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DDR-Geschichte
Der SED-Diktatur droht das Vergessen

Staatssicherheit, Mauerschützen, Morde: Die Geschichte und die Folgen des DDR-Unrechtsregimes aufzuarbeiten, war der Anspruch, dem sich der Bundestag 1992 bei der Gründung der Enquête-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" verpflichtet sah. Was ist vom "Aufräumen" geblieben?

Von Norbert Seitz | 12.03.2017
    Erich Honecker (Mitte), Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, Egon Krenz (l) und Eberhard Aurich (r) mit Pionieren auf der Ehrentribüne bei VIII. Pioniertreffen im August 1988 in Karl-Marx-Stadt.
    Erich Honecker (Mitte), Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR, Egon Krenz (l) und Eberhard Aurich (r) mit Pionieren auf der Ehrentribüne bei VIII. Pioniertreffen im August 1988 in Karl-Marx-Stadt. (picture alliance / ZB / Peter Kroh)
    Der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt in der Bundestagsdebatte vom 12. März 1992:
    "Dass allein mit den Mitteln des Rechtsstaats die Vergangenheit nicht aufgearbeitet werden kann, wissen wir alle. Sorgfältig vorbereitete Foren, ein vieltausendfaches offenes Gespräch der Bürger, gerade auch die Kommission des Deutschen Bundestages können dabei helfen. Und der Blick nach vorn darf da nicht durch Gespenster der Vergangenheit verstellt werden. In diesem Sinne darf ich der Kommission eine überzeugende Arbeit wünschen."
    Es sollte – ein halbes Jahr vor seinem Tod – seine letzte Parlamentsrede sein. Der Anlass: Die Einsetzung einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte und Folgen der SED-Diktatur.
    Aufarbeitung unter Ausklammerung des Stasi-Komplexes
    Anstelle eines zunächst von Bürgerrechtlern vorgeschlagenen Tribunals wollte sich der Deutsche Bundestag dieser enormen Herausforderung stellen. Wohlgemerkt: Unter Ausklammerung des Stasi-Sonderkomplexes.
    Rainer Eppelmann bei der Stimmabgabe am 18. März 1990.
    Rainer Eppelmann, hier 1990 bei den Volkskammerwahlen, war Verteidigungsminister in der ehemaligen DDR. Von Aufarbeitung hatte er seine eigenen Vorstellungen. (picture alliance / dpa / Foto: Wolfgang Eilmes)
    Kommissionsvorsitzender wurde der frühere Bürgerrechtler und Verteidigungsminister in der letzten, demokratisch gewählten DDR-Regierung, Rainer Eppelmann, der einen Monat vor seiner Einsetzung folgende Vorstellung einer Aufarbeitung entwickelte:
    "Für mich ist Aufarbeitung von DDR-Geschichte und DDR-Vergangenheit ein ungeheuer komplexes Problem, das man nicht einer bestimmten Berufsgruppe oder einer bestimmten Bevölkerungsschicht überlassen sollte, sondern da sollten möglichst alle beteiligt sein, die Juristen genauso wie die Historiker, die Politiker genauso wie die Kriminalisten".
    Ein weiterer Protagonist in der Enquete-Kommission war Markus Meckel, früherer Bürgerrechtler und letzter Außenminister der DDR vor der Deutschen Einheit. Meckel im Rückblick.
    "Das Besondere einer solchen Enquete-Kommission ist, dass sie zur Hälfte aus Abgeordneten besteht und zur anderen Hälfte aus Sachverständigen, die von den Fraktionen berufen werden ".
    Eppelmann wollte den "ganz normalen DDR-Alltag" dargestellt sehen
    Persönliche Schuld sollte nicht ergründet werden, wichtiger waren die persönlichen Lebensumstände, Zusammenhänge und Hintergründe. Rainer Eppelmann wollte den ganz normalen Alltag in der DDR dargestellt sehen…
    "…weil wir uns weder als eine Gruppe verstehen, die Erich Honecker verurteilen soll oder frei sprechen soll, noch ja Gerd Poppe oder Bärbel Bohley oder - wen auch immer - mit einem Orden zu versehen hat. Uns geht es darum, deutlich zu machen: Wie sah das Leben dieser 16 Millionen Ostdeutschen aus?".

    Die Enquete-Kommission war von Dauer und Inhalt her die größte, die es in der Geschichte des Deutschen Bundestags gab - mit 16 Mitgliedern und 16 Stellvertretern, sowie elf Sachverständigen. Die Union stellte sieben, die SPD fünf, die FDP zwei Mitglieder, sowie Bündnis `90/ Die Grünen und die PDS je ein Mitglied. Markus Meckel:
    "Die Arbeitsweise der Kommission war, dass wir viele Anhörungen machten, das heißt wir luden Betroffene ein. Betroffene heißt sowohl auf der Ebene der Täter bis hin aus dem Politbüro, aber auch Opfer. Wir luden Sachverständige aus der Wirtschaft ein, auch aus den oppositionellen Gruppen, aber eben auch aus Kirchenleitungen. Das Wichtige war, dass wir ein plurales Bild haben wollten, um uns ein eigenes Urteil zu bilden. Da die Anhörungen öffentlich waren, war dies gewissermaßen auch noch eine öffentliche Lehrstunde in Sachen kommunistischer Diktatur für Deutschland als Ganzes".
    PDS - die Erben der alten Polit-Elite aus der DDR
    Nur die Mitglieder der postkommunistischen "Erbengemeinschaft der alten SED" namens PDS hegten Befürchtungen, die Kommission könne lediglich über die DDR Gericht sitzen. Dazu André Brie in der Retrospektive, vormals Parteichef und Europa-Abgeordneter der PDS:
    "Natürlich hatten wir diese Angst, dass es Siegerjustiz wird. Es gab heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Partei. Viele waren generell dagegen. Persönlich hatte ich den Eindruck damals, dass hier das >Ende der Geschichte < nachgespielt wird. Es sollte alles diskreditiert werden aus der SED, aus der DDR".

    Jede Partei durfte Sachverständige in die Kommission entsenden. Neben dem Kommunismus-Forscher Hermann Weber und dem SPD-Parteihistoriker Bernd Faulenbach zählte auch Karl Wilhelm Fricke dazu, selbst Opfer eines Stasi-Menschenraubs im Kalten Krieg und später Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln.
    Kampf gegen Legendenbildung
    Fricke analysierte vor der Kommission das Verhältnis zwischen SED und dem Ministerium für Staatssicherheit und räumte dabei mit einer Legendenbildung auf, die Hauptschuld beim MfS zu sehen, um von der eigentlichen Verantwortung der Vorgängerpartei der PDS abzulenken.
    "Siegfried Mampel hat ja den Begriff der Suprematie der SED geprägt, der, glaube ich, die Machtverhältnisse genau kennzeichnet, die nämlich so waren, dass der Staat für die SED Hauptinstrument war zur Durchsetzung ihrer Politik. Und das Recht, das sie dazu nutzte, nichts anderes war als der zum Gesetz erhobene Wille der Herrschenden, wobei ihre Gesetzlichkeit als Ausdruck historischer Gesetzesmäßigkeit gedeutet und begriffen wurde, um so eine gewisse Legitimation zu schaffen."
    Ein Besucher verfolgt in der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn (Sachsen-Anhalt) die Fernsehaufzeichnung der Pressekonferenz vom 09. November 1989.
    Günter Schabowskis legendäre Pressekonferenz vom 09. November 1989 - das folgenreichste Versehen der DDR-Geschichte. (dpa / Jens Wolf)
    Einzig Günter Schabowski leistete sich einen Anflug von Reue, während Hans Modrows kategorische Schuldabwehr die typischere Reaktion darstellte.
    "Es war verwirtschaftet, das ist der Punkt! Und man muss sich die Frage stellen, wenn man mit einem solchen Anspruch angetreten ist und hatte soviel Zeit… Wodurch ist es dazu gekommen …, dass wir so gestrandet sind. Die Frage muss man sich beantworten."
    "Das, was Herr Schabowski von sich gibt, kann ich nicht unterstützen, ich kann es nicht teilen. Wenn Sie wissen wollen, wie diese Prozesse damals abgelaufen sind, dann hat Herr Schabowski sich damals nicht so verhalten und nicht so gedacht. Denn Herr Schabowski hat uns auch, wenn es um die Wirtschaft geht… auf die Baustellen in Berlin geholt und hat die Bezirke sozusagen angemalt, dass sie in Berlin ihre Aufgabe nicht erfüllen. Uns stand das Wasser bis über die Ohren, und wenn der gute Günter heute so tut, als wäre es nicht gewesen. Er hat genau wie Herr Mittag darauf gedrungen, dass das aus den Bezirken nach Berlin kam."
    Abhängigkeit von Moskau als Entlastungsargument
    Ein weiterer Schwerpunkt bei der Aufarbeitung der Herrschaftsstrukturen war die Frage, wieviel Autonomie die SED gegenüber dem "Großen Bruder" in Moskau faktisch besaß. Nach dem Mauerfall wurde die angeblich totale Abhängigkeit des Ost-Berliner Regimes gerne als Entlastungsargument der Täter angeführt. Jörg Baberowski, Historiker und Osteuropa-Forscher an der Berliner Humboldt-Universität, bestreitet diese Sichtweise.
    "Was die außenpolitischen Möglichkeiten anbelangt, war die DDR eine Kreatur Moskaus, und hatte keine eigenen Möglichkeiten, viel zu entscheiden oder grundlegende Veränderungen in der Außenpolitik vorzunehmen. Was aber das Innere anbelangt, hatte die DDR sehr wohl Möglichkeiten, unabhängig zu agieren. Was wir immer wieder vergessen, dass Ulbricht sich weigerte, die Entstalinisierung in der DDR umzusetzen, mit dem Hinweis, das brauche man in der DDR nicht, denn dort habe es kein Jahr 1937 gegeben. Am Ende der DDR war es ja gerade so, dass die DDR sich weigerte, die Perestroika von Gorbatschow mit zu vollziehen. Da zeigte sich ja gerade ihre Eigenständigkeit".
    SED-Nachfolgepartei PDS versucht, moralische Verurteilung zu stoppen
    Am 31. Mai 1994 legte die Enquete-Kommission ihren ersten Bericht vor. Dabei konnte jede Fraktion Sondervoten abgeben, wovon vor allem die PDS Gebrauch machte. In der zweiten Kommission ging es inhaltlich nicht mehr um die Täter und die auswärtige Politik, die das Regime begünstigte, sondern um Opposition und Widerstand gegen das kommunistische Regime. Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Diktatur an der FU in Berlin:
    "Der Versöhnungsaspekt liegt da, dass die zahlreichen Opfer und Widerständigen in der DDR, dass ihnen Rechnung getragen wird, und dass diejenigen, die diese Diktatur zu verantworten haben, dass denen gesagt wird, dass sie dafür jetzt nicht strafrechtlich, sondern politisch-moralisch haften müssen".
    Aufarbeitung hieß also, die Opfer der SED-Diktatur zu Wort kommen zu lassen, damit jenen, die Unrecht in der alten DDR zu erdulden hatten, endlich Gerechtigkeit widerfuhr. Markus Meckel:
    "Das war dann ja ein wesentliches Thema in der zweiten Kommission. Und hier muss ich sagen, dass für uns ganz wesentliche Ergebnisse gelungen sind. Einmal haben wir nach der Situation der Opfer gefragt. Das heißt, es ging darum, wo muss für die Rehabilitierung, der Wiedergutmachung für die Opfer mehr geschehen".
    So zog sich die Arbeit der zweiten Kommission bis zum Oktober 1997 hin. Einer der Sachverständigen, Professor Manfred Wilke, hielt am Ende den wichtigsten Konsens fest:
    "Diese These von der zentralisierenden Verantwortung der Generalsekretäre und des Politbüros ist meine Aussage über die politische Ordnung der DDR. Und das ist die Aussage, die auch der Bundestag gefunden hat nach all seinen vielen Anhörungen und Expertisen: Die DDR war eine Diktatur als politische Ordnung. Und sie war von der Diktatur-Partei SED von Anfang an gewollt."
    Der schwierige Weg der PDS zum Demokratie-Bekenntnis
    Blick auf das Präsidium des Außerordentlichen Parteitages der SED-PDS am 16.12.1989 in Berlin. Neben dem Mikrofon steht die Glocke des Tagungsleiters, an diesem Tag war es der Dresdener Oberbürgermeister Berghofer.
    Blick auf das Präsidium des Außerordentlichen Parteitages der SED-PDS am 16.12.1989 in Berlin. Neben dem Mikrofon steht die Glocke des Tagungsleiters, an diesem Tag war es der Dresdener Oberbürgermeister Berghofer. (picture-alliance/ ZB / Peter Zimmermann)
    Auch Petra Pau will heute für die PDS den Diktatur-Befund nicht mehr in Zweifel ziehen:
    "Dort wurde nicht in Abrede gestellt, dass in der DDR eben keine Demokratie herrschte, dass es eine Diktatur war. Und es wurde auch nicht in Abrede gestellt, dass beispielsweise soziale Rechte und Freiheitsrechte gegeneinander aufgewogen wurden, und hierarchisiert wurden und dass das nie wieder vorkommen darf".
    Was sich bei der heutigen Vize-Präsidentin des Deutschen Bundestags sehr geläutert anhört, steht freilich konträr zu den Eindrücken ihres Parteifreundes André Brie über das, was sich in der PDS an internen Konflikten um die Enquete-Kommission abspielte:
    "Wir hatten innerhalb der Partei heftigste Auseinandersetzungen. Es gab eine unglaubliche Nostalgie, Fundamentalismus innerhalb der PDS gegen die Enquetekommission, gegen jede Kritik an der DDR. Selbst Kritik, zum Beispiel am Stalinismus war schwierig innerhalb der PDS zu Anfang. Noch schwieriger war natürlich, ein Bekenntnis zur Demokratie, zur Freiheit durchzusetzen".
    Ein historischer Auftrag, der fortgeschrieben werden muss
    So legte die Enquetekommission des Deutschen Bundestags zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit am 17. Juni 1998 ihren Schlussbericht vor. 31 Bände mit 36 -tausend Druckseiten dokumentieren die Arbeit der beiden Kommissionen über die Strukturen des Staates, den Widerstand im Alltag sowie die Opposition gegen das System. Da aber längst nicht alle Fragen bewältigt werden konnten, empfahl die Kommission die Einrichtung einer Bundesstiftung Aufarbeitung.
    "Unsere Stiftung ist das Vermächtnis aus den beiden Enquete-Kommissionen, das der Deutsche Bundestag als einziger Enquetekommission mit einem historischen Auftrag eingerichtet hatte," sagt Anna Kaminsky, Geschäftsführerin dieser Bundesstiftung, die ihre Arbeit im November 1998 aufnahm und dreißig Mitarbeiter beschäftigt. Sie initiiert Projekte, unterstützt und fördert sie finanziell, organisiert Veranstaltungen und Plakatausstellungen und leistet Zeitzeugenvermittlung im Verbund mit anderen Institutionen. Und inhaltlich sollte die SED-Diktatur dabei mehr in größere Zusammenhänge gestellt werden. Die Stiftung habe immer wieder den Finger in die Wunde gelegt, betont Anna Kaminsky:
    "… dass die Diktatur in der SBZ und DDR keine ostdeutsche Angelegenheit ist, sondern ein gesamtdeutsches Thema betrifft, dass es eine gesamteuropäische Dimension hat. Wir brauchen dringend die Einordnung der SED-Diktatur in das kommunistische Machtgefüge und die Geschichte des Kommunismus, denn es hat ja auch in der Weimarer Republik eine Kommunistische Partei in Deutschland gegeben, die ihren ganz eigenen Beitrag zum Untergang der Weimarer Demokratie geleistet hat".
    Das Verfahren gegen Honecker wird eingestellt, der Haftbefehl aufgehoben
    Doch anno 1992, dem Jahr der DDR-Aufarbeitung, wurde nicht nur die Enquete-Kommission in Gang gesetzt, auch ein besonders betrübliches Kapitel der Aufarbeitung fand in den sogenannten Politbüroprozessen ihren vorläufigen Höhepunkt. Hauptthema war hier die Klärung der Verantwortlichkeit für den Schießbefehl an der DDR-Grenze.
    Schwarz-weiß-Nahaufnahme von Egon Krenz, links im Bild und Erich Honecker, rechts im Bild, von der Seite, gucken nach links
    SED-Spitzenfunktionäre zu DDR-Zeiten: Staatsratsvorsitzender Erich Honecker (rechts) und sein Stellvertreter Egon Krenz (Mitte). (picture alliance / dpa / Chris Hoffmann)
    "Ich selbst beabsichtige natürlich, nach Deutschland zurückzukehren. Voraussetzung, das ist allerdings, dass dieser ungesetzliche Haftbefehl aufgehoben wird. Denn ich habe also nicht die Absicht, den Racheengeln mich zur Verfügung zu stellen".
    Erich Honecker, der frühere Staatsratsvorsitzende, musste im Juli 1992 auf diplomatischem Druck der Bundesregierung nach Deutschland zurückkehren, nachdem er nach abenteuerlicher Flucht für 233 Tage in der chilenischen Botschaft in Moskau untergetaucht war. Doch seine Krebserkrankung bewahrte ihn vor einer Verurteilung. So gab Justizsprecher Bruno Rautenberg vom Gericht in Berlin-Moabit im Januar 1993 bekannt:
    "Das Verfahren gegen den Angeklagten Erich Honecker in dem Prozess um die Todesfälle an der Mauer und der innerdeutschen Grenze wird auf Kosten der Landeskasse eingestellt. Der Haftbefehl gegen Herrn Honecker wird aufgehoben. Eine Haftentschädigung wird nicht gewährt, weil sich Herr Honecker durch Flucht ins Ausland dem Verfahren entzogen hat."
    Margot und Erich Honecker Anfang 1990 in Berlin
    Margot und Erich Honecker Anfang 1990 in Berlin. (picture alliance / dpa )
    Die juristisch fragwürdige Bilanz der Mauerschützen- und Politbüroprozesse: Von Günther Litfin im August 1961 bis zu Chris Gueffroy im Februar 1989 gab es 270 Mauertote. Über hunderte Anklagen gegen 246 Personen endeten mit 44 Freisprüchen, 61 Bewährungs- und nur zwei Gefängnisstrafen. Klaus Schroeder zieht eine negative Bilanz:
    "Die juristische Aufarbeitung ist gescheitert. Sie musste scheitern, weil der Einigungsvertag festgelegt hat, dass auf Grundlage des DDR-Rechts verhandelt werden müsse. Die Gerichte haben das zum Teil mit Rückgriff auf internationale Rechtsvorschriften oder auf die Radbruch-Formel versucht zu umgehen, so dass es wenigstens zumindest bei den Gewalttaten an der Grenze zu einigen Verurteilungen kam".
    Wertvolle Zeit bei der Strafverfolgung verloren
    Die letzten Urteile in Politbüroprozessen wurden schließlich 1997 verhängt:
    "Wegen der Todesschüsse an der Mauer erhielt der frühere Staats- und Parteichef Krenz eine Freiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren. Er wurde sofort im Gerichtssaal verhaftet. Die beiden Mitangeklagten Schabowski und Kleiber wurden zu jeweils drei Jahren Haft verurteilt. Damit blieb das Gericht deutlich unter den Forderungen der Staatsanwaltschaft."
    " Wir hatten ja gedacht, nachdem die Aufarbeitung des NS ziemlich schiefgelaufen war, dass wir aus diesen Erfahrungen lernten und es besser machen würden, d.h. die Opfer besser entschädigen, dafür Sorge tragen, dass nicht wieder alte Kader in Positionen kommen und vor allem die Verantwortlichen für Verbrechen vor Gericht gestellt werden. Das alles ist uns leider bei der SED-Diktatur auch nicht gelungen, jedenfalls zum größten Teil".
    Dies das ernüchternde Fazit von Hubertus Knabe, dem Leiter der Gedenkstätte Berlin- Hohenschönhausen. Im Chaos nach der deutschen Einheit hat es keine übergeordnete Ermittlungsbehörde gegeben. Dadurch verzögerten sich die Verfahren. Der Zeitverlust bei der Strafverfolgung habe dabei wie eine Amnestie gewirkt. Damit schien sich zu bewahrheiten, was die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley schon im Jahre 1991 befürchtet hatte:
    "Unser Problem war ja nicht, den westlichen Rechtsstaat zu übernehmen. Unser Problem war, dass wir Gerechtigkeit wollten. Aber es sieht ja so aus, als wenn diese Gerechtigkeit lange noch auf sich warten lässt. Und ich weiß auch nicht, ob das Recht selber, das westliche Recht das überhaupt leisten kann".
    Die wackelige Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde
    Immerhin trat mit Beginn des Jahres 1992 das Stasiunterlagengesetz in Kraft, das den Opfern Einsicht in ihre MfS-Spitzelakten gewährte. Heute wird die Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde immer mehr in Frage gestellt. Und das passt leider auch zu dem Befund, dass die DDR-Forschung in Stagnation begriffen ist. Dafür sieht der Historiker Jörg Baberowski drei gewichtige Gründe:
    "Also erst einmal hat das damit zu tun, dass die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit immer im Schatten der Aufarbeitung der anderen Diktatur steht. Das Zweite ist, dass die Zahl der Dissidenten und der Widerständler nicht besonders groß war. Und das dritte ist, das merken wir auch bei dem Stipendien-Programm, dass das Interesse an der DDR-Geschichte nachlässt. Es ist einfach zu sehen, dass hier eine Historisierung vor sich geht, dass Menschen, jedenfalls jüngere Menschen nicht mehr persönlich von irgendetwas betroffen sind, sondern die DDR als einen historischen Gegenstand sehen. Als historischer Gegenstand ist die DDR aber viel uninteressanter als die Bundesrepublik Deutschland".
    Kampf gegen das Vergessen eines Unrechtsregimes
    Eine Besuchergruppe schaut sich in der Stasigefängnis-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen einen Transportwagen für Gefangene an.
    Eine Besuchergruppe schaut sich in der Stasigefängnis-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen einen Transportwagen für Gefangene an. (dpa/ picture alliance / Maurizio Gambarini)
    Ein bedrückender Befund für die Opfer und früheren Dissidenten. Doch für die Unverdrossenen geht die Arbeit an der Aufarbeitung weiter. Folgedebatten stehen an, für die Bundestiftung Aufarbeitung wie für die Gedenkstätte in Hohenschönhausen. Zum Beispiel: War die DDR ein Sozialstaat, wie häufig von ihren ehernen Verteidigern behauptet? Wie stark war die Rolle der Ex-Nazis in der DDR? Welche weiteren Verstrickungen gab es in den deutsch-deutschen Beziehungen? Und eine sehr aktuelle Frage: Was hat die besonders im Osten Deutschlands starke Protestbewegung Pegida als mögliche Spätfolge mit der DDR zu tun?
    Publizist Karl Wilhelm Fricke über die Enquête-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Vergangenheit:

    Die Geschichte und die Folgen der SED-Diktatur in Deutschland politisch aufzuarbeiten, das war der Anspruch, dem sich der Bundestag bei der Gründung der Enquête-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" verpflichtet sah. Und es war auch der Anspruch, dem sich der Journalist Karl Wilhelm Fricke in seiner publizistischen Tätigkeit verschrieben hatte. Im Interview spricht er über die Rolle der Enquête-Kommission für eine Vergangenheitsbewältigung, die auf Aufklärung und nicht auf Denunzierung gesetzt hat.
    Dass der Publizist Karl Wilhelm Fricke untrennbar mit der Aufklärung der DDR-Vergangenheit verbunden ist, liegt nicht zuletzt in seiner persönlichen Betroffenheit. 1955 wurde Fricke von einem Agentenpaar betäubt und nach Ost-Berlin entführt. Über Monate wurde er von der Staatssicherheit verhört und zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Wieder in Freiheit, setzte er ab den 1960er-Jahren seine Arbeit im Westen fort. Im Mittelpunkt standen dabei stets der SED-Staat, seine Repressionsmechanismen und eine leidenschaftliche Öffentlichkeitsarbeit für die aktive Aufarbeitung der Vergangenheit.
    Auf dem Weg zur inneren Einigung Deutschlands, sollte der Enquête-Kommission besondere Bedeutung zukommen. Sie sollte allerdings die notwendige historische Forschung weder vorwegnehmen noch ersetzen. Vielmehr ging es um einen transparenten Dialog mit der Öffentlichkeit, der zur Weiterentwicklung einer gemeinsamen politischen Kultur in Deutschland beitragen sollte. Im Fokus standen die zivilgesellschaftlichen Mittel, mit der DDR-Vergangenheit aufzuräumen. Der Anspruch der Kommission war historische Aufklärung, nicht strafrechtliche Sanktionierung.
    Fricke war langjähriger Leiter der Ost-West-Abteilung im Deutschlandfunk und stellvertretender Chefredakteur. Nach der Wiedervereinigung war Fricke als Sachverständiger zweier Enquête-Kommissionen des Bundestages tätig, die zum einen die Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland (1992-1994) und zum anderen die Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit (1995-1998) behandelten. Für seine Aufklärungsarbeit über die SED-Diktatur wurde ihm von der Freien Universität Berlin die Ehrendoktorwürde verliehen. Im Interview spricht Fricke über seine Tätigkeit in den Enquête-Kommissionen und darüber, welche Rolle sie für die Vergangenheitsbewältigung einer zweifach traumatisierten Gesellschaft spielten. Die Fehler, die bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gemacht wurden, galt es - betont Fricke im Interview - unbedingt zu vermeiden.