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Das wilde Gänserennen

Dem Sieger winken Ruhm und Ehre - und der Verlierer landet im Kochtopf. So sind die Regeln beim "Palio del Papero" im toskanischen Örtchen Balconevisi. Jedes Jahr rennen dort Gänse um die Wette. Inzwischen lockt das Ereignis Tausende Besucher an.

Von Anna Beerlink | 06.10.2013
    Es ist Sonntagmorgen, die Sonne scheint. Wir befinden uns südlich von Pisa, wo sich der Egola-Bach durch die sanften Hügel schlängelt. Auf einer Wiese am Hang scheuchen drei Männer eine kleine Gänseherde vor sich her. "Fliegen müsst ihr ja gar nicht – es reicht schon, wenn ihr rennt", rufen sie den Tieren zu. Eine Zeit lang schaffen es die Gänse, flügelschlagend zu entwischen – doch am Schluss hilft weder ihr schnatternder Protest noch der Sprung ins grünliche Wasser der eingegrabenen Badewanne: Die Männer fangen die Tiere ein und setzen sie vorsichtig in die mitgebrachten Käfige aus grün, rot, gelb und schwarz lackiertem Holz.

    In ihren Ställen werden die Gänse in einen Transporter gehievt. Eine gute Viertelstunde dauert die Fahrt; durch enge Kurven geht es immer weiter bergauf durch den Wald – bis die Straße oben auf einem Hügel endet. In Balconevisi. Der Name des Dorfs passt zum Panorama: Wie von einem Balkon blickt man hinab auf die Bilderbuchlandschaft der Toskana mit Feldern, Zypressenreihen, Wäldern und rostbraunen Gemäuern. Balconevisi hat alles, was ein italienischer Ort braucht: eine Hauptstraße, eine Kirche und einen Renaissance-Palazzo, eine Bar und einen Sportplatz. Und genau dort wird der Transporter schon erwartet. Denn einmal im Jahr hat Balconevisi noch etwas mehr zu bieten als andere Dörfer: Zum 30. Mal findet heute der "Palio del Papero" statt, ein Wettbewerb, bei dem für jeden Ortsteil Gänse um die Wette rennen.

    "”Die Gans ist ein eigenartiges Tier: Mit ihrem langen Hals und dem prächtigen orangenen Schnabel wirkt sie etwas hochmütig – und läuft doch auf ‚Gänsefüßen‘ umher. Dieses Rennen hat einen ganz ähnlichen Charakter: Es geht hier ganz und gar nicht ums Gewinnen. Das Ganze ist vielmehr ironisch gemeint, mit einem Augenzwinkern. Das ist sehr toskanisch, wenn man so will, denn die Ironie ist ein Teil von uns.""

    Paolo Nacci ist Schuhfabrikant – heute aber ist er vor allem der Vorsitzende des örtlichen Sportvereins, der das Gänserennen jedes Jahr ausrichtet. Wenn von einem Palio die Rede ist, denken die meisten an den berühmtesten seiner Art, der seit Jahrhunderten im gut 70 Kilometer entfernten Siena stattfindet. Anstelle von Gänsen sind dort natürlich Rennpferde am Start: In halsbrecherischem Tempo jagen Jockeys sie um die Piazza. Beim Palio auf dem Sportplatz von Balconevisi geht es deutlich gemächlicher – und tierfreundlicher – zu: Die Gänse werden mit aller Vorsicht behandelt. Überhaupt steht für Paolo Nacci die Gemeinschaft im Vordergrund:

    "Der Palio motiviert die Leute im Dorf dazu, sich zusammenzutun, und er bietet uns die Möglichkeit, unsere Werte wiederzuentdecken – also all das, was man verpasst, wenn man nur noch zuhause vor dem Fernseher sitzt. Der Palio zwingt uns in gewisser Weise dazu, rauszugehen, die Vorbereitungen zu treffen, mit Freunden und vielen anderen Leuten zu sprechen. Auf diese Weise entdecken wir die Dinge wieder, die uns als Gemeinschaft nicht verloren gehen sollten."

    Immer ein Tierarzt dabei
    Seit Wochen haben sich die Dorfbewohner abends nach dem Essen in der Bar getroffen und sich – nach einem schnellen "caffè" im Stehen – an die Vorbereitungen gemacht. Denn der Palio ist mittlerweile zum Großereignis geworden: Jahr für Jahr werden in dem festlich geschmückten 300-Seelen-Ort am Ende der Straße Tausende Besucher erwartet, die das Gänserennen sehen wollen.

    Vorsichtig werden die Käfige jetzt auf dem Sportplatz ausgeladen. Die Gänse werden auf einem umzäunten Fleckchen Wiese vor den Umkleidekabinen wieder freigelassen. Einer passt auf, dass dabei alles mit tiergerechten Dingen zugeht: der Tierarzt Alberto Profumo.

    "”Die europäischen Richtlinien verlangen, dass bei einer Veranstaltung mit Tieren ein Tierarzt anwesend ist, um für ihr Wohlergehen zu sorgen. Heute zum Beispiel ist eine Gans dabei, die am Bein verletzt ist und deshalb natürlich nicht antreten darf. Wir haben sie aber trotzdem mitgenommen, damit sie nicht alleine zurückbleibt und sich Sorgen macht oder in Panik gerät.""

    Am Zaun stehen die ersten Kinder und betrachten die Gänse. Alberto Profumo – selbst Vater zweier Töchter – freut sich, dass sie sich für die Tiere interessieren. Ihm ist wichtig, dass Kinder das Landleben kennenlernen – und auch erfahren, wo ihr Essen überhaupt herkommt.

    "”Den Palio gibt es seit 30 Jahren – wahrscheinlich bietet er heute noch mehr als früher die Chance, die Menschen wieder mit dem Landleben in Kontakt zu bringen. Die Gänse hier sind natürlich nicht zum Essen da. Aber Hühner- oder Schweinefleisch mögen auch Kinder gerne. Sie müssen ja vielleicht nicht den "Moment X" des Schlachtens miterlebt haben. Aber sie sollten den Tieren mal begegnet sein. Ich halte es für ganz grundlegend, dass Kinder eine Beziehung zu Tieren aufbauen.""

    Gänse sind nur zu Besuch
    Das Leben hat sich auch in einem ländlichen Ort wie Balconevisi in den letzten Jahrzehnten stark verändert. Landwirtschaft betreiben die meisten nur noch für den Eigenbedarf. Arbeitsplätze finden sich – wenn überhaupt – eher in Fabriken oder Behörden. Die Gänse, die beim Palio antreten, sind nur zu Besuch im Ort und laufen längst nicht mehr Tag für Tag zwischen den Beinen der Dorfbewohner umher, weiß Paolo Nacci.

    "”Am Anfang war das anders, da hatte jede Contrade ihren Geflügelstall und eigene Gänse, die die Leute selbst aufzogen. Fondo di Scesa zum Beispiel besaß mal einen sehr berühmten Gänserich. Er hat viele Rennen gewonnen, insgesamt sieben: Sein Name war Pistolo. Leider ist so ein Gänseleben ja ziemlich kurz, und ohne Pistolo war Fondo di Scesa dann nur noch sehr selten erfolgreich. Von Pistolo haben wir alle profitiert. Mit seinem komischen Namen hat er diese witzige und ironische Veranstaltung berühmt gemacht.""

    Pistolos Nachkommen müssen sich nun noch etwas gedulden, bevor sie zeigen dürfen, wozu sie imstande sind. Denn vor dem Rennen kommt in Balconevisi die Religion. Schließlich geht die Tradition des "Palio del papero" zurück auf einen katholischen Feiertag, das Fest der Rosenkranz-Madonna. Und eben die wird jetzt in einer Prozession aus der Kirche und durch das Dorf getragen – oder vielmehr: gerollt, denn sie thront auf einem hellblau lackierten Wagen, den vier Männer vor sich herschieben.

    Die Monstranz wird begleitet von Fahnenträgern und einer Musikkapelle. Es folgen sorgfältig gekleidete Frauen mit Rosenkränzen, Messdiener in weißen Gewändern und die Kinder, die Kostüme in den Farben ihrer Contraden tragen: rot-weiß, schwarz-weiß, gelb-weiß und grün-weiß. An der Spitze geht Don Francesco, der Dorfpfarrer.

    "Der Palio zieht sehr viele Menschen an, für sie ist es ein Festtag. Genauso wichtig ist es aber, die christliche Botschaft zu vermitteln. Wenn wir mit der Madonnenstatue durch das Dorf ziehen, ist Gott sehr präsent. Es ist auch Tradition, dass die Teilnehmer des Palio vor dem Rennen um den göttlichen Segen bitten. Die Kinder, die nachher die Gänse anfeuern, werden zusammen mit ihren Fahnen gesegnet. Der religiöse Aspekt, der tief in der Tradition dieses Volkes verwurzelt ist, darf nicht fehlen."

    Kinder treiben die Gänse an
    Am Straßenrand haben die Dorfbewohner Stände aufgebaut, an denen sie all die Köstlichkeiten verkaufen, die die Toskana im Herbst und Winter zu bieten hat. Die Madonna rollt vorbei an qualmenden Kastanienöfen, riesigen Käselaiben, Körben voller Pilze und dickbäuchigen Rotweinflaschen im Bastgewand.

    Weil Balconevisi so klein ist, führt Don Francesco die Prozession ein paar Mal die Hauptstraße auf und ab, bevor sie in die Kirche zurückkehrt. Die Gänse sind inzwischen auch schon da. Nach dem Segen nehmen die Kinder in der Kirche ihre Renngänse in Empfang.

    Jede Contrade tritt mit einer "Staffel" aus zwei Gänsen an. Die wichtigste Regel: Die Kinder dürfen die Tiere auf der Strecke vor sich herscheuchen, aber nicht berühren. Voller Stolz tragen die kleinen "Jockeys" jetzt die Gänse in ihren Käfigen über die Dorfstraße auf den Sportplatz. Hunderte Zuschauer erwarten sie dort.

    Wie Don Francesco schon sagte: Für die Einwohner von Balconevisi und ihre Gäste ist der "Palio del Papero" ein echter Festtag – und Feste muss man feiern, wie sie fallen. Das wusste schon Lorenzo de’ Medici. Aus der Feder des Renaissancefürsten stammt die berühmte Ode an Bacchus, die sogar dann noch eine gewisse Poesie entfaltet, wenn sie über Lautsprecher auf einem Fußballfeld tönt.

    Im Refrain heißt es: "Wie schön ist die Jugend, die so schnell entflieht. Wer ausgelassen sein will, der sei es. Was morgen kommt, ist ungewiss." Ungewissheit – die kennt auch das heutige Italien nur zu gut. "La Crisi", die Krise, ist seit Monaten allgegenwärtig, und spielt auch beim "Palio del Papero"eine Hauptrolle: Traditionell bekommt jede Gans vor dem Start einen Fantasienamen. An diesem Sonntag im Herbst 2012 sind es Begriffe und Personen, die in aller Munde sind, seitdem täglich von den Turbulenzen auf den Finanzmärkten und dem Chaos in der italienischen Politik die Rede ist: Zwei der Gänse heißen "Crisi" und "Ripresa", also "Krise" und "Aufschwung". Zwei weitere gehen im Namen der Regierungschefs "Merkel" und "Super-Mario", benannt nach Mario Monti, an den Start – nebst "Lusi" und "Fiorito", die zum Glück nicht ahnen, dass sie nach zwei korrupten Politikern benannt sind.

    Die "Krise" hat einen Lauf
    Es ist schwer zu sagen, ob kurz vor dem Start die Kinder oder die Gänse aufgeregter sind. Die "Jockeys" stellen sich mit ihren Gänsen in einer Reihe auf – noch dürfen sie sie vorsichtig am Bauch festhalten. Sobald die Kinder bereit sind, heben sie die Hand. Paolo Nacci gibt das Startsignal.

    Gleich zu Beginn wird "Merkel" von "Crisi" überholt, denn die scheint einen Lauf zu haben. Die Gans, die für den Hauptort "Borgo" antritt, setzt sich an die Spitze des Feldes. Doch dann wird sie langsamer. Und bleibt stehen. Mit der Sturheit eines toskanischen Esels weigert sich das Tier, auch nur einen weiteren Schritt zu machen – allen fuchtelnden Armen und Anfeuerungsrufen zum Trotz.

    Angesichts der Hektik, die um sie herum ausbricht, macht "Crisi" ihrem Namen alle Ehre und gerät kurzfristig außer Kontrolle. Denn sie macht plötzlich kehrt und rennt in umgekehrter Richtung weiter.

    "Achtung, Gänse-Gegenverkehr", ruft der verblüffte Kommentator angesichts der Krisensituation auf der Rennstrecke. Und spätestens beim Wechsel an der Start- und Ziellinie wird klar: Auch die Menschen haben den Überblick verloren: Welche Gans gehört zu welcher Contrade? Nach der Hälfte der Strecke ist eigentlich die nächste Gans dran. Doch nur zwei der vier Teams kommen überhaupt so weit. "Crisi" denkt gar nicht daran, ihre Runde über den Sportplatz – egal in welcher Richtung – zu Ende zu bringen. Lieber drückt sie sich am Zaun entlang und beäugt von dort aus die Zuschauer. Irgendwann schafft es immerhin eine Gans über die Ziellinie – nur weiß keiner, wem sie gehört, schließlich sehen die Gänse fast alle gleich aus.

    Es geht nicht ums Gewinnen
    Es hilft ja nichts, eine Entscheidung muss fallen: So wird der Ortsteil "Fornacino" zum Sieger erklärt. Die in Grün-weiß gekleideten Zuschauer jubeln. Und alle anderen? Die teilen sich den zweiten Platz. Das ist zwar nicht gerade wettbewerbsorientiert, aber irgendwie gerecht.

    Und eigentlich geht es ja hier auch gar nicht ums Gewinnen. Sondern um den Spaß. Angesichts der besonderen Umstände bleibt in diesem Jahr also auch der Kochtopf leer, in den die langsamste Gans sonst immer gesteckt wird. Natürlich nur symbolisch. Denn Ironie, da sind sie sich in Balconevisi alle einig, ist immer noch das Wichtigste.