Dienstag, 16. April 2024

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"Das wird sicherlich eine Lehre sein"

Er habe die Reißleine beim Drohnen-Projekt Euro Hawk gezogen, um höheren Schaden zu verhindern, betont Verteidigungsminister Thomas de Maizière. Wenn man aber "an der vorderen Kante der Technologie" arbeite, dann gebe es "kein einziges Beschaffungsverfahren ohne Probleme dieser Größenordnung".

Thomas de Maizère im Gespräch mit Klaus Remme | 26.05.2013
    Klaus Remme: Herr Minister, zunächst einmal vielen Dank für die Zeit und für die Gelegenheit, ich weiß, Sie wollen die Ergebnisse der Arbeitsgruppe abwarten in Sachen Euro Hawk. Das Ergebnis wird am 5. Juni vorliegen. So haben Sie es gesagt. Versuchen wir dennoch, über dieses gescheiterte Projekt zunächst zu sprechen, denn das öffentliche Interesse ist ja groß, und helfen Sie zunächst Korrespondenten, Redakteuren, Moderatoren: Euro Hawk (deutsch ausgesprochen) oder Euro Hawk (englisch ausgesprochen), wie spricht man es?

    Thomas de Maizière: Deutsch Euro Hawk, englisch Euro Hawk.

    Remme: Dann bleiben wir für dieses Gespräch beim Euro Hawk, wenn es Ihnen recht ist. Wie man es auch dreht und wendet, wie viel Technologie man möglicherweise weiter benutzen kann, es ist sehr viel Geld verloren gegangen. Ist dieses Projekt und wie es zu Ende gegangen, ist auch nach Ihrer Ansicht ein Debakel?

    de Maizière: Ich möchte eine abschließende Bewertung nach Vorlage des Berichts am 5. Juni vornehmen. Wir arbeiten ja nicht nur an einer Chronologie, die die Verantwortung und die Abläufe klarstellt, sondern Gegenstand dieses Berichts wird auch sein, wie sieht es generell mit den Zulassungsverfahren aus. Und drittens, wie ist der Weg nach vorne? Was heißt das für den unbemannten Luftverkehr überhaupt? Was heißt das für das NATO-System AGS? Was heißt das für den Umgang mit Rüstungsprojekten, wo es Probleme gibt? Und all das wird dann dort im Einzelnen vorgelegt werden. Bei diesem unbemannten Aufklärungsflugzeug ging es um ein Modellprojekt. Das war ja ein Pilot. Es sollte erst geprüft werden, ob weitere beschafft werden. Und das Ziehen der Reißleine, was wir vorgenommen haben, diente auf jeden Fall dazu, höheren Schaden zu verhindern. Und wie ich das dann bezeichne, das wird man sehen. Ich verstehe die öffentliche Aufregung, ich verstehe auch die Kritik daran. Ich bin erstaunt, wie viele jetzt mit Einzelheiten auf dem Markt sind, mit Zahlen und Fakten, die ich so nicht bestätigen kann. Und deswegen muss ich das aushalten und will dann in einem Gesamtüberblick die Dinge vortragen.

    Remme: Die Öffentlichkeit erfuhr von dem Aus für das Projekt am 14. Mai. Wann haben Sie, wie Sie sagen, die 'Reißleine' gezogen?

    de Maizière: In diesen Tagen. Die Öffentlichkeit hat es durch eine Indiskretion gegenüber einer Zeitung erfahren. Das war natürlich nicht so beabsichtigt. Ich hatte einen entsprechenden Vermerk zu entscheiden. Dabei ging es nicht nur um das Ob, sondern auch des Wann. Dieses System, um das es geht, besteht aus zwei Elementen, einem Trägersystem und einem Signalerfassungssystem. Und viele diskutieren über das Trägersystem jetzt zu recht, genau so wichtig ist das Erfassungssystem. Auch das musste zu einer gewissen Erprobungsreife geführt werden. Und das miteinander zu verbinden, das war in verschiedenen Optionen, die wir erwogen haben, wichtig. Wir hätten jedenfalls einige Tage nach dieser Zeitungsveröffentlichung das so entschieden.

    Remme: Nun wird die Arbeitsgruppe Ergebnisse, wie Sie sagen, bis zum 5. Juni vorlegen. Sie wird Fragen rund um das Projekt aufarbeiten, Fragen, von denen Sie eigentlich bei der Größenordnung des Projekts hätten wissen müssen, dass sie kommen. Warum hatten Sie diesen Bericht nicht in der Schublade, als der Ausstieg öffentlich wurde?

    de Maizière: Das ist ausgeschlossen bei den Größenordnungen und Dimensionen, die wir haben. Sie müssen sich vorstellen, wir haben über fünf Milliarden Euro jährlich an Beschaffungsvorhaben, die wir jährlich ausgeben. Die Projekte dauern zum Teil über Jahre. Wir haben in vielen dieser Projekte Verzögerungen. Wir haben auch in vielen dieser Projekte Probleme. Deswegen ist ja Gegenstand der Neuausrichtung auch ein neues Verfahren. Wir haben ja nicht ohne Grund das entsprechende Beschaffungsamt vollständig neu aufgestellt, wegen dieser Probleme, die es bei ganz vielen Rüstungsprojekten gibt, nicht nur wegen der Probleme, die die Industrie hat, sondern auch wegen der Probleme, die die Bundeswehr selber hervorgerufen hat, durch Veränderungen der Anforderungen und Ähnliches. Und deswegen ist ausgeschlossen, dass über Beschaffungsvorgänge, die zehn, zwanzig Jahre dauern, im Ministerium eine Chronologie über die Abläufe auf Vorrat da ist. Das geht gar nicht.

    Remme: Da Sie sich eben ein abschließendes Urteil vorbehalten haben bis nach dem 5. Juni: Ist dieser Bericht vor allem für das Parlament und für die Öffentlichkeit, oder benötigen Sie ihn auch für die eigene Bewertung?

    de Maizière: Das ist eine sehr wichtige Frage. Ich benötige ihn auch für die eigene Bewertung. Natürlich gibt es aus jedem Vorgang etwas zu lernen. Und so wird die Frage zu stellen sein, wie gehen wir mit Problemen um. Natürlich gibt es, wie gesagt, immer Probleme. Jeder, der ein Haus gebaut hat, weiß, dass laufend Probleme auftauchen. Und dann stellt sich die Frage, können wir sie lösen oder sind sie so groß, dass wir neu ansetzen müssen? Und wie wir Problemsteuerung in Zukunft machen, intern, auch gegenüber dem Parlament, das wird sicherlich eine Lehre sein, die wir zu ziehen haben.

    Klares rechtliches Regelwerk ist notwendig

    Remme: Sie sind seit gut zwei Jahren Verteidigungsminister. Ich vermute, Sie wurden relativ schnell nach Amtsantritt mit diesem Projekt vertraut gemacht? Hatten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt je den Eindruck, dass das Projekt auf gutem Wege ist?

    de Maizière: Die Zulassungsfragen haben mich früh beschäftigt. Ich habe mit meinem französischen Kollegen, dem Vorgänger von dem jetzigen, eine Initiative gestartet, dass wir auf europäischer Ebene über Zulassung von großen Rüstungsprojekten reden müssen. Wir reden über einen gewaltigen Markt der Zukunft, eine sehr wichtige Technologie für die Zukunft. Und die Technik ist weiter als das rechtliche Regelwerk. Wir haben erst Ansätze für ein europäisches Regelwerk für die Zulassung von unbemannten Flugzeugen. Und dann ist es auch so, dass es in Amerika und Deutschland und Europa auch anders ist. Und nun ist die Schwierigkeit, Sie können entweder auf das rechtliche Regelwerk warten und dann mit der Technik beginnen, oder Sie können erst die Technik machen ohne das rechtliche Regelwerk der Zulassung. Beides geht nicht, denn Sie können nicht ein rechtliches Regelwerk über die Zulassung machen ohne zu wissen, was die Technik kann. Und umgekehrt können Sie nicht einfach auf Teufel komm raus ein unbemanntes Luftfahrzeug bauen und hinterher hat gefälligst das rechtliche Regelwerk dem zu folgen, denn das muss Hand in Hand gehen. Und so ist es auch hier gewesen. Und die Frage wird sein, die dann in dem Bericht zu beantworten ist, wie war die Abstimmung zwischen dem, was man technisch glaubt können zu müssen und dem, was man rechtlich an Regelung für die Zulassung braucht. Das ist etwas, was wir für die Zukunft in vielen Bereichen – wir arbeiten immer an der vorderen Kante der Technologie in nagelneuen Bereichen – für die Zukunft besser machen müssen.

    Remme: Würde ich übertreiben, wenn ich sage, dass dieses Projekt seit Ihrem Amtsantritt eigentlich latent in Gefahr war?

    "Kein einziges Beschaffungsverfahren ohne Probleme dieser Größenordnung"
    de Maizière: Das ist mir noch zu früh zu bewerten. Aber ein Punkt ist wichtig, das habe ich auch in meiner Regierungserklärung gesagt. Es wird jetzt oft gesagt, da gab es ein Problem, deswegen hättet ihr früher handeln müssen. Wenn wir bei komplizierten Beschaffungsvorhaben bei jedem Problem komplett die Reißleine ziehen würden, dann hätten wir gar keine Rüstungsprojekte. Es gibt kein einziges Beschaffungsverfahren ohne Probleme dieser Größenordnung. Noch mal, wir arbeiten an der vorderen Kante der Technologie. Es geht um die Frage, sind Probleme lösbar. Und wenn sie sich mit vertretbarem Aufwand nicht als lösbar erweisen, dann ist der richtige Zeitpunkt, die Reißleine zu ziehen. Das ist die Frage, um die es geht.

    Remme: Massive Vorwürfe stehen im Raum. Die Opposition spricht von Täuschung, von Vertuschung. Bestreiten Sie den Eindruck, dass die Ausschüsse im Parlament nicht ständig und vollständig informiert wurden?

    de Maizière: Die Frage ist, wann wir über Rüstungsprobleme den Ausschuss unterrichten sollen. Das war in der Praxis wenig der Fall. Ich bin entschlossen, das für die Zukunft zu ändern. Wir können gerne jedes Quartal, jedes halbe Jahr einen Statusbericht über alle größeren Beschaffungsvorhaben mit allen Problemen geben. Das wird dann nicht geheim bleiben, das wird zu gewaltigen Diskussionen führen, aber wenn der Ausschuss das möchte, bin ich dazu bereit.

    Ein Prototyp der Aufklärungsdrohne Eurohawk der Bundeswehr
    Ein Prototyp der Aufklärungsdrohne Eurohawk der Bundeswehr (dpa / picture alliance / Jürgen Dannenberg)
    "Ich trage Verantwortung für das, was in meinem Geschäftsbereich passiert"
    Remme: Wenn in Zeiten knapper Kassen, die Sie ja auch beklagen, auch im Zusammenhang mit der Bundeswehrreform, so viel Geld verloren geht, kann die Öffentlichkeit dann erwarten, dass am Ende des Prozesses der Beurteilung, der Bewertung jemand da steht, der sagt, ich übernehme die Verantwortung dafür?

    de Maizière: Über Konsequenzen und Verantwortung möchte ich gerne im Zusammenhang mit der Vorlage des Berichts entscheiden.

    Remme: Das heißt, Sie schließen nicht aus, dass Sie persönlich für diesen Vorfall von der Öffentlichkeit her in Haft genommen werden?

    de Maizière: Werde ich ja jetzt schon. Ich bin der zuständige Ressortminister und trage Verantwortung für das, was in meinem Geschäftsbereich passiert. Und dessen bin ich mir bewusst.

    Remme: Vor einigen Tagen wurde erklärt, als Hauptursache für das Scheitern des Projekts müsse wohl gelten, dass die notwendige Papierlage für eine Zulassung nicht vorhanden war. Das wurde begründet mit Unterlagen, die eigentlich vom Hersteller hätten zur Verfügung gestellt werden müssen. Hat dies weitreichende Konsequenzen für zukünftige Kooperationen mit amerikanischen Rüstungslieferanten?

    de Maizière: Jedenfalls ist unsere Anforderung an Dokumentationen für Zulassungen strenger als die in den Vereinigten Staaten von Amerika. Wenn Sie eine Lokomotive, wenn Sie ein Auto, wenn Sie ein Flugzeug zulassen, dann muss über jedes Bauteil eine einzelne Dokumentation erfolgen und jedes einzelne Bauteil wird zugelassen, eine Turbine, ein Vergaser, eine Metalllegierung und Ähnliches. Da sind wir sehr gründlich, wie wir Deutschen nun mal sind. Die Amerikaner nicht. Und daraus erwachsen strukturell Probleme, je komplizierter ein System ist umso mehr. Aber das lässt sich in Zusammenarbeit eben manchmal lösen und manchmal erwachsen daraus große Probleme.

    Remme: Aber Sie wissen, dass die Amerikaner in Sachen Hochtechnologie im Militärbereich sozusagen Geheimniskrämer sind?

    de Maizière: Ja, Sie sprechen auch von einem Blackbox-System. Das ist dann, wenn man etwas sozusagen von der Stange kauft, was gut verwendbar ist, gut möglich. Außerdem brauchen wir auch Wettbewerb. Wir können nicht nur europäische und deutsche Hersteller sozusagen so in Sicherheit wiegen, dass sie sicher sein können, dass sie immer genommen werden. Je weiter man an der vorderen Technologiekante ist, um so mehr stellen sich allerdings in der Tat die Probleme. Ich will noch auf Folgendes hinweisen: Ein Flugzeug wie die Transall fliegt 30, 40 Jahre oder der Schützenpanzer Marder fährt 40 Jahre, der Eurofighter fliegt hoffentlich 40 Jahre. Das bedeutet, ein solches Flugzeug, ein solches neues Gerät muss ständig weiter entwickelt werden, eine neue Elektronik, ein neuer Cockpit, eine neue Bewaffnung, ein neues Radarsystem. Das heißt, man muss mit dem Hersteller immer zusammenarbeiten, um neue Technologien zu entwickeln. Dazu müssen Hersteller bereit sein und das muss man am Anfang der Entwicklung auch wissen und wollen, beide Seiten.

    Auswirkungen auf das Projekt Global Hawk sollen geprüft werden
    Remme: Nun gibt es nicht nur den Euro Hawk, es gibt auch den Global Hawk im Zusammenhang mit einem NATO-Projekt. Sie haben das vor einigen Tagen in einer kurzen Erklärung noch kürzer angesprochen. Drohen hier weitere Verluste?

    de Maizière: Wir werden jedenfalls die Auswirkungen unserer Entscheidung über den Stopp des Euro Hawk auf das NATO-System genau prüfen. Das ist nicht die gleiche unbemannte Aufklärungsdrohne, aber eine sehr ähnliche. Und deswegen werden auch die Zulassungsfragen und alle Fragen, die damit in Zusammenhang stehen, von uns geprüft und dann auch gegebenenfalls gegenüber der NATO angesprochen.

    Remme: Eine letzte Frage zu diesem Themenkomplex: Haben die Schwierigkeiten rund um den Euro Hawk Ihre bisher positive Einstellung zur Beschaffung von Drohnen, bewaffnet oder unbewaffnet, grundsätzlich verändert?

    de Maizière: Nein, das ist nicht der Fall. Das ist eine riesige Zukunftstechnologie in Deutschland und Europa. Wir können und sollten uns davon nicht abkoppeln. Wir haben sehr viel über die ethischen Fragen diskutiert im Zusammenhang mit Bewaffnung und sicher wird eine Lehre aus diesem Thema sein, dass wir auch über die technischen und finanziellen Fragen genau so gründlich diskutieren müssen wie über die ethischen.

    Remme: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Herr Minister, lassen Sie uns in der verbleibenden Zeit noch zwei andere Themen ansprechen. Ich habe Ihre Worte am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz im Ohr, als Sie sich pessimistisch, ja fast deprimiert zur Lage und zur Aussicht in Syrien geäußert haben. Wie ist Ihre Einschätzung vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung?

    de Maizière: Ähnlich düster. Das, worauf Sie anspielen, war im Januar. Jetzt sind einige Monate vergangen. Es gibt viele Spekulationen über die Frage, wer hat die militärische Überlegenheit in diesem Bürgerkrieg. Neuerdings gibt es Hinweise, dass Assad wieder stärker geworden ist. Vor einigen Monaten schien es, als sei er auf jeden Fall am Ende. Mir fällt es schwer, das von außen zu beurteilen. Es bleibt aber die Analyse, dass wir einen schrecklichen, verlustreichen, bitteren, blutigen Bürgerkrieg haben mit auch grauenhaften Einzeltaten, die wir in den letzten Tagen zur Kenntnis nehmen mussten, mit ganz wenig Einflussmöglichkeit von außen. Das hat ein Bürgerkrieg oft an sich. Ganz viele Interessen spielen hier hinein, das Interesse Russlands, das Interesse des Iran und von Hisbollah, die Sorge vor einer Erweiterung im Blick auf die Nachbarn von Syrien. Nein, die Lage bleibt ziemlich verzweifelt.

    Remme: Oft heißt es, auch und gerade in Berlin, in einem solchen Konflikt braucht es nicht mehr Waffen, sondern weniger Waffen. Wissen wir Deutsche nicht aus eigener Geschichte, dass das so nicht immer stimmt?

    de Maizière: Ja, es gibt auch Handwaffen genug in diesem Konflikt, sodass die These 'jetzt müsste man mal Waffen liefern, um die Rebellen besser auszustatten', jedenfalls für Handwaffen so gar nicht gilt. Wenn, dann ginge es um kompliziertere Waffen, und dann wird es ja noch schwieriger. Wer soll die denn liefern? Wer soll die bekommen? Wer kann Rebellen daran ausbilden? Wir halten ja viele derer, die da jetzt kämpfen für demokratisch zweifelhaft. Wir wissen nicht, in welche Hände diese Waffen kommen. Wir bleiben dabei, dass wir gegenüber Waffenlieferung in diesen Konflikt hinein sehr, sehr skeptisch bleiben.

    Remme: Nun sieht es aber ganz so aus, als würde das EU-Waffenembargo in den nächsten Tagen auslaufen, aufgrund der Position Englands und Frankreichs. Was bedeutet das für die deutsche Haltung?

    de Maizière: Wenn es keine europäische Haltung zu dieser Frage gibt, dann gibt es keine. Das ist bedauerlich. Dann wird man möglicherweise andere nicht daran hindern können, Waffen zu liefern. Wir sollten uns daran nicht beteiligen.

    Remme: Der Tod eines KSK-Soldaten, wenn wir auf Afghanistan blicken, Anfang des Monats hat die Gefahren des Konflikts wieder deutlich vor Augen geführt. Immer wieder, auch danach, kommt es zu Zwischenfällen. Die deutschen Feldlager werden abgebaut, OP North wird es nur noch, wenn ich richtig weiß, wenige Tage geben, Kundus wenige Monate. Haben Sie die Sorge, dass diese Rückverlegung zu schnell geschieht?

    de Maizière: Nein. Die Übergabe erfolgt ja auch nicht ersatzlos, sondern nach OP North und nach Kundus gehen entsprechende afghanische Sicherheitskräfte. Das ganze Ziel der Transition, wie wir das nennen, der Übergabe in Verantwortung bedeutet ja, dass wir uns schrittweise aus Gegenden zurückziehen und die afghanischen Sicherheitskräfte das übernehmen. Wir werden auch nach dem Verlassen dieser beiden Orte sogar mehr afghanische Sicherheitskräfte dort haben, als wir je hatten. Nein, das ist nicht zu schnell, das ist richtig. Das ist beabsichtigt, das ist vorbereitet, die entsprechenden Sicherheitskräfte sind auch ausgebildet. Wahr ist allerdings, dass wir jetzt in – wie das so zynisch heißt – uns in einer Kampfsaison befinden, dass die Taliban und Aufständischen nicht zwar imstande sind, ganze Gebiete wieder zu beherrschen, dass sie aber sehr wohl imstande sind, in einer besorgniserregenden Weise mit Einzelanschlägen die Sicherheitslage negativ zu beeinflussen. Wir waren auf gutem Wege in ganz Afghanistan, auch im Norden. Jetzt können wir nicht von einem Rückgang der Sicherheitsrelevanzzwischenfälle sprechen, auch von keiner großen Steigerung, aber jedenfalls von keiner Verbesserung. Aber trotzdem bleibt richtig, dass jetzt die afghanischen Sicherheitskräfte sich gewiss mit unserer Hilfe und Beratung darum kümmern müssen und auch wollen, denn man kann nicht einerseits selbstbewusst sagen, wir nehmen die Sicherheit in die eigene Hand und, wenn es schwierig wird, doch nach uns rufen.

    Remme: Präsident Karzai hat jetzt angekündigt, er wolle nicht noch einmal antreten für die Wahl zum Präsidenten im kommenden …

    de Maizière: Das ist sogar in der Verfassung so vorgesehen.

    Remme: … im kommenden April, eine Selbstverständlichkeit. Es gibt keine dritte Amtszeit nach der Verfassung. Dennoch, wie bewerten Sie diesen Schritt?

    de Maizière: Das ist in der Verfassung so vorgesehen. Das wussten alle Beteiligten. Es gab eher Gerüchte, ob diese Verfassungsbestimmung umgangen wird. Es gibt ja andere Staaten, wo es intelligente Modelle der Arbeitsteilung zwischen führenden Personen gibt. Er will das jetzt anders machen. Das ist ein Zeichen für demokratische Reife in diesem Land. Gleichwohl wird es sehr kompliziert sein, einen friedlichen, geordneten und ich sage mal halbwegs fälschungsfreien Wahlverlauf zu sichern. Das ist für die Phase nach den Wahlen bis Ende 2014 sehr wichtig, auch für die Folgen unseres Engagements nach 2014. Wir wollen ja, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen, mit weniger Kräften im Norden und in Kabul weiter beratend unterstützen und ausbilden. Dafür brauchen wir allerdings bestimmte Bedingungen durch unsere Bündnispartner, aber auch eine entsprechende Haltung der afghanischen Regierung. Und das gilt dann auch für den Nachfolger von Karzai.

    Remme: Dann blicken wir noch auf diesen Zeitraum zum Schluss, also ab 2015. Deutschland hat sich früh festgelegt. Sie haben das zusammen mit dem Außenminister öffentlich gemacht, die vermutliche Präsenz von 600 bis 800 Soldaten. Wann rechnen Sie mit Zusagen von Partnern, was die Region im Norden angeht und wann mit Zusagen des großen Beteiligten, der Amerikaner?

    de Maizière: Wir haben viel Zustimmung von unseren Partnern im Norden. Sonst hätten wir auch dieses Angebot nicht gemacht, denn mit 600 bis 800 im Norden und Kabul alleine lässt sich der Norden auch nicht vernünftig durchführen. Dafür brauchen wir unsere Verbündeten, die Skandinavier und andere. Da gibt es gute Gespräche, aber das möchte ich gerne den Regierungen selbst überlassen, wann sie das öffentlich machen. Das sieht gut aus. Was die Amerikaner angeht, so ist es Sache des amerikanischen Präsidenten, das öffentlich zu machen. Jedenfalls steht auf der Tagesordnung der NATO-Verteidigungsministertagung auch ein Operationskonzept, was von bestimmten Größenordnungen ausgeht. Und das ist schon eine wichtige Entscheidung, die dann in Washington zu treffen ist.

    Remme: Viel Zustimmung, gute Gespräche – ich habe mich Anfang des Monats in den Feldlagern umgesehen. Und die Soldaten dort sagen, an irgendeinem Punkt benötigen wir natürlich auch für die Rückverlegung handfeste Aussagen, was wir eigentlich rückverlegen sollen mit Blick auf unsere zukünftigen Missionen. Das heißt, sind Sie unter Zeitdruck?

    de Maizière: Noch nicht, aber auf jeden Fall brauchen wir schon aus diesen technischen Gründen der Rückführung des Materials, jedenfalls, wenn es geordnet geht, bis zum späten Herbst eine solche Entscheidung. Aber um die Dinge zu beschleunigen und auch unsere Position deutlich zu machen haben wir ja dieses Angebot von uns aus gemacht. Auf der Basis planen wir jetzt. Aber wenn es nicht zu diesen Planungen kommt, dann können wir auch den Norden bis zum 31.12.2014 auf Null räumen. Das wollen wir nicht, aber wenn es so sein muss, dann können wir das technisch sicherstellen. Und eine Entscheidung bis zum späten Herbst ist dafür unumgänglich.

    Remme: Letzte Frage, Herr Minister: Beratung, Ausbildung, Unterstützung – jenseits dieses Angebots müssen die Afghanen ab 2015 allein für ihre Sicherheit sorgen. Gibt es für die Post-ISAF-Welt ein Plan B, falls das nicht gelingt?

    de Maizière: Nein, die Regierungschefs haben beschlossen, das ist keine Kampfmission. Natürlich werden unsere Soldaten geschützt. Man nennt das Force Protection. Das ist aber kein Kampfauftrag nach außen. Und das ist jetzt das Ziel, was wir haben. Und alle anderen Debatten stellen sich nicht. Richtig ist, dass wir neben diesem Sicherheitskonzept politische Fortschritte brauchen in den Versöhnungs- und Friedensgesprächen, dass die wirtschaftliche Entwicklung in Gang kommen muss, dass wir halbwegs ordentliche Regierungsarbeit in Kabul und in den Provinzen brauchen. Das sind alles Dinge, die zum Erfolg dazugehören. Aber einen Plan B jetzt zu diskutieren hieße, den Plan A zu gefährden.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.