Dienstag, 16. April 2024

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Chemieindustrie
Rohstoff für eine nachhaltige Produktion

Erdöl ist das schwarze Blut in den Adern der Chemieindustrie: Lacke, Kunststoffe, Arzneimittel - den Großteil ihrer Produkte stellen die Konzerne aus dem fossilen Rohstoff her. Doch schon jetzt unterliegt der Rohölpreis starken Schwankungen, irgendwann werden die Quellen versiegen. Was aber wäre mit der Idee, die Produktion weiter zu "begrünen"?

Von Arndt Reuning | 11.10.2015
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    Die Chemie wegbringen vom Öl, hin zur Biomasse - mit Pflanzen, die nicht in Konkurrenz stehen zur Produktion von Lebensmitteln. (picture alliance / dpa / Philippe Bruchot)
    Großhansdorf bei Hamburg. Das Institut für Forstgenetik am Thünen-Institut. Ein langer, fensterloser Gang - die "Katakomben" des Laborgebäudes. "Und in diesen Katakomben haben wir die entsprechenden Räumlichkeiten untergebracht, um eben die Sterilkultur von Pflanzen durchzuführen. Und, ja, wir gehen jetzt einfach mal rein. Bitte sehr."
    Matthias Fladung betritt eine Kammer von wenigen Quadratmetern. Künstliches Licht aus Leuchtstoffröhren. Links und rechts Metallregale. Darauf unzählige transparente Becher mit einer Schicht Nährstoffgel auf dem Boden. In jedem Behälter ragt ein dünner, grüner Faden daraus hervor, zwei zarte Blättchen am oberen Ende. "Das sind Bäume. Kann man auf den ersten Blick so gar nicht erkennen, weil sie grün sind, weil sie nicht Holz bilden und weil sie aussehen wie Tabak- oder kleine Kartoffelpflänzchen. Aber es sind alles Pappeln."
    "Noch wachsen die Bäume nicht in den Himmel."
    Kohlenstoff. Kohlen – stoff. Der Stoff, aus dem die Kohle ist.
    Nicht nur die Kohle. Auch das Erdöl.
    Erd – öl! Schwarzes Gold. Schmiere für das Getriebe unserer Wirtschaft.
    Materielle Basis der Chemieindustrie.
    Lacke, Kunststoffe, Arzneimittel - für den Großteil ihrer Produkte ziehen Chemiekonzerne den Kohlenstoff aus Erdöl. Rund vierhundert Megatonnen jährlich wandern als Ausgangsmaterial in die Chemieanlagen, ungefähr zehn Prozent des globalen Verbrauchs. Schon jetzt unterliegt der Rohölpreis starken Schwankungen. Darum stellen sich viele Experten die Frage, ob die Chemieindustrie ausweichen kann: Kohlenstoff steckt auch in Pflanzen. Sie binden das Kohlendioxid aus der Luft, um daraus komplexe Moleküle herzustellen. Wie wäre es also mit der Idee, die Chemieindustrie zu "begrünen"?
    Kohlenstoff. Kohlen – stoff.
    Ein Wandlungskünstler.
    Universalbaustein des Lebens.
    In jedem Grashalm, in jedem Kraut, in jedem Baum.
    Die Chemie wegbringen vom Öl, hin zur Biomasse. Das wäre das Ziel. Möglichst vollständig, damit sich das Ganze rechnet. Möglichst nachhaltig. Damit sich die Natur profitiert. Mit Pflanzen, die nicht in Konkurrenz stehen zur Produktion von Lebensmitteln. Mit Bäumen zum Beispiel.
    "Unter Bäumen regnet es zweimal."
    Matthias Fladung hat das Laborgebäude verlassen. Er schlendert durch das historische, parkartige Arboretum – vorbei an Ahorn- und Eichenbäumen. Sein Weg führt ihn zum Gewächshaus des Instituts.
    Unter dem gläsernen Dach zeichnet ein Messgerät Temperatur und Luftfeuchtigkeit auf. Auf Tischen stehen Töpfe mit jungen Bäumen, gut einen halben Meter hoch. "Wir haben hier Zitterpappeln, hier vorne ist eine Silberpappel. Es gibt Schwarzpappeln, die stehen hier weiter hinten, dann gibt es diese Balsampappeln, es gibt die Euphratpappeln, also dahingehend eine Reihe von verschiedenen Pappelarten, von denen wir eben züchterisch wirklich nur ganz wenige Arten bearbeiten können."
    Als Rohstofflieferant bietet sich die Zitterpappel an, eine in Europa heimische Art, die schnell wächst – auch auf sandigen, nährstoffarmen Böden. Sie nimmt daher keine Agrarflächen in Beschlag. Und im Gegensatz zu den meisten Ackerpflanzen muss sie nicht gedüngt werden. Aber: Pappeln wachsen langsamer als Getreide, Raps und Zuckerrüben. Ein Problem, wenn sie den stetigen Nachschub an Kohlenstoff sichern sollen.
    Die Schwarzpappel ist Baum des Jahres 2006
    Die Schwarzpappel ist Baum des Jahres 2006. Vielleicht wird sie einmal zur Rohstoffquelle. (AP)
    "So, wir stehen jetzt hier vor den Abteilungen, die die gentechnisch veränderten Bäume beinhalten. Das ist der gentechnische Arbeitsbereich, der ist normalerweise und richtigerweise auch verschlossen." Matthias Fladung ist auf der Suche nach Erbanlagen der Pappeln, die einen Einfluss darauf haben könnten, wie schnell die Bäume wachsen – und wie viel Holz sie dabei produzieren. Die Forscher betrachten zum Beispiel Gene, die eigentlich eine wichtige Rolle für die Blütenbildung spielen. Diese Gene sind aber auch aktiv im Xylem der Pflanze, in der Holz bildenden Zone. "Und in Ansätzen, die gentechnischer Natur sind, hier im ersten Schritt, testen wir dann diese Kandidatengene in den gentechnisch veränderten Pflanzen dahingehend, ob sie tatsächlich die Biomasse verändern, sei es in die eine Richtung, tatsächlich mehr Biomasse bilden, oder aber auch in die andere Richtung, dass sie irgendwie einen hemmenden Einfluss haben."
    Es geht darum, den Turbo anzuwerfen für das Wachstum der Pappeln. Je höher die Ausbeute, desto größer die Chance, dass nachwachsende Rohstoffe mit dem Erdöl konkurrieren können. Doch damit nicht genug: Damit die Chemieindustrie mit dem Holz etwas anfangen kann, muss es zunächst umgewandelt werden zu Substanzen, die sich in die etablierten Verwertungsketten einspeisen lassen.
    "Die Bäume mit den tiefen Wurzeln wachsen hoch."
    Im Grunde genommen kehrt die Chemie mit den nachwachsenden Rohstoffen zu ihren Wurzeln zurück. Vor dem Boom des Erdöls zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts extrahierten Chemiker zahlreiche Naturstoffe aus Pflanzen: Öle, Wachse, Zucker und auch pharmazeutische Wirkstoffe.
    Das Reich von Raps und Rübe.
    Der Raps liefert Öl, die Rübe Zucker.
    Die Domäne von Flachs und Färberwaid.
    Aus Leinsamen werden Ölfarben. Und Indigo macht die Denim blau.
    Dieser Zweig der Chemie hat nie wirklich aufgehört, zu existieren. Aber im Laufe der Jahrzehnte wuchs die Petrochemie gewaltig. Die Industrie erschloss damit neue Reaktionswege. Katalytische Prozesse wie etwa das Ziegler-Natta-Verfahren erlaubten die Massenproduktion von hochwertigen Kunststoffen. Die Naturstoffe wurden in eine Nische gedrängt. Heutzutage tragen sie mit rund dreizehn Prozent zur Rohstoffbasis der organischen Chemie bei. "Der Hauptteil kommt aus sogenannten Ölpflanzen." Jörg Rothermel, Experte für Nachwachsende Rohstoffe beim Verband der Chemischen Industrie, VCI, in Frankfurt am Main.
    "Palmen, Sonnenblumen, Raps und ähnliche Pflanzen, die Öl bereit stellen. Warum Öl? Das Öl aus den Pflanzen hat eine große Ähnlichkeit mit dem, was wir aus dem Erdöl gewinnen, um daraus Chemie zu betreiben. Ein weiteres großes Feld sind die Zucker – im Allgemeinen. In Form von Stärke, die wir einsetzen oder auch als Rohrzucker oder Rübenzucker, als solcher, der aus verschiedenen Pflanzen in der Natur kommt." Ein gewisser Teil dieser Zuckerverbindungen wird direkt weiterverarbeitet, wird chemisch umgewandelt – zum Beispiel zu Lebensmittelzusätzen oder auch zu Komponenten für die Herstellung von Kunststoffen. Zucker dient aber auch als "Futter": Bakterien und Pilze fressen die süßen Substanzen und bauen sie dabei um zu wertvollen Chemikalien.
    "Ein wichtiger Verwertungsweg ist, die Zucker durch Vergärung in Alkohol umzuwandeln und diesen Alkohol, im Wesentlichen Ethanol, als Rohstoff in der chemischen Industrie einzusetzen, das ist eine ganz wichtige Basischemikalie. (Es) Besteht auch die Möglichkeit, über Gärung Milchsäure herzustellen und daraus Kunststoffe zu machen, das sind die Polymilchsäurekunststoffe und ähnliche Dinge. Es gibt aber auch die Möglichkeit, über unterschiedlichste biotechnologische Prozesse aus Zuckern entsprechende Chemikalien herzustellen über Mikroorganismen, über Enzyme, die in der chemischen Industrie sinnvoll genutzt werden können." So erzeugen die kleinen Helfer zum Beispiel Futtermittelzusätze, Aromastoffe, Vitamine, Antibiotika oder Fleckenlöser für Waschmittel.
    "Wer kärglich sät, wird auch kärglich ernten."
    Die zur Zeit vorherrschende Nutzung trägt bereits eine Beschränkung in sich, die es den nachwachsenden Rohstoffen schwer macht, ihre Nische zu verlassen: Ob nun Öl aus Raps, Stärke aus Mais oder Saccharose aus Zuckerrüben – stets liefert nur ein kleiner Teil der Pflanze die begehrten Rohstoffe. "In Zukunft geht der Trend stark dahin, die Pflanzen sehr viel stärker in ihrer Gesamtheit zu nutzen, die gesamte Pflanze als Rohstoffbasis zu nutzen und daraus dann teilweise auch gezielt Basischemikalien herzustellen, aus denen man dann wiederum die hochkomplexen Moleküle, ob das jetzt für die Pharmaindustrie ist, ob das für die Lackindustrie ist, für die Klebstoffindustrie oder andere Industrien, herzustellen."
    Die ganze Pflanze, das bedeutet vor allem, auch die verholzten Teile. Neben neuen Züchtungen, die mehr Biomasse liefern, dürfte das eine weitere wichtige Strategie sein, um das zarte Pflänzchen der Biomasse gedeihen zu lassen. Jedoch: Holz ist ein komplexer Werkstoff. Um es als Rohstoffquelle zu erschließen, muss der feste Verbund aus unterschiedlichen Biomaterialien in seine Komponenten getrennt werden. Was gebraucht wird, ist eine Bioraffinerie.
    Ein Windkraftwerk neben einem Strommast inmitten eines Rapsfeldes unter blauem Himmel
    Rohstoff der Zukunft? Ein Rapsfeldes unter blauem Himmel. (picture alliance)
    Bio – Raffinerie. Raffiniert. Bio – raffiniert.
    Was die Raffinerie für die fossilen Rohstoffe…
    …ist die Bio-Raffinerie für die nachwachsenden Rohstoffe.
    Quasi dasselbe in Grün?
    Eine konventionelle Raffinerie trennt das komplexe Stoffgemisch, aus dem Erdöl besteht, in einzelne Fraktionen auf. Es entsteht ein Produktbaum aus Kohlenwasserstoffen, dessen Äste sich immer weiter verzweigen. Auf dieser stofflichen Basis erzeugen die Chemiefirmen ihre Produkte – entlang etablierter Wertschöpfungsketten. Eine Bioraffinerie arbeitet zwar nach einem ähnlichen Prinzip. Aber "dasselbe in Grün" ist sie doch nicht ganz.
    "Dasselbe in Grün wäre schön. Leider geht das nicht so einfach. Der Begriff der Bioraffinerie bezieht sich darin, dass wir auch versuchen, natürliche Rohstoffe zu fraktionieren, das heißt in verschiedene Bestandteile zu zerlegen, die dann wiederum in chemische Prozessketten eingepflegt werden können." Roland Ulber, Professor für Bioverfahrenstechnik an der Technischen Universität Kaiserslautern. Erdöl ist eine Flüssigkeit. Seine Fraktionen lassen sich durch eine einfache Destillation voneinander trennen. Beim Holz sieht das anders aus: Es handelt sich um einen festen Verbundwerkstoff, dessen Komponenten auf mikroskopischer Ebene miteinander verwoben sind. "Ganz grob gesagt sind es drei verschiedene Bestandteile: Das ist einmal die Cellulose, die Hemicellulose und das Lignin. Und die Aufgabe der Bioraffinerie besteht nun darin, diese Komponenten soweit voneinander zu trennen, dass man sie einzeln weiterverarbeiten kann."
    Jede Zellwand im Holz enthält diese drei Hauptbestandteile. Bei der Cellulose handelt es sich um eine Zuckerverbindung, die der Stärke ähnelt. Ihre langen, geraden Molekülketten lagern sich in der Zellwand zu geordneten Bündeln von rund 50 Strängen zusammen. Die Hemicellulosen, ebenfalls Zuckermoleküle, umhüllen diese mikroskopisch kleinen Fasern. Das Lignin schließlich fungiert als eine Art Bindemittel, das Stränge zusammenhält. Roland Ulber und seine Kooperationspartner arbeiten an Verfahren, die diesen engen Verbund aufspalten; an den Grundlagen einer speziellen Art von Bioraffinerie, der Lignocellulose-Bioraffinerie.
    Ein Labor an der TU Kaiserslautern. Arbeitsgruppenleiter Nils Tippkötter zerrt einen schweren Plastiksack unter einem Schreibtisch hervor und wuchtet ihn durch den Raum.
    Gefüllt ist der Sack bis zum Rand mit vielen kleinen Holzstückchen. "Was wir hier haben, das sind Buchenholzhackschnitzel. Das ist nur einer der Rohstoffe, wir haben hier zum Beispiel noch Nadelgehölze, aber auch verschiedene Energiepflanzen. Das kann man vielleicht noch mal an anderen Lagerbehältern sehen. Hier zum Beispiel haben wir noch Stroh und Sillageproben, die ebenfalls mit den Verfahren der Bioraffinerie verarbeitet und umgewandelt werden können." Der Chemiker greift in den Sack, zieht eine Handvoll Holzstücke hervor und gibt sie in ein Gerät, das einer Küchenmaschine ähnelt.
    Als er den Deckel wieder öffnet, hat das Schneidwerk die Holzstücke zu einer Art Sägemehl zerkleinert. Diese Späne sind nun bereit für die Extraktion im Hochdruck-Reaktor, dessen Kernstück aus einem glänzenden Stahlzylinder besteht. Siebeneinhalb Liter fasst er. Im Grunde genommen ein Schnellkochtopf wie in der Küche, erklärt der Chemiker, bloß etwas größer. "Im Unterschied zu einem normalen Hochdruckkochtopf aus der Küche kann dieser hier mit noch höheren Temperaturen arbeiten, er hat einen Rührer integriert und erfüllt auch noch andere Sicherheitsbedingungen, diese Extraktion erfolgt mit Ethanol. Dementsprechend müssen auch hohe Sicherheitsbedingungen erfüllt werden für den Betrieb."
    Bei rund 180 Grad werden die Holzspäne unter Hochdruck mit Wasser und Alkohol behandelt – im sogenannten Organosolv-Verfahren. Dabei wird die Faserstruktur des Holzes zerstört. Und jener Stoff löst sich aus dem Materialverbund, der für die Festigkeit des Werkstoffes verantwortlich ist: das Lignin. Aus der Flüssigkeit kann es dann zur späteren Verwendung wieder abgetrennt werden – als ein hellbraunes Pulver. "Das Lignin ist eine sehr komplexe Verbindung aus aromatischen Grundkomponenten, also aus einem prinzipiell sehr wertvollen Grund-Chemikalien-Portfolio für die chemische Industrie. Diese Grundkomponenten sind notwendig, um chemische Prozessketten zu versorgen."
    Baumstämme lagern an einem Waldweg
    Baumstämme lagern an einem Waldweg (Andreas Diel)
    Aromaten sind organische Verbindungen aus dem Erdöl, die ein gemeinsames Grundmotiv tragen. Sie leiten sich ab vom Benzol, einem ringförmigen Molekül aus sechs Kohlenstoffatomen. Sie dienen als wichtige Synthesebausteine zum Beispiel für Kunststoffe, Harze und Farben.
    Aromaten. Aro – maten.
    Können manchmal ziemlich übel riechen.
    Lösungsmittel.
    Mottenpulver.
    "Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht."
    Lignin ist der einzige Naturstoff, der auf unserem Planeten nahezu allgegenwärtig ist – und hohe Mengen an solchen aromatischen Verbindungen enthält. In Bioraffinerien fällt es in einer besonders reinen Form an – das ist wichtig, da Katalysatoren bei der Weiterverarbeitung helfen. Verunreinigungen können diese Reaktionsbeschleuniger aber geradezu vergiften. Neben dem Lignin als Aromatenquelle enthält das Holz vor allem Zuckerverbindungen in Form von Cellulose und Hemicellulosen. In ihnen sind einfache Kohlenhydrat-Einheiten zu langen Ketten verknüpft. Daher müssen auch diese Komponenten des Holzes in einfache Zucker wie etwa Traubenzucker zerlegt werden, erklärt Roland Ulber. "Dieser Zucker kann dann über chemische oder auch biologische Verfahren weiterverarbeitet werden, beispielsweise zum Bioethanol, was man als Treibstoff nutzen kann."
    Oder aber man veredelt den Alkohol noch weiter: mithilfe eines Katalysators zu Ethylen, also zur weltweit wohl wichtigsten petrochemischen Grundchemikalie. Das Verfahren hat die Forschungslabore bereits verlassen und die industrielle Herstellung erreicht. "Insbesondere zu nennen ist Brasilien, die auf Basis von Zuckerrohr sehr weite Fortschritte erzielt haben. Dort gibt es die Firma Braskem, die eine Anlage installiert hat, wo auf Basis von Zuckerrohr ein Kunststoff hergestellt wird. Diesen Kunststoff finden wir auch in Deutschland auf dem Markt: Verschiedene Getränkehersteller bieten Einmalflaschen an, die einen bestimmten Anteil dieses Kunststoffs schon beigemischt haben."
    Auch in Deutschland bemüht man sich, die "Mauerblümchenexistenz" der Nachwachsenden Rohstoffe zu beenden. Der Übergang vom Labor in die Praxis findet statt am traditionsreichen Chemiestandort Leuna in Sachsen-Anhalt. Dort wurde am Fraunhofer Zentrum für Chemisch Biotechnologische Prozesse die erste Pilotanlage einer Lignocellulose-Bioraffinerie errichtet. Basierend auf dem Organosolv-Verfahren kann sie bis zu einer Tonne Holz pro Woche in seine Hauptbestandteile zerlegen. Ein Prototyp für die grüne Chemiefabrik der Zukunft, erklärt Gerd Unkelbach, der das Zentrum leitet. "Die Hauptidee ist, dass wir das Risiko, was die Industrie momentan noch trägt beim Rohstoffwandel, ein bisschen puffern, das ist ja auch der Gründungsgedanke von Fraunhofer, dass wir die Industrie unterstützen im Bereich der Forschung und dann eine Art Risikominimierung machen."
    Dazu gehört auch, über Produkte und Absatzmärkte nachzudenken. Denn die Aufgaben einer Bioraffinerie gehen über die Funktion einer Erdöl-Raffinerie hinaus, die das Rohöl bloß auftrennt. "Unter einer Bioraffinerie versteht man aber einen gesamten Komplex, wo wir einerseits Trennaufgaben wahrnehmen müssen, andererseits aber auch biotechnologische oder chemische Konversionsschritte einbringen müssen."
    Im Herbst des vergangenen Jahres veröffentlichte die Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe erste Zahlen aus der Pilotanlage: In der Bioraffinerie in Leuna ließ sich demnach sehr reines Lignin erzeugen, das sich zur Herstellung verschiedener Kunststoffe eignet. Die Cellulose und Hemicellulosen ließen sich zu Glukose, also zu Traubenzucker, aufspalten – und damit zu Nährstoff für Mikroorganismen in Fermentationsprozessen. Den Großteil des Holzes können die Experten aus Leuna also verwerten. Jetzt bleibt nur noch eine Herausforderung: Bei der Verarbeitung der Hemicellulosen fällt auch die Zuckerverbindung Xylose an, für die eine lohnende Umwandlung erst noch gefunden werden muss.
    "Grundsätzlich kann man damit auch Bakterien füttern, bloß mögen die meisten Bakterien diese Xylose nicht so gerne, die essen erst mal die Glukose auf, wenn das in Mischung vorliegt, und kümmern sich danach um die Xylose, und das ist für solche Fermentationsprozesse erst mal nachteilig. Es gibt aber auch für manche Fermentationsprozesse, wie etwa Alkoholfermentation oder Milchsäurefermentation inzwischen auch Mikroorganismen, die das genauso gut verstoffwechseln können, und in solchen Fällen kann man die Xylose auch dort einsetzen."
    Die Xylose gehört zu den sogenannten C5-Zuckern, erklärt Moritz Leschinsky vom Fraunhofer-Zentrum in Leuna. "Man kann die C5-Zucker auch nutzen, um sie in Furfural umzuwandeln auf chemischem Weg zum Beispiel. Das sind wiederum aromatische Grundbestandteile, die auch jetzt schon in der chemischen Industrie teilweise eingesetzt werden, momentan im nicht so großen Stil, aber auch daraus kann man wieder Lösungsmittel und Polymere herstellen, die durchaus ein gewisses Potenzial haben."
    Ob die chemische Industrie bereit ist, sich auf die neuen Zwischenprodukte und Synthesewege einzulassen, dürfte entscheidend sein für den Erfolg der nachwachsenden Rohstoffe. Denn die Verantwortlichen hängen an ihren Prozessketten, die sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt und etabliert haben. "Und die möchten am liebsten Produkte oder Zwischenprodukte haben, die sie schon kennen, mit denen sie schon immer gearbeitet haben. Am liebsten möchten die sogenannte Drop-in-Lösungen haben, also letztendlich Chemikalien, die man einfach in die schon existierenden Prozesse reinwerfen kann und eigentlich den Prozess nachher nicht umstellen muss."
    "Einen alten Baum verpflanzt man nicht."
    Die Chemieindustrie wurzelt heute noch tief in der schwarzen Welt fossiler Kohlenwasserstoffe. Es wird nicht leicht, den alten Riesen an den grünen Boden zu gewöhnen. Einen sanften Übergang könnten jene Zwischenprodukte liefern, die den Grundsubstanzen der Erdölchemie ähneln. Grüne Rohstoffe in schwarzer Gestalt.
    Methan. Ethan. Propan.
    Butan. Pentan. Hexan.
    Heptan. Oktan. Nonan.
    Decan! Das kleine Einmaleins der organischen Chemie.
    Es sieht aus wie in einer Lagerhalle. Aber es riecht wie in einer Scheune. Das liegt an den Strohballen, die an einer Wand des Raumes meterhoch bis unter die Decke aufgestapelt sind. "Ja, hier haben wir einen kleinen Teil unseres Strohvorrates gelagert, der andere Rest, der liegt noch in Lagerzelten, die hier am Standort verteilt sind. Und dann haben wir noch Verträge, Lieferverträge mit Bauern abgeschlossen, die uns dann, wenn wir Kampagne fahren, dann Stroh in ausreichenden Mengen liefern." Jörg Sauer steht vor einem gelben Gitter, hinter dem ein Strohhäcksler die Halme zerkleinert.
    Strohballen, die auf einem Feld in Niedersachsen gestapelt stehen.
    Strohballen, die auf einem Feld in Niedersachsen gestapelt stehen. (imago/blickwinkel)
    "Wenn wir Kampagne fahren, brauchen wir so 60 Tonnen, würde ich sagen. Dann haben wir auch 45 Tonnen Produkte hergestellt." Aus den Strohballen entsteht hier am Karlsruher Institut für Technologie in einem mehrstufigen Verfahren Benzin. Und auch andere chemische Grundsubstanzen lassen sich mit der sogenannten Bioliq-Anlage herstellen. Dazu wird das Stroh zunächst unter Ausschluss von Sauerstoff erhitzt. Pyrolyse nennt sich dieser Prozess, erklärt der KIT-Professor. "Sie hören hier Sand. Die Pyrolyse funktioniert so, dass man die Biomasse mischt mit vorgeheiztem, heißem Sand, 500 Grad heißer Sand. Und zwar geht das ganz schnell in Sekunden oder Millisekunden wird dieses Stroh heiß. Und dabei zerfällt es dann in ein flüssiges und ein festes Produkt. Und so kann ich dann dieses Bio-Syncrude herstellen, das ja auch pumpfähig ist."
    Bio-Syncrude, also eine Art synthetisches Rohöl auf Basis von Biomasse. Eine schwarzbraune, klebrige Flüssigkeit aus Pyrolyseöl und –koks, die in der kleinen Fabrik auf dem Campus Nord zunächst zu Synthesegas wird. Das besteht hauptsächlich aus Kohlenmonoxid und Wasserstoff. Im letzten Gebäude der Anlage wird es in einem mehrstufigen Verfahren in die flüssigen Zielprodukte umgewandelt, erklärt Jörg Sauer, und deutet auf die stählernen Apparaturen mit den Katalysatoren darin. "Das sind einfach große Behälter, in denen ein festes, pulveriges Material verfüllt ist. Das sind so Granulate. An denen entsteht bei 350 bis 450 Grad entstehen dann die Moleküle, die wir haben wollen, eben das Benzin dann am Ende."
    Doch Synthesegas ist weitaus flexibler. In der chemischen Industrie dient es als vielseitige Kohlenstoffquelle. "Und es gibt noch ein ganz wichtiges Produkt, was aus Synthesegas hergestellt wird, das ist Methanol. Aus dem kann man dann nahezu alles machen. Eines der technisch größten Produkte ist Methyl-tert-Butylether als Kraftstoffkomponente, die Herstellung von Methylmethacrylat für Plexiglas, und Nummer drei ist Essigsäure."
    Bei der Bioliq-Anlage in Karlsruhe handelt es sich um eine Synthesegas-Bioraffinerie. Im Gegensatz zu den Zwischenprodukten aus Leuna liefert sie Substanzen, die näher an den Grundsubstanzen der klassischen Chemieindustrie dran sind, argumentiert Jörg Sauer. "Das führt dann natürlich auch zu einem etwas höheren Aufwand, ist technisch aufwendiger, aber ich komme quasi in diese Schiene der Chemie rein, die ich zumindest zum Großteil heute schon kenne."
    Ihre Bioraffinerie füttern die Forscher aus Karlsruhe mit Stroh. Aber auch andere Restmaterialien aus der Land- und Forstwirtschaft lassen sich verwerten. Die Logistik stellt bei diesem Konzept eine wirtschaftliche Herausforderung dar: Das Einsammeln und der Transport der Biomasse über lange Strecken kämen schlichtweg zu teuer, denn die Energiedichte des Materials ist dafür zu gering. Bei einer Markteinführung möchten die Bioliq-Experten daher die Pyrolyse des Strohs von der Weiterverarbeitung des Zwischenproduktes räumlich trennen. "Also wenn man zum Beispiel Weizenstroh oder Reste aus der Forstwirtschaft verwendet, dann fallen die sehr stark dezentral über die Fläche an. Und die Idee bei Bioliq war, dass man in einer Anlage, die eben auch dezentral nahe an der pflanzlichen Erzeugung steht, dann ein Zwischenprodukt erzeugt, was dann transportiert werden kann. Das ist unser Bio-Syncrude, was dann so energiedicht ist, so ähnlich wie das auch Rohöl ist, und was dann über längere Distanzen transportiert werden kann."
    Eine zentrale Bio-Raffinerie würde dann im Mittelpunkt dieses Netzes stehen und das Bio-Rohöl veredeln. Rund vierzig bis fünfzig dezentrale Pyrolyse-Anlagen könnten ihr die braun-schwarze Flüssigkeit zuliefern. Jede dieser Pyrolyse-Einheiten wiederum bezöge Stroh und Restholz aus einem Umkreis von ungefähr 25 Kilometern. "Diese dezentrale Produktion, das finden die Landwirte und vor allem das Landwirtschaftsministerium interessant, weil man es so schaffen kann, neue Wertschöpfung in der Fläche dann auch zu erzeugen."
    Kohlenstoff. Kohlen – stoff.
    Universalbaustein des Lebens.
    Dreh- und Angelpunkt der organischen Chemie.
    Kohlenstoff aus Erdöl. Kohlenstoff aus Biomasse.
    Bisher lassen sich nur wenige Massenchemikalien zu einem konkurrenzfähigen Preis aus herstellen. Bioethanol gehört dazu und die Plattformchemikalie Bernsteinsäure. Sie werden biotechnologisch aus Stärke und anderen Zuckerverbindungen erzeugt. Sollten sich Bioraffinerien im großen Umfang durchsetzen, dann dürfte das auch den Preis für die Produkte deutlich senken. Noch handelt es sich um ein Zukunftskonzept. Doch der Boden ist bereitet. Das zarte Pflänzchen der Biomassenutzung kann wachsen und gedeihen. "Und es wird sich sicherlich auch mittelfristig eine Realisierung verschiedener Anlagen in Deutschland und auch weltweit ergeben. Man muss nicht unbedingt darauf warten, dass Erdöl wieder teurer wird, sondern man (wir) müssen jetzt zu diesem Zeitpunkt die Technologien entwickeln, um sie dann zum gegebenen Zeitpunkt wirklich parat zu haben."
    Neben Erdöl stehen auch andere fossile Quellen für Kohlenstoff zur Verfügung, mit denen die Biomasse konkurrieren muss. Die USA erschließen zur Zeit ihr Schiefergas, und in China lagern noch gewaltige Vorräte an Kohle. Aus beiden Rohstoffen lassen sich Ausgangsmaterialien für die chemische Industrie erzeugen. Deshalb hält Jörg Rothermel vom Verband der Chemischen Industrie es auch für ausgeschlossen, dass nachwachsende Rohstoffe in den nächsten Jahrzehnten das Erdöl komplett ersetzen könnten. Aber sie werden mitmischen.
    "Jeder starke Baum hat einst als zartes Pflänzchen begonnen."
    "Und ich sehe eigentlich für die Zukunft eher einen bunten Mix an verschiedenen Rohstoffen, in dem Nachwachsende Rohstoffe sicherlich einen erheblichen Anteil und einen wichtigen Anteil einnehmen werden."