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"Das war eine schreckliche Erniedrigung für Frankreich"

Am 18. Juni 1940 rief General Charles de Gaulle seine Landsleute von London aus zum Widerstand gegen die deutschen Besatzer auf. Pierre Lellouche, französischer Europaminister, und Werner Hoyer (FDP), Staatsminister im Auswärtigen Amt, sprechen über das deutsch-französische Verhältnis 70 Jahre danach.

Pierre Lellouche und Werner Hoyer im Gespräch mit Christoph Heinemann | 18.06.2010
    Christoph Heinemann: Wir haben anlässlich dieses 70. Jahrestages des Aufrufs von General de Gaulle Pierre Lellouche und Werner Hoyer zu einem gemeinsamen Interview gebeten, den französischen Europaminister und den deutschen Staatsminister im Auswärtigen Amt. Erste Frage an Pierre Lellouche: Was bedeutet der 18. Juni für die Franzosen?

    Pierre Lellouche: Er bedeutet, dass vor allem zwischen Frankreich und Deutschland ein außergewöhnlicher Weg zurückgelegt wurde. Am 16. Juni 1940 fiel die Regierung. Die Regierungsgewalt wurde an Marschall Pétain in Bordeaux übertragen. In Paris hatten deutsche Offiziere noch vor der Kapitulation die Nationalversammlung besetzt. An der Stelle der Tribüne stand eine Hitler-Büste und ein Radio übertrug Hitlers Rede. Das war eine schreckliche Erniedrigung für Frankreich, das dann die Besatzung erleben musste. Das war genau vor 70 Jahren. Und deshalb arbeiten wir an Europa: nicht ein einziges französisches oder deutsches Elternpaar muss so etwas heute für seine Kinder befürchten. Wenn gegenwärtig über Schwierigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland in dieser oder jener Frage gesprochen wird, dann sind das nette Probleme.

    Heinemann: Nach dem Krieg reichte ausgerechnet der Chef der Resistance den Deutschen die Hand. Was kann man von Charles De Gaulle heute noch lernen? – Herr Hoyer, bitte.

    Werner Hoyer: Ich denke, man muss in einer solchen Situation daran erinnern – und Sie tun es mit dieser Sendung ja gerade -, was dort vor 70 Jahren Sensationelles passiert ist. General de Gaulle wusste zu dem damaligen Zeitpunkt ja nun keineswegs, ob das Widerstandsprojekt auch erfolgreich sein würde. Er hat dann beharrlich für seine Überzeugung gekämpft – zuerst für Frankreich, aber auch für die Freiheit in ganz Europa – und er hat früh erkannt, dass sein Freiheitsprojekt unmittelbar im Falle des Erfolges übergehen müsste vom beharrlichen Widerstand zur Aussöhnung, um erfolgreich zu sein und nachhaltig zu sein, und das ist etwas, was ich als das große Wunder der französisch-deutschen Geschichte der letzten 70 Jahre bezeichnen würde, denn man musste ja in Frankreich erst einmal vermitteln, nachdem man so unendlich unter Deutschland gelitten hatte, dass man jetzt auf die Deutschen zugehen müsste. De Gaulle muss ein unglaublicher Kommunikator gewesen sein gegenüber der eigenen Bevölkerung, wie es die Älteren unter uns auch noch wissen von der ersten großen Begegnung der deutschen Bevölkerung mit General de Gaulle 1962, oder dem Präsidenten de Gaulle 1962 auf dem Marktplatz in Bonn.

    Heinemann: Herr Lellouche, zu den Schwierigkeiten zwischen Frankreich und Deutschland, die Sie angesprochen haben: Jacques Delors, der frühere Präsident der EU-Kommission, sorgt sich in einem Interview mit dem "Figaro" über zunehmende deutsch-französische Verstimmungen. Worauf sind diese Verstimmungen zurückzuführen?

    Lellouche: Man sollte das nicht übertreiben. Heute befinden wir uns in der schwierigsten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren. Alle Maßnahmen, die seit dem Beginn dieser Krise getroffen wurden, verdanken wir Nicolas Sarkozy und Angela Merkel. Das war nicht einfach, es handelt sich um zwei unterschiedliche Länder: das eine ist zentralistisch, das andere föderal aufgebaut. Es gibt eine Koalition auf der einen Seite. Die parlamentarischen Traditionen sind unterschiedlich. Die Wirtschaften funktionieren nicht auf die gleiche Weise. Seit Jahresbeginn wird gegen Griechenland, dann gegen Spanien, Portugal und die Euro-Zone insgesamt spekuliert. Wir haben es schließlich geschafft, gemeinsam Maßnahmen zu ergreifen. Ich verstehe eine zögerliche Haltung: Es geht überhaupt nicht darum, die Kreditkarten von Deutschland oder Frankreich mit der dazugehörigen Geheimzahl abzugeben und zu sagen: bedient Euch! Werner Hoyer hat in dieser Woche in der französischen Nationalversammlung die harte Auseinandersetzung über die Rentenreform miterlebt. Wir stehen vor großen Anstrengungen: die Zahl der Beschäftigten im öffentlichen Dienst soll um 100.000 verringert werden, Rentenreform mitten in der Krise, Kürzung der öffentlichen Ausgaben um 45 Milliarden Euro in den kommenden drei Jahren, ohne das Wachstum abzuwürgen. Wir stehen auf der gleichen Seite. Wir fordern von den anderen zu Recht, dass sie uns Transparenz garantieren. Und wer systematisch über die Stränge schlägt, sollte mit Sanktionen rechnen müssen. Weniger mit finanziellen, denn sie können jemanden, der kein Geld hat, nicht zur Kasse bitten, sondern politisch. Hinzu kommt etwas für Deutschland Neues: Wir wollen eine makroökonomische Koordinierung – wir nennen das Wirtschaftsregierung.

    Heinemann: Herr Hoyer, Stichwort Wirtschaftsregierung: Wie kann man 27 Wirtschaftspolitiken koordinieren – das Ergebnis kann doch nur ein winzigkleiner gemeinsamer Nenner sein?

    Hoyer: Ich kann an diesem historischen Tag diese Frage nicht beantworten, ohne auf diesen historischen Kontext auch einzugehen, und es ist mir für die Erinnerung geblieben, dass ich in der Nationalversammlung in einer sehr, sehr lebhaften Debatte war, wo man gemerkt hat, eben auch Frankreich hat seine Innenpolitik und seine innenpolitischen Drucksituationen, und das ist der Saal, in dem vor 70 Jahren deutsche Wehrmachtsuniformen in Massen gesehen worden sind. Am selben Tage habe ich mit den Kollegen aus der Nationalversammlung und des Senats in einer Anhörung gesessen. Das heißt, ich habe mich der Anhörung der gemeinsamen Ausschüsse dieser beiden parlamentarischen Organe gestellt, gemeinsam mit meinem Freund Pierre Lellouche, und wir haben diese Frage, die Sie jetzt ansprechen, gemeinsam diskutiert. Das ist schon mal der Fortschritt der Politik, die wir hier beobachten können, und das Ergebnis dieser großartigen Vision von de Gaulle zu der Zeit und später auch von Adenauer und Schumann und vielen anderen. Wenn man das Interessante, auch das handwerklich Interessante der deutsch-französischen Zusammenarbeit sich ansieht – und ich beschäftige mich tagtäglich damit -, dann ist es doch, dass wir eben nicht von den gleichen Bedingungen ausgehen, sondern dass wir aus unterschiedlichen Traditionen und Kulturen kommen, aber genau wissen, dass wenn wir Europa voranbringen wollen, geht es nur dann, wenn wir es gemeinsam machen. Und wie oft kommen die Kollegen aus anderen Ländern zu Herrn Lellouche und mir und sagen, bitte verständigt euch, damit wir überhaupt vorankommen in der Europäischen Union. Bei der Frage der Wirtschaftsregierung kommt er sehr gut zum Ausdruck. Allein der Begriff "Wirtschaftsregierung" sendet ja vielen unserer deutschen Staatsbürger und auch Kollegen im Parlament kalte Schauer über den Rücken, weil viele Deutsche darunter dann sofort verstehen eine bürokratische Struktur, ein Machtmonstrum, was dort errichtet wird, wo hinterher dann alles zentralisiert wird, was wir noch nicht mal innerhalb der Bundesrepublik zentral machen würden, während andere verstehen darunter eher einen Prozess der Koordination, die natürlich sehr, sehr, sehr mühsam ist, und diese Koordination wird nur funktionieren, wenn wir den entsprechenden Willen dazu aufbringen, auf die Eckpunkte dieser wirtschaftlichen Entwicklung in der Europäischen Union und insbesondere natürlich auch in Frankreich und Deutschland gemeinsam zuzugehen. Nachdem wir ja nun einen wochenlangen on passe in dieser Frage hatten, haben Präsident Sarkozy und die Bundeskanzlerin Merkel am Montag diese Situation überwunden und eine gemeinsame Position geschaffen, die es jetzt ermöglichen wird, dass Europa auch gemeinsam handelt. Und das ist immer wieder die Rolle Frankreichs und Deutschlands in der Europäischen Union und auch in schwierigen Zeiten müssen wir das schaffen, weil sich sonst in Europa nichts mehr bewegt.

    Heinemann: Im Deutschlandfunk hören Sie ein Interview mit dem französischen Europaminister Pierre Lellouche und Werner Hoyer, Staatsminister im Auswärtigen Amt. Herr Lellouche, in Deutschland sind die Äußerungen der französischen Wirtschafts- und Finanzministerin Christine Lagarde scharf kritisiert worden, die im März gesagt hatte, Deutschland solle seinen Konsum ankurbeln und den Exportüberschuss verringern, weil der die Wettbewerbsfähigkeit der anderen EU-Staaten gefährde. Heißt das, dass Deutschland weniger ausführen und verkaufen soll, um die europäischen Nachbarn nicht zu verärgern?

    Lellouche: Das ist stark aufgebläht worden. Wir wollen damit doch nicht gemeinsam eine Super-Bürokratie über der europäischen Wirtschaft aufbauen. Wir wollen versuchen, gemeinsam stärker zu werden. Unser Problem besteht darin, dass wir unser Sozialmodell in Europa auch in der Globalisierung erhalten wollen. Es gibt zwei Möglichkeiten: die Demographie - diese Möglichkeit haben wir nicht, wir sind alternde Gesellschaften, Deutschland stärker als Frankreich -, also bleibt die Wettbewerbsfähigkeit. Wir müssen gemeinsam für zusätzliche Prozentpunkte beim Wachstum sorgen. Darum geht es bei der Koordinierung der Wirtschaft. Wir sagen den Deutschen doch nicht: hört auf zu arbeiten und wettbewerbsfähig zu sein. Wir müssen gemeinsam eine industrielle Spitzenklasse aufbauen. Ich weiß, dass dies nicht der deutschen Kultur entspricht, aber es ist dennoch wichtig: in der Kernenergie, in der Umwelttechnologie, beim Elektormotor, in der Luft- und Raumfahrttechnik, im Bereich der Rüstungsindustrie. Uns stehen Blöcke gegenüber: China, Indien, morgen Brasilien, die Vereinigten Staaten, und die schenken uns nichts.

    Heinemann: Herr Hoyer, Stichwort Sparpaket und Finanzkrise: Bereitet die Europäische Union ein finanzielles Hilfspaket für Spanien vor?

    Hoyer: Das ist gegenwärtig überhaupt nicht erforderlich, nachdem was wir jetzt sehen, und die spanischen Kollegen sind in der Lage, sich sehr gut darauf vorzubereiten, dass Märkte möglicherweise hier noch mehr verrückt spielen als sie das jetzt schon tun. Wir sollten hier seitens der Politik keine Spekulationen in die Welt setzen, die die Märkte irritieren. Das halte ich für völlig unverantwortlich. Dass die Europäische Union zur Solidarität befähigt ist, das haben wir gerade gezeigt.

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