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Dávila neu entdecken

Der 1994 verstorbene kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila hat keinen regulären Beruf ausgeübt, sondern sich in seiner stattlichen Privatbibliothek vergraben und geforscht und geschrieben. Als überzeugter Reaktionär war er in Europa lange Zeit außer Kurs und kann nun mit dem Band "Das Leben ist die Guillotine der Wahrheiten" unbefangen und vorurteilsfrei entdeckt werden.

Von Martin Krumbholz | 18.01.2007
    "Es gibt Wahrheiten, die auf so armselige Weise zurechtgemacht sind, dass man sie sofort entkleiden muss, wie eine hübsche, aber schlecht angezogene Frau."

    So spricht der kolumbianische Schriftsteller und Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila in seinen "Scholien zu einem inbegriffenen Text", 1977 in zwei dicken Bänden erschienen. Um so genannte Wahrheiten, also durch Erfahrung gewonnene Einsichten geht es Dávila durchaus, auch wenn dieselben angeblich durchs Leben guillotiniert werden, aber um ihre Einkleidung muss man sich keine Sorgen machen, wie der Leser schon an wenigen Kostproben sieht: Diese Wahrheiten sind so vorzüglich kostümiert, dass man sich allenfalls gelegentlich fragt, ob das tadellose Outfit nicht doch eher einen Gemeinplatz oder ein Ressentiment verhüllt. Der Erzkatholik Dávila ist ein Ultrakonservativer, er nennt sich selbst einen Reaktionär, er verabscheut Marxisten, Psychoanalytiker, Protestanten, noch mehr Katholiken, die sich den Protestanten anpassen, und sein rigoroses Denken etabliert eine strikte Hierarchie:

    "Der korpulente und geile Chorherr, der an Gott glaubt, ist auf unbestreitbarere Weise Christ als der strenge und verhärmte Pastor, der an den Menschen glaubt."

    Dávila glaubt nicht so sehr an den Menschen, das verbietet sein eingefleischter Pessimismus; und an seiner philosophischen Grundsatzentscheidung kann kein Zweifel aufkommen:

    "Entweder man gehört zur Nachkommenschaft Hegels, oder man gehört zur Nachkommenschaft Schopenhauers. Tertium non datur."

    Ein Drittes gibt es nicht, damit ist der Pflock eingeschlagen; in die Abteilung Hegel, Dialektik und so fort gehört nicht nur der Marxismus einschließlich all seiner späten und spätesten Spielarten, sondern auch jede Form von liberalem oder libertärem Denken. Bis zum Überdruss reibt Dávila sich an seinen Lieblingsfeinden, und in diesem Punkt erinnert der vorliegende Auswahlband am stärksten daran, dass das Original in den 70er Jahren erschien, als der Feind, zumal in den Staaten Lateinamerikas, noch springlebendig war. Darüber muss man einfach hinweglesen, um, dem Herausgeber Martin Mosebach sei Dank, einen ebenso scharfsinnigen wie originellen Schriftsteller zu entdecken, dessen scharfkantige Bemerkungen oft genug brüskieren und die eigenen Überzeugungen gewissermaßen ankratzen, so dass weniger das Leben die Wahrheiten guillotiniert als vielmehr Dávilas spitze Feder lieb gewonnene Gewissheiten des aufgeklärten Lesers:

    "Nur das Unverdiente ist verehrungswürdig. Der Fleiß wird in subalternen Paradiesen belohnt."

    oder auch:

    "Die Redegabe wurde dem Menschen nicht gegeben, damit er betrüge, sondern damit er sich selbst betrüge."

    oder:

    "Jede Behauptung, die nicht Salz in einer geheimen Wunde ist, ist eine bloße Unverschämtheit."

    oder hier:

    "Ein nützliches Glied der Gesellschaft sein' ist der Ehrgeiz - oder die Entschuldigung - einer Prostituierten."

    Um auf solche Goldkörner einer wahrhaft provokativen Weltsicht zu stoßen, muss der Leser den Auswahlband seinerseits auswählend und sondierend durchleuchten. Und er täte gut daran, nicht etwa nur nach Sentenzen zu suchen, die die eigenen Überzeugungen stützen und nur noch mit etwas rhetorischer Schminke überziehen, das wäre ein allzu kurzes Vergnügen, sondern nach solchen, die ihm nicht unmittelbar einleuchten und ihm vielleicht sogar pathetisch gesprochen ein bisschen weh tun: Dann hätten wir es mit einer produktiven Lektüre zu tun.

    "Es gibt Wesen, die in jedem Morgengrauen nur die günstige Gelegenheit eines Verrats sehen."

    Bin ich damit gemeint? Das sollte man sich getrost fragen, wenn man solche scharfen Sätze liest; denn nur dann hat man etwas davon. Und keine Angst: Dávila ist ein ebenso höflicher wie gebildeter Mensch, der zwar eine beträchtliche Schroffheit an den Tag legen kann, aber stets gute Umgangsformen wahrt. Er selbst sagt es so:

    "Der Satz muss feine Manieren zeigen, aber Kanten haben und kurz sein."

    Bei aller spürbaren Angriffslust muss man bedenken, dass eine primäre christliche Tugend darin besteht, den Balken im eigenen Auge nicht zu übersehen; und folgerichtig bezeichnet Dávila den Hochmut als sein einziges Thema. Man kann das Problem auch so sehen:

    "Der Amateur, den die Fachleute auf der Rennbahn zulassen, gewinnt gewöhnlich das Rennen."

    Und bedenken wir auch:

    "Die Hölle ist der Ort, an dem der Mensch all seine Vorhaben verwirklicht findet."

    Nicolás Gómez Dávila, schreibt Martin Mosebach in seiner Einführung, fühlte sich in Kolumbien wie von der Erde auf den Mond geschossen. Dennoch hat er das Land, nachdem er seine Jugend bis 1936 in Paris verbracht hatte, mit einer Ausnahme nicht mehr verlassen. Er hat keinen regulären Beruf ausgeübt, sondern sich in seiner stattlichen Privatbibliothek vergraben und geforscht und geschrieben. Als überzeugter "Reaktionär" war er in Europa lange Zeit außer Kurs und kann nun, mit diesem schönen Band der Anderen Bibliothek, unbefangen und vorurteilsfrei entdeckt und gelesen werden. Es lohnt sich, und nicht nur deswegen, weil Dávila der Intelligenz seines Lesers schmeichelt. Hohlköpfe sind in der Regel nicht darunter, was übrigens nichts mit Rang und Titel zu tun hat. Denn:

    "Nicht jeder Professor ist dumm, aber jeder Dummkopf ist ein Professor."