Donnerstag, 18. April 2024

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DDR-Roman
Die Revolution im Kopf, den Unterleib im System

Mit seinem Debütroman "Die Lüge" erzählt Uwe Kolbe die Geschichte eines jungen Künstlers in der DDR, der sich an seinem Vater, einem hochrangigen Stasi-Offizier abarbeitet. Ein wuchtiges, ausuferndes Werk, mit dem sich der Autor möglicherweise zu viel vorgenommen hat, dessen irrwitzige Geschichte aber wunderbar unterhält.

Von Gisa Funck | 03.06.2014
    "Der Frühling kam. Es wurde Sommer (...) Mittendrin ein Termin im Roten Rathaus. (...) Meine Hände waren feucht. Ich wollte das loswerden, wollte da nicht stehen, wollte da heraus. (...) „Ich muss Ihnen, bevor wir hier so weitermachen, etwas sagen", hob ich an. „Ich kann das nicht."
    „Was können Sie nicht?", fragte Hauptmann Lehmann aus dem Halbdunkel des Raums.
    „Ich kann nicht irgendwo (...) hingehen in Ihrem Auftrag. Ich kann nicht (....) meine Leute treffen, bekannt werden mit anderen, die mich wirklich interessieren, mit Musikern, Schriftstellern, die ich verehre, deren Arbeit mich angeht, mich da anwanzen und sie aushorchen. Ich bringe das mit dem Vorsatz nicht. Ich kann nicht lügen."
    Am Anfang von Uwe Kolbes Roman "Die Lüge" sind die Fronten noch klar. Da weiß der junge, aufstrebende Komponist Hadubrand Einzweck, genannt "Harry", noch ganz genau, was er mit seinem Gewissen vereinbaren kann – und was nicht. Wer seine Freunde sind – und wer seine Feinde. Und dass er unter keinen Umständen für die Stasi Künstler ausspionieren möchte. Doch dann werden die Dinge schon deshalb schnell komplizierter, weil Harrys Vater ein hochrangiger Stasi-Offizier ist. Der Feind also in der eigenen Familie lauert. Nicht zufällig trägt dieser Vater – wie schon sein Sohn – einen höchst symbolträchtigen Namen. Er heißt nämlich Hildebrand. So wie jener rachsüchtige Vater aus dem althochdeutschen Hildebrandslied. Oder wie Autor Uwe Kolbe erklärt:
    "Die Namen sind ja sehr hausbacken-alt, Hadubrand und Hildebrand, also die Namen, die wir aus dem Hildebrandslied kennen und wo sich eben Vater und Sohn an der Spitze feindlicher Heere gegenüberstehen. Sie stehen einander feindlich gegenüber und es ist offensichtlich ein Verhängnis. Diese Figuren kommen eigentlich nicht voneinander los. Die müssen irgendwie aufeinander zugehen wie Antipoden, wie ein Elektron und ein Positron, ein positives und ein negatives Zeichen müssen die zueinander. Und es ist schon merkwürdig, wie sie im Verlaufe des Geschehens mit geringem Abstand sozusagen verschmelzen."
    Bei etwas genauerem Hinsehen erzählt "Die Lüge" eigentlich eine altbekannte Geschichte, wie man sie etwa auch schon aus dem "Doktor Faustus" von Thomas Mann her kennt oder aus Klaus Manns Roman "Mephisto": Die Geschichte nämlich vom unheilvollen Teufelspakt eines Künstlers mit der Macht. Ganz anders als die mit den Nazis paktierenden Künstlerfiguren dieser beiden Romane aber schliddert Kolbes junger DDR-Komponist Harry Einzweck ungewollt und geradezu unbewusst in die Rolle des Kollaborateurs hinein. Weil er sich dem Einfluss seines Stasi-Vaters trotz aller Streits einfach nicht entziehen kann. Nach außen hin gibt Harry da zwar den rebellischen Künstler und vertont etwa die Sozialistenhymne "Brüder zur Sonne!" quietschend-krachig, um zu zeigen, dass auch im real existierenden Sozialismus längst nicht alles läuft wie geschmiert. Doch das ist letztlich nur Pose. Andererseits nämlich erhebt der Musiker schon bald keinen Einspruch mehr dagegen, vom Regime gefördert zu werden. Und regt sich auch zunehmend weniger darüber auf, dass ausgerechnet sein Vater Hildebrand als Kulturfunktionär schützend die Hand über ihn hält:
    "Er lebt auf eine Art und Weise vor sich hin, ja, die habe ich in einem ursprünglichen Titel für das Buch "Indolenz" genannt. Also eine unangenehme Gleichgültigkeit eigentlich, die bis hin zur Denkfaulheit geht, ja. Sich gar nicht klarmachen, was man da eigentlich tut und deswegen heißt das Ganze nun auch "Die Lüge". Weil es auch wirklich darum geht, eigentlich Ross und Reiter zu nennen. Das geschieht aber nie. Die hier hauptsächlich Handelnden haben sozusagen sich auf irgendeine Art ganz schön eingerichtet."
    Revolutionäre aus Establishment-Familien
    Der 1957 in Ostberlin geborene Lyriker und Essayist Uwe Kolbe hat sich in seinem ersten Roman zwar viel Mühe gegeben, Orte und Namen zu verfremden. Dennoch sind die Ähnlichkeiten zwischen ihm und dem jungen Komponisten Harry Einzweck unübersehbar. War doch auch Kolbes leiblicher Vater ein Stasi-Offizier. Wurde auch er wie sein Romanheld Harry einst als Wunderkind gefeiert. Und fand auch er im renommierten Schriftsteller Franz Fühmann früh einen wichtigen Förderer, so wie Harry im Buch in dem älteren Starkomponisten Sebastian Kreisler. Im Gegensatz zu seinem, sich immer mehr mit den Verhältnissen arrangierenden Helden aber geriet Kolbe tatsächlich ernsthaft mit dem SED-Regime in Konflikt. Er konnte jahrelang nicht publizieren und reiste 1987 schließlich aus der DDR aus. "Die Lüge" möchte er darum nicht als autobiografische Lebensbeichte verstanden wissen, sondern als satirische Polit-Parabel:
    "Insbesondere DDR, diese drei Buchstaben kommen ja im Buch nicht vor. Da ist die Rede von einer "Gegend", von einem Stadtteil namens "Nordost". Da sind wir nicht da, wo die abgegriffenen Vokabeln sind, hoffe ich jedenfalls. Davon wollte ich weg. Ich habe ja ein wenig mich Orwell'scher Techniken befleißigt. Also, ein bisschen Newspeek auch drin, indem ich diese Dinge immer ein bisschen anders benenne, als sie in der Wirklichkeit denn so benannt worden wären. Die Partei kommt als "Einheitspartei" vor. Wesentliche Plätze heißen "Zentralplatz" oder "Zentralhaus". Das ist eine sehr, sehr bewusste – wie soll ich sagen? - Sprachhygiene. Um von diesem geläufigeren Vokabular wegzukommen zu einer Geschichte, die allgemeingültiger ist."
    Obwohl Kolbe es nicht beabsichtigt hat, haben Kritiker seinen Roman nun aber doch bereits als Schlüsselroman über die Prenzlauer-Berg-Boheme der späten 70er bis hinein ins Jahr 1984 gelesen. Woran der Autor allerdings selbst nicht ganz unschuldig ist. Lässt er die Künstlerfiguren in "Die Lüge" doch mal dechiffriert, mal mit Klarnamen auftreten. Robert Havemann und Adolf Endler kommen hier etwa mit ihrem richtigen Namen vor. Der ausgebürgerte Wolf Biermann hingegen taucht als Liedermacher "Riebmann" auf, Peter Weiß als "Paul Schwarz", und Theatermann Heiner Müller als "Heiner Alt". Und bei all' diesen Verfremdungen, so beteuert Kolbe nun, sei es ihm einzig darum gegangen, die Geschichte aus ihrem historischen Kontext zu lösen. Um anhand von Harrys Fall beispielhaft zu zeigen, wie undurchdringlich Kunst und Politik gerade in kleinen Diktaturen wie der DDR miteinander verstrickt seien. Nicht zuletzt ganz einfach deshalb, weil viele Künstler in dem 16-Millionen-direkt mit der politischen Chefetage verwandt oder verschwägert waren:
    "Denken Sie mal daran, wo war Thomas Brasch einen Tag, bevor er mit Katharina Thalbach zusammen ausreiste, ja? Wo war er da? Bei Erich Honecker zur Audienz! Und das spricht ja etwas. Einer, der ausreist mit großem Krach. Und wo wird er empfangen? Bei Hofe! Und warum? Weil er familiär versippt ist mit der Macht, ja. Mit wem ist denn Wolf Biermann verwandt und verschwägert, ohne ihm an den Karren fahren zu wollen?! Aber diese Form von Verstrickung. Das teilen so kleine, überschaubare Systeme, kleine Diktaturen."
    Mag sein: Die "Lüge" ist ein wuchtiger, ausufernder, vielleicht etwas arg verklausulierter und mitunter symbolisch überfrachteter Roman. Wie so viele Debütanten wollte auch Uwe Kolbe mit seinem ersten Roman sehr viel. Vielleicht zu viel. Nichtsdestoweniger aber verfolgt man seine irrwitzige Geschichte eines verhängnisvollen Vater-Sohn-Konflikts in der DDR gebannt. Denn in demselben Maße, wie sich beide Figuren zunächst als Genossen spinnefeind gegenüberstehen, nähern sie sich doch nach und nach als Frauen-Verschlinger und Machos an. Ja, in ihrem sexuellen Heißhunger sind sich Stasi-Vater und Rebellensohn schließlich sogar so ähnlich, dass der Sohn am Ende die abgelegten Liebhaberinneren seines Vaters übernimmt. So triumphiert in Kolbes bitterböser Groteske nicht die Ideologie, sondern die Genetik. Und findet der von Harry so oft propagierte Widerstand lediglich im Kopf statt, während sich sein Unterleib sozusagen bestens im System vergnügt.
    Harrys "Lüge" ist somit keine des vorsätzlichen Verrats an eigenen Idealen, sondern eine aus verantwortungsloser Genusssucht und Bequemlichkeit. Und kein Wunder, dass bei so viel sozialistisch getarntem Hedonismus der reinigende Generationskonflikt schließlich glatt ausfallen muss. Zumindest schafft es der letztlich visionslose Künstlersohn trotz aller Beteuerungen nicht, sich von seinem superpotenten, übermächtigen und bis zuletzt linientreuen Stasi-Vater abzunabeln. Kolbe findet dafür am Ende ein überaus drastisches Bild. Nach Hildebrands Tod übernimmt Harry nämlich nicht nur dessen Frau. Er adoptiert auch noch deren ungeborenes und wahrscheinlich noch vom Vater gezeugtes Kind.
    Was für eine geradezu antik anmutende Tragödie! Und komisch: Mit dieser Pointe eines Generationskonflikts, der wegen Behäbigkeit ausfällt, wirkt Kolbes DDR-Roman dann plötzlich gar nicht mehr so weit weg. Schließlich streiten sich auch in unserer politikmüden Gegenwartsgesellschaft die Generationen bekanntlich nur noch selten. Und wenn überhaupt, dann oft genug nur noch über Konsumfragen.
    Uwe Kolbe: Die Lüge.
    Roman. S. Fischer Verlag. FaM 2014, 384 Seiten, 21.99 Euro