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DDR-Dopingsystem
Mecklenburg-Vorpommern forciert Forschung

Die zehnjährige Verjährungsfrist für in der DDR begangenen Straftaten im Zusammenhang mit dem staatlichen Zwangsdoping ist vorbei. Umso mehr kümmert sich Mecklenburg-Vorpommern um noch immer ungeklärte Fragen: Was genau haben Tausende Sportler damals geschluckt? Welche Zusammenhänge gibt es zu heutigen Krankheiten und Leiden?

Von Silke Hasselmann | 03.10.2016
    Die Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins, Ines Geipel.
    Die Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins, Ines Geipel. (dpa-Bildfunk / Rainer Jensen)
    Es ist ein gutes halbes Jahrhundert her, dass Karin Franke auf leistungssportlichem Niveau geturnt hat - von 10 bis 12 Jahren beim Sportclub Jena. Später hat die Wahl-Schwerinerin gesundheitlich viel durchgemacht: Fehlgeburten, untypische chronische Krankheiten, schleppende Heilung, eine unerklärliche Kraftlosigkeit. Ursachen? Unklar. Therapien? Schlagen oft nicht an.
    Obwohl sie schon lange glaubt, damals gedopt worden zu sein, will Karin Franke erst seit kurzem wissen, was genau sie schlucken musste und ob es einen Zusammenhang mit ihren Leiden gibt. Als der Dopingopferhilfe kürzlich zu einer Informationsveranstaltung über den neuen Hilfsfonds der Bundesregierung nach Schwerin lädt, wagt sie sich aus der Deckung.
    "Ich habe mich heute zum ersten Mal damit intensiv beschäftigt. Für mich ist das heute echt 'ne Wunde, die aufbricht. Muss ich sagen. Wenn dann mal dieses Thema Doping, was ich auch schon mal beim Arzt angebracht habe, also: 'Ich bin früher gedopt worden' - Das interessiert die alle gar nicht. Da hören die weg! Und deswegen steht man alleine damit."
    Wenig später nutzt auch die 57-jährige Ex-Turnerin die Möglichkeit, sich von der Dopingopferhilfe beraten zu lassen. Vereinsvorsitzende Ines Geipel, ehedem Sprinterin und ebenfalls zwangsgedopt, hört Karin Franke aufmerksam zu.
    Karin Franke will nach dfem Gespräch Unterlagen suchen und alles aufschreiben, woran sie sich im erinnern kann – übrigens auch an das Leben im Internat, an die zeitweise physisch wie psychisch brutal agierenden Trainer. Mädchen mit blutenden Händen an den Stufenbarren zu schicken, wenn sie ein paar Gramm zu schwer waren – keine Seltenheit. Und noch nicht das Schlimmste, sagt Karin Franke und erhält den Tipp, sich an den Chef der Schweriner Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie zu wenden.
    Dr. Jochen-Friedrich Buhrmann behandelt schon seit längerem gezielt Patienten, die sich als Opfer von Stalinismus und DDR-Diktatur mit den Folgen traumatisierender Erlebnisse herumplagen. Seit zwei Jahren arbeitet er auch mit dem Dopingopfer-Hilfeverein zusammen, denn körperliche Schmerzen, psychische Leiden – das können auch späte Reaktionen auf ein Trauma sein. Es lohne sich also auch danach zu gucken, unter welchen Rahmenbedingungen die Sportler damals gelebt haben, sagt der Internist und Psychotherapeut: "Ich bin auch selbst erschrocken über Details, die Betroffene mir berichtet haben. Wie sie misshandelt worden sind, wie sadistisch die Trainer waren, welche Leistungen ihnen unter welchen Bedingungen abverlangt worden sind. Man hat sich ihrer Seelen und ihres Körpers bedient und hat auf die Menschen, auf die Betroffenen in der Situation keine Rücksicht genommen."
    Karin Franke hat sich entschieden, sich bei Dr. Buhrmann vorzustellen. Sie sagt: "Was erhoffe ich mir von dem Termin? Dass ich Wege finden kann, besser mit meinen ganzen Erkrankungen umzugehen. Dass ich mit meinen gesundheitlichen Zustand besser annehmen kann oder Stellen finde, die dafür Verständnis haben. Ärzte, spezielle Ärzte, die mit dem Thema umgehen können, denn das habe ich bisher immer noch nicht."
    Außerdem möchte sie bei diversen Forschungsprojekten helfen, die derzeit in Mecklenburg-Vorpommern anlaufen. So finanziert das Land drei Doktorarbeiten über Dopingstrukturen in den drei DDR-Nordbezirken Schwerin, Rostock und Neubrandenburg und über die chemische Zusammensetzung und Dosierung der damaligen Dopingmittel. Federführend: Die Universität Rostock.
    Zudem haben Dr. Buhrmann und der Greifswalder Universitätsprofessor Harald Freyberger im Juli mit der bundesweit größten Studie über die Langzeitfolgen des DDR-Dopings begonnen. Der Forschungsgegenstand hier: Alle Betroffenen, die sich in der Zwischenzeit bei der Dopingopferhilfe gemeldet haben. Das sind mittlerweile insgesamt über tausend – darunter nun auch Karin Franke aus Schwerin.