Das Gewicht des ersten Satzes

Wie Romane anfangen sollten

29:43 Minuten
Fotografie eines aufgeschlagenen Buches.
Oft entscheidet der erste Satz, ob man weiterliest oder nicht. © picture alliance / PhotoAlto / Michele Constantini
Von Sieglinde Geisel · 03.01.2020
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Ob Karl May oder James Joyce: Beim ersten Satz eines Romans entscheidet sich, ob der Leser dran bleibt. Doch worauf kommt es bei diesen Sätzen an - und wie entstehen sie? Schriftsteller und Leser über einladende und verstörende Roman-Anfänge.
"Es war spätabends, als Josef K. ankam." (Franz Kafka)
"Es war Samstagmorgen und Herr Taschenbier saß im Zimmer und wartete." (Paul Maar)
Der erste Satz. Mit ihm empfängt jeder Roman seinen Leser.
"Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein alleinstehender Mann, der ein beträchtliches Vermögen besitzt, einer Frau bedarf." (Jane Austen)
"Es ist nicht allgemein bekannt, wie ich den alten Phillip Mathers umgebracht habe; ich zerschmetterte ihm die Kinnlade mit meinem Spaten." (Flann O'Brien)
Mit dem ersten Satz gibt sich der Autor zu erkennen: Er verrät, was er von uns als Lesern erwartet, ob wir es uns zum Beispiel im Lehnsessel gemütlich machen dürfen:
"Es ist süß, krank zu sein, wenn draußen der sanfte Schnee fällt und der Winterwind wie ein verfrorener Bäckerjunge durch die Straßen trabt." (Klabund)
"Am Rand der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter verwahrloster Garten. In dem Garten stand ein altes Haus, und in dem Haus wohnte Pippi Langstrumpf." (Astrid Lindgren)
Manchmal erfährt man gleich im ersten Satz, mit wem man es zu tun hat:
"Ich bin jung, reich und gebildet. Und ich bin unglücklich, neurotisch und allein." (Fritz Zorn)
Oder mit wem man es angeblich gerade nicht zu tun hat:
"Ich bin nicht Stiller!" (Max Frisch)
Manche Autoren sprechen uns direkt an:
"Lieber Leser, weißt du, was das Wort Greenhorn bedeutet?" (Karl May)
Andere verwirren uns:
"Wo nun? Wann nun? Wer nun?" (Samuel Beckett)
Es gibt erste Sätze, die uns einen kleinen Schrecken einjagen:
"Irgendwo in der Tiefe des Hauses Nr. 6 in der Mendelejew-Straße fiel gegen zwei Uhr nachts ein Schuss." (Vladimir Tendrjakow)
... oder auch einen großen:
"Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer! Ihr Ungeheuer mit Namen Hans!" (Ingeborg Bachmann)

Der erste Satz im Roman als Wissenschaft für sich

Ursula Krechel: "Der erste Satz kommt nicht am Anfang. Ich beginne meistens mit einem Nukleus zu schreiben, mit einem Stück, was mir leicht fällt, was vielleicht im ersten Drittel des Romans vorkommt."
Heinz Helle: "Ich weiß auch genau, wo er mir eingefallen ist, das war im Café Saint Chavez in Biel, es war morgens, aber ich habe keine Ahnung, warum. Ich glaube, ich hatte ein bisschen zu kämpfen gehabt, mich loszureißen um zu schreiben. Und dann saß ich endlich an diesem Tisch in diesem Café und hab noch, bevor ich bestellt habe, das ins Notizbuch gekritzelt, eine erste Fassung dieses Anfangskapitels, und da stand dieser Satz schon, ganz am Anfang, genauso, wie er da jetzt ist."
Der erste Satz ist mehr als nur ein Satz. Mit dem ersten Satz sagt ein Autor: Es werde Licht! Wenn wir weiterlesen, befinden wir uns in seiner Hand, in einer Welt, die er geschaffen hat.
Erst in den letzten Jahrzehnten hat sich die Literaturwissenschaft dem Rätsel des ersten Satzes zugewendet. Norbert Millers Sammelband "Romananfänge" aus dem Jahr 1965 gilt immer noch als eine der wichtigsten Untersuchungen zum Thema. Der erste Satz schaffe eine Tabula-rasa-Situation, so Miller in der Einleitung.
"Versuch zu einer Poetik des Romans", so lautet der Untertitel von Norbert Millers Sammelband. Der Anfang öffnet nicht nur die Tür in den Roman, er verrät auch etwas über seine Machart. Dies gilt nicht nur für den Kanon der Weltliteratur. Auf die Kunst der Romananfänge von Karl May hatte bereits der Philosoph Ernst Bloch hingewiesen.
"Immer, wenn ich an den Indianer denke, fällt mir der Türke ein."
So beginnt Winnetou I. Schon in diesem Satz formuliere Karl May sein kulturpolitisches Anliegen, so der Germanist Gerhard Neumann in einem Aufsatz. Auf genial verkürzte Weise führt Karl May die beiden Weltgegenden zusammen, die er in seinen Abenteuerromanen neu erfunden hat.

"Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin"

Der Beginn eines Romans hat mit dem Beginn des Schreibens also nicht unbedingt etwas zu tun. Manchmal stellt sich der erlösende erste Satz sogar erst zum Schluss ein. So ist es dem jungen Autor Heinz Helle bei seinem ersten Roman ergangen.
Heinz Helle: "Ich war in einer Phase der Arbeit, das Manuskript hatte schon den Umfang, den es jetzt hat, und das Material war da, aber mir fehlte noch der Blick darauf, von dem aus ich es sinnvoll anordnen konnte, und in dieser Phase der Arbeit habe ich große Mühe gehabt, Abstand zu gewinnen, und dieser Satz hat genau das gemacht."
"Über allem der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin."
Heinz Helle: "Das mit dem Abstandnehmen habe ich eigentlich wörtlich genommen: Ich habe die Figur in ein Flugzeug gesetzt, auf den Weg zu dem Ort, wo der Roman spielt."
"Über allem der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin. Grönland ist grau. Wie viel Orangensaft passt wohl in einen Airbus A 310? Die Anziehungskraft der Flugbegleiterinnen muss mit der Erdferne zusammenhängen, in der sie bedienen. Mit der verdrängten Todesnähe. Luft und Lachen aus Plastik."
Heinz Helle: "Dieser Satz enthält schon den Klang, der nachher entscheidend ist und enthält auch schon die Widersprüche der Figur und dann hatte ich das Gefühl, ja, so kann das gehen."

Zentrale Aussage am Anfang

Autorin Ursula Krechel: "Bei mir ist es eben so, dass ich einfach viel montiere, also einzelne Stücke habe, und davon rutscht eines dann an den Anfang. Es kann sozusagen aus dem Ton, nach einem halben Jahr schreiben, der Notenschlüssel gefunden werden. So ist es bei mir häufiger. So dass ich aus dem Erarbeiteten merke, das könnte am Anfang stehen."
"Was ist Tausig für ein Mensch?" Mit dieser Frage beginnt Ursula Krechels Roman "Shanghai, fern von wo". Er handelt vom prekären Überleben von Juden, denen es gelungen war, vor den Nationalsozialisten ins ferne China zu flüchten.
Ursula Krechel: "Bei "Shanghai" wollte ich zunächst mit dem Kapitel über Lazarus beginnen, da wäre der erste Satz gewesen: "Ich bin ein unsicherer Erzähler." Und das hätte mir sehr gut gefallen, weil es erweist sich im Buch, dass er das ist, und dann merkte ich, das funktioniert nicht gut, ich bin vom ersten Satz sehr schnell im Konzentrationslager, das wollte ich eher im Buch an einer späteren Stelle haben, und so ist es der Satz: 'Was ist Tausig für ein Mensch' geworden."
"Was ist Tausig für ein Mensch? Man muss ihn von weither holen, und wenn man das getan hat, muss man die Frage stellen: Kann man ihn verpflanzen? Kann man sich ihn verpflanzt vorstellen?"
Ursula Krechel: "Ich fand es auch interessanter, nicht mit dem Erzähler zu beginnen, sondern mit einer Person, die im Buch ihrer Menschlichkeit beraubt wird und verschwindet. Tausig stirbt im Buch. Und die Frage einfach: 'Was ist Tausig für ein Mensch', heißt: Es ist vollkommen egal, was für ein Mensch er ist. Es interessiert keinen Menschen mehr. Er wird entrechtet, er wird seines Berufes beraubt, er wird seiner Heimat beraubt."
Somit enthält der erste Satz bereits eine zentrale Aussage des Romans. Es gibt von Ursula Krechel jedoch auch erste Sätze, die nie jemand zu Gesicht bekommt.
Ursula Krechel: "Ich habe auch schon wunderbare erste Sätze mir aufgeschrieben, die großartig waren, zu denen aber dann eben der Text fehlte, die dann eben sich vielleicht wie eine Art von Wall aufgestellt haben, so dass dahinter nur noch, wie bei Kafkas Türhüter, Leere kommen konnte. Einer beginnt: 'Die Frau des Trinkers - zum Weinhändler übergelaufen.' Und es war von Anfang an klar: Das ist nicht schreibbar, das ist sozusagen der ganze Roman eigentlich, es kondensiert sich darin, ich kann diesen Satz nicht mehr verflüssigen. Es ist ein klassischer Erzählsatz, der eben danach die Tür wieder zuschlägt. Die Tür muss offen sein zum Erzählen."

Beginn in medias res

"Mein Penis ist schon wieder steif. Das war es. Genau das musste jetzt gesagt werden. Ich bin erledigt."
Matthias Sachau: "Das war mein erstes Buch, und mein Lektor hat mir deutlich gesagt, nein, wir müssen anders anfangen, das ist ihnen zu heftig, und sie haben Angst, da Leser zu verprellen, und ich hatte das auch wirklich dann schon akzeptiert und war auf der Suche nach einem anderen Einstieg, als er mich dann nochmal anrief und sagte, sie haben jetzt noch einmal überlegt und wollen jetzt den ersten Satz doch so haben. Was auch immer mit mir passiert als Autor, ich kann, das wird mir keiner mehr nehmen, immer von mir sagen: Mein allererstes Buch beginnt mit dem Satz, 'Mein Penis ist schon wieder steif'."
"Schief gewickelt" lautet der Titel des ersten Buchs von Matthias Sachau. Im nächsten Absatz wird klar, dass der Satz mit dem Penis von einem kleinen Kind ausgesprochen wird, das seinen Vater damit im ICE in Nöte bringt – und so schlägt die Verfänglichkeit in Komik um. Matthias Sachau hat in den letzten Jahren ein halbes Dutzend Comedy-Romane geschrieben. Sie heißen "Kaltduscher", "Linksaufsteher" oder "Wir tun es für Geld", und sie beginnen alle medias in res:
"Meine Wände sehen ganz normal aus für einen, der in ein paar Tagen 24 wird und bis jetzt noch nicht wirklich was auf die Reihe gekriegt hat."
Matthias Sachau: "Ich habe von Anfang an eine große Angst gehabt, den Leser zu langweilen, und ich glaube, bei meinen ersten Büchern habe ich das gemacht, ohne dass mir das jemand gesagt hat, dass ich gleich am Anfang so für Tempo und Überraschungen gesorgt habe. Ich fand's für einen Comedy-Roman auch passend."

Packen zum Weiterlesen

Fragen wir doch einmal ganz platt: Was muss der erste Satz eines Romans leisten?
Suhrkamp-Lektorin Doris Plöschberger: "Sätze, die mich so packen, dass ich sofort weiterlesen will, das sind für mich natürlich, auch aus der Sicht des Lektorats und aus Verlagssicht, das sind natürlich die Sätze, die man sich unbedingt wünscht, weil man natürlich die Hoffnung hat, dass es allen anderen auch so geht, und dass man das Buch dann eben sofort zur Kasse schleppt, weil man gar nicht anders kann."
Heinz Helle: "Ich glaube, er muss ehrlich sein, er muss sofort die Karten auf den Tisch legen, er muss dem Leser ganz klar machen, worum es geht, und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch vor allem sprachlich, und klanglich, und wenn er das richtig tut, dann wird der Leser auch schnell wissen, ob das etwas für sie oder ihn ist oder nicht."
Ursula Krechel: "Ja, er soll ihn selbstverständlich verführen! Anders kann man's gar nicht sagen. Er soll ihm die Klarheit geben: Hier möcht' ich weiterlesen, ganz einfach."

Bücher sollten halten, was die ersten Sätze versprechen

Doch ein guter Anfang allein macht noch kein gutes Buch. Mit diesem Phänomen ist Doris Plöschberger als Lektorin bestens vertraut.
Doris Plöschberger: "Romane, die nicht halten, was der erste Satz oder die erste Seite verspricht, die gibt’s. Das ist übrigens etwas, worauf man ständig stößt, wenn man Manuskripte prüft. Das ist ein Phänomen, das einem vielleicht sogar seltener begegnet bei der Lektüre eines fertigen Buchs, aber womit man ständig zu tun hat im Rahmen des Prüfens von Manuskripten. Aber so ist es nun mal: Nicht jeder Stoff hat dann eben das Potenzial, über 200, 300, 350 Seiten zu fesseln."
Matthias Sachau: "Mir geht's so, wenn ich selber halt als Leser mir auf die Schnelle ein Urteil über ein Buch verschaffen will, ... dann schlage ich's gern in der Mitte auf und lese da mal ein paar Seiten. Weil ich diesen Trick halt kenne, dass Autoren in den Anfang unheimlich viel Energie reinstecken, dass der irgendwie knallt, dass sie die ersten beiden Absätze eben auch als Werbetrailer für ihr Buch verstehen, was auch sicher geschickt ist, und wenn die halt verpufft sind, dass danach nicht viel hinterherkommt."

Der schönste erste Satz stammt von Grass

Der knallige Anfang scheint ein sicheres Rezept für den Erfolg zu sein. In der Weltliteratur allerdings gibt es viele Autoren, die ihren Lesern den Einstieg schwer machen. Sie locken sie nicht, sondern zwingen sie in eine Situation hinein. Gerade dies kann einen eigenen, ambivalenten Reiz haben, den fortgeschrittene Leser zu schätzen wissen.
"Der schönste erste Satz" – zu diesem Thema gab es im Jahr 2007 einen Wettbewerb, durchgeführt von der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen. Mehr als 17.000 Menschen nahmen daran teil, Menschen jeden Alters und aus aller Welt. Kafka, der Meister des ersten Satzes, schaffte es allerdings nur auf den zweiten Platz:
"Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt."
"Kafkas Anfangssatz habe ich deshalb als schönsten ersten Satz ausgewählt, weil er eigentlich nicht Teil der folgenden Geschichte, sondern Voraussetzung ist. Er informiert den Leser über das Nötigste und scheint zu sagen: "So ist die Situation. Bist du bereit mitzugehen?"
Gewonnen hat Günter Grass mit dem ersten Satz aus "Der Butt": "Ilsebill salzte nach."
Sophie-Charlotte Hartisch: "Die Leser mussten halt begründen, und daraufhin hat die Jury auch die beste Begründung gewählt, und der hat auch gesagt: Der klingt so normal, Ilsebill salzte nach, und man fragt sich dann als erstes: Wer ist denn Ilsebill? Und was salzt sie da nach? Und man kommt in Bewegung, und der hinterlässt so viele Fragen, und er hat eben vor Kafka gewonnen."

Das komplette Manuskript zur Sendung als PDF-Dokument oder im barrierefreien Textformat

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