gereizt wird, passiert auf molekularer Ebene im Inneren der Zelle eine ganze Menge, besonders bei einem bestimmten Protein, das für die Übertragung wichtig ist. Es wird von Pflanzenzellen produziert, die das Virus in sich tragen.

    "Ein Virus-Protein namens P2 sorgt dafür, dass die Viren an den Stechrüssel der Blattläuse andocken können. Normalerweise befindet sich dieses P2 in einem bestimmten kleinen Bereich innerhalb der Pflanzenzelle. Aber wenn eine Blattlaus die Pflanze reizt, dann verteilt es sich ganz plötzlich innerhalb der gesamten Zelle."

    Und dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Viren am Insektenrüssel binden können, und so zur nächsten Pflanze mitgenommen werden. Dort sticht die Blattlaus dann wieder ins Zellgewebe, und schon ist eine neue Pflanze infiziert.

    Ein ziemlich geschickter Schachzug also vonseiten des Virus. Aber "bemerkt" das Blumenkohl-Mosaik-Virus tatsächlich die Anwesenheit der Blattlaus?

    "Tatsächlich ist es so, dass die Pflanze das Insekt in dem Moment wahrnimmt, wenn es mit dem Stechrüssel in eine Zelle bohrt. Und das löst dann im Zellinneren Signale aus, die vom Virus belauscht werden."

    Welche Signalwege im Inneren der Zelle aktiv sind, soll noch weiter erforscht werden. Aber schon jetzt sei klar, dass es sich um eine ganz neue Fähigkeit handelt, die man von Viren so bisher noch nicht kannte, sagt Martin Druckers Kollege Stéphane Blanc:

    "Dass ein Virus gewissermaßen wahrnehmen kann, ob ein Insekt da ist, das ist etwas völlig neues. Das ist ja ein Signal von außerhalb der Zelle, ja sogar von außerhalb der Wirtspflanze. Das bedeutet, dass ein Virus auf Reize aus der Außenwelt reagieren kann. Das ist die neue Erkenntnis aus unseren Experimenten."

    Und möglicherweise haben auch andere Viren vergleichbare Fähigkeiten, vermutet Stéphane Blanc. Denn schließlich hätten sie dadurch einen evolutionären Vorteil.

    "Wir denken, wenn so etwas möglich ist, dann ist es auch wahrscheinlich, dass viele Viren das Gleiche machen. Aber das muss erst noch erforscht werden."

    Zum Thema

    Die Publikation der Wissenschaftler erschien im Journal eLife.

    Der Übertragungsweg wurde bereits in einer früheren Publikation beschrieben