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DDR-Musikgeschichte
Die Orgel als Teil einer "Arbeiterkultur"

Die Orgelmusik erlebte in den 1970er und 80er-Jahren in der DDR einen gewaltigen Aufschwung. Dass dadurch immer mehr Menschen Kirchen besuchten, war der SED ein Dorn im Auge. Die Parteiführung ließ daraufhin vorhandene und geplante Konzertsäle des Landes mit großen Orgeln ausstatten.

Von Claus Fischer | 14.10.2019
    Blick auf die Schuke-Orgel im Großen Saal des Leipziger Gewandhauses, aufgenommen 1981. Die Orgel ist mit 6638 Pfeifen ausgestattet.
    Blick auf die Schuke-Orgel im Großen Saal des Leipziger Gewandhauses, aufgenommen 1981. (dpa / Waltraud Grubitzsch )
    Am Anfang stand in gewisser Weise auch die Orgel. Denn eines der ersten Musikereignisse in der jungen DDR war das große Bachfest in Leipzig zum 200. Todestag des Komponisten. Thomaskantor Günter Ramin wurde damals mit dem Nationalpreis geehrt. Vierzehn Jahre zuvor hatte er in Nürnberg die sogenannte "Reichsparteitagsorgel" eingeweiht, ein weltliches Instrument im Dienst der NS-Propaganda. Vielleicht war dieser Missbrauch der Orgel ein Grund dafür, dass die Kulturverantwortlichen der DDR nach dem denkwürdigen Leipziger Bachfest erstmal keinerlei Interesse an diesem Instrument zeigten, ja sogar Konzerte in Kirchen unterbanden, sagt Orgelbauer und Orgelforscher Markus Voigt aus Bad Liebenwerda.
    Schwierige Zeiten für die Orgelmusik
    "Es wurde zunächst nach 45 ja eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat proklamiert und auch versucht durchzusetzen. Und erst mit dem Tod Stalins hat sich das Ganze ja wieder etwas gewandelt. Aber bis in die 60er Jahre war es sehr schwierig auch für die Kultur im Raum der Kirchen und für Orgelmusik."
    Doch das Bedürfnis danach wurde im Laufe der Jahre stetig größer, je mehr neue Orgeln in den Kirchen der DDR gebaut wurden. Markus Voigt hat im Zuge seiner Forschungen u.a. herausgefunden, dass bei der Einweihung des neuen Instruments in der Marktkirche in Halle an der Saale mehrere hundert Meter lange Schlangen vor der Kirche zu beobachten waren.
    "Anfang der 70er Jahre entstand praktisch ein Vakuum im spirituellen Bereich für die Menschen."
    Und etliche von ihnen kamen beim Besuch eines Orgelkonzerts in einen Zwiespalt, sagt Markus Voigt, zwischen Anpassung an den Staat und "musikalischer Erhebung".
    "Es gab ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein SED-Mitglied nichts in einer Kirche zu suchen hatte."
    So beschloss die Parteiführung, die vorhandenen und geplanten Konzertsäle des Landes, mit großen Orgeln auszustatten.
    "Sie ist praktisch in den Zwang gekommen, nachdem wirklich die Menschen in die Kirchen strömten und also normale Orgelkonzerte ständig voll besetzt und ausverkauft waren, nicht nur in den Großstädten, sondern auch in kleineren Städten."
    Neue Orgelbewegung
    September 1971. Im Kulturpalast in Dresden wird die bis dahin größte Profanorgel in der DDR eingeweiht. Der Komponist Rainer Kunad hat für den Anlass ein neues Werk geschaffen, ein Konzert für Orgel, Pauken und zwei Streichorchester. Die Dresdner Philharmonie wurde von ihrem damaligen Chefdirigenten Kurt Masur geleitet und Kreuzorganist Herbert Collum saß an der neuen Orgel.
    "Sie hat kulturpolitisch eine gewisse Bedeutung dadurch erlangt, dass sie eine Orgelbewegung ausgelöst hat", sagte Frank-Harald Gress, Professor für Unterhaltungsmusik an der Dresdner Musikhochschule, 1981 im DDR-Rundfunk.
    "Auf der Basis der entwickelten "Arbeiterkultur", wenn ich es mal so pauschal benennen darf, ist in jeder Bezirkshauptstadt eine Konzerthalle entstanden, die fast alle nachher auch Orgeln bekommen haben", sagt Orgelbauer und Orgelforscher Markus Voigt, der bislang als einziger dieses unbekannte Kapitel DDR-Musikgeschichte aufgearbeitet hat.
    "Es gab zu dieser Zeit einen regelrechten Boom auch an neuen Kompositionen für die Orgel und vor allem – was einzigartig auch im europäischen Raum ist: Zahlreiche neue Kompositionen für Orgel, Orchester und für Orgel und andere Instrumente."
    Diese Werke sind zum größten Teil in der Schublade verschwunden. Und das wahrscheinlich meist nicht einmal aus politischen Gründen, sondern aufgrund der schwer zu realisierenden großen Besetzungen. Auf diesem Feld dürfte also noch Einiges wieder zu entdecken sein.
    Repräsentative Orgel im Gewandhaus
    Kurt Masur, der 1971 als Chef der Dresdner Philharmonie die Orgel im Kulturpalast mit eingeweiht hatte, ist es entscheidend zu verdanken, dass zehn Jahre später der einzige Konzertsaalneubau von Weltrang in der DDR eröffnet werden konnte, das Leipziger Gewandhaus. Selbstverständlich bekam es eine repräsentative Orgel, die größte weltliche Orgel des Landes, erbaut von der Potsdamer Firma Alexander Schuke, mit hypermoderner Technologie. Steffen Lieberwirth, damals Dramaturg am Haus, besitzt eine echte Reliquie. Ein Stück sehr dünnes Kunststoffkabel, ummantelt von einer Schutzschicht aus orangenem Kunststoff. Mit diesem Kabel hat man die Verbindung vom Orgelwerk oben auf der Chorempore zum Spieltisch auf der Bühne überbrückt.
    "Das ist eine Technologie, die stand auf der Embargo-Liste für die DDR, weil nämlich dieses Verfahren von der NASA für die Weltraumforschung entwickelt worden war! Und die Lieferung dieser Technologie war verboten."
    Gelöst wurde das Problem durch einen westdeutschen Politiker, den damaligen Bundeswirtschaftsminister Martin Bangemann.
    Das war ein großer Gewandhausfreund. Er hat das Gewandhausorchester geliebt, war in vielen Konzerten da, und hat sich stark gemacht, dass für diesen friedlichen Zweck diese Weltraumtechnologie eingesetzt werden durfte. Und seitdem heißt dieses Kabel das "Bangemann-Kabel".
    Logischerweise entsprechend stolz äußerste sich Gewandhauskapellmeister Kurt Masur 1981 bei der Einweihung von Haus und Instrument.
    "Sie können sich vorstellen: eine Orgel mit 89 Registern und der elektronischen Möglichkeit der Relais-Registrierung – da kann Eisenberg, der jetzt 25 Jahre ist, unser junger Gewandhausorganist sein ganzes Leben lang dran spielen ohne jemals die Möglichkeiten der Orgel voll ausgeschöpft zu haben".
    Doch - Ironie der Geschichte - nur vier Jahre nach der Einweihung der Orgel flüchtete der von Masur erwähnte Gewandhausorganist Matthias Eisenberg in die Bundesrepublik. Im Berliner RIAS sagte er damals: "Mein Wegbleiben ist die Summe von Verärgerung, auch von Entwürdigung, auch von Entmenschlichung."
    Nach Matthias Eisenberg sollten noch viele frustrierte Menschen die DDR verlassen, bis sie 1989 ihr Ende fand. Zu Ihrem Erbe gehören die rund 10 weitgehend im Originalzustand erhaltenen Profanorgeln für Konzertsäle. Die 1971 für den Dresdner Kulturpalast erbaute Orgel wurde allerdings inzwischen sozusagen "getauft". Nach der Sanierung bekam der Saal nämlich ein neues Instrument. Und das alte wanderte in die katholische Hauptkirche der Stadt Cottbus in Brandenburg.