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Gesetz seit 70 Jahren
Das Rückkehrrecht jedes Juden nach Israel

Jeder Jude hat das Recht, nach Israel einzuwandern - so besagt es das Rückkehrgesetz, das die Knesset vor 70 Jahren verabschiedete. Für viele Juden war es die Erfüllung eines Traums. Für die vertriebenen Araber in Palästina war es ein Trauma.

Von Matthias Bertsch | 05.07.2020
    Jüdische Kinder bei der Ankunft ihres Boots in Tel Aviv am 2. April 1946
    Juden waren weltweit über Jahrhunderte immer wieder verfolgt worden – mit der Gründung des Staates Israel sollten sie in Palästina eine "nationale Heimstätte" erhalten (imago / Everett Collection)
    "Im Lande Israel entstand das jüdische Volk. Hier prägte sich sein geistiges, religiöses und politisches Wesen."
    Tel Aviv, am 14. Mai 1948. An diesem Tag endet das britische Mandat über Palästina, ein neuer Staat wird ausgerufen: Israel. In der Unabhängigkeitserklärung zieht Premierminister David Ben Gurion eine Linie von der Vertreibung der Juden aus Palästina vor fast 2.000 Jahren über die Ursprünge des Zionismus im späten 19. Jahrhundert bis zum Holocaust und dem Beschluss der Vereinten Nationen, in einem Teil Palästinas einen jüdischen Staat zu gründen.
    "Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen."
    Rückkehr- und Einheitsgedanke
    Noch in derselben Nacht wird Israel von seinen Nachbarstaaten angegriffen, ein jüdischer Staat auf mehrheitlich von Arabern bewohntem Gebiet ist für sie undenkbar. Aber Israel geht als Sieger aus den Kämpfen hervor, und so verabschiedet das Parlament, die Knesset, am 5. Juli 1950 ein Gesetz, dessen erster Artikel lautet: "Jeder Jude hat das Recht, ins Land einzuwandern."
    Das hebräische Original spricht allerdings von Alija: Aufstieg. Gemeint ist damit der Aufstieg oder die Rückkehr nach Jerusalem, und so heißt das Gesetz nicht Einwanderungs-, sondern Rückkehrgesetz, erklärt die Politikwissenschaftlerin Lidia Averbukh.
    "Man konnte sich auf den Namen Rückkehr einigen, weil das für die jüdische Tradition sehr wesentlich ist, diese Erinnerung an das Gelobte Land und die Vertreibung daraus. Sowohl in der religiösen Tradition, aber auch in der säkularen Tradition des Judentums ist der Gedanke, dass man früher ein einheitliches Volk war in einem Gebiet, das zu dem Zeitpunkt der Staatsgründung Palästina war, das ist natürlich konstitutiv überhaupt für das jüdische Denken."
    Philosoph Omri Boehm übt Kritik an jüdischem Staat
    Zwischen Selbstbestimmung und Souveränität unterscheidet Omri Boehm in seinem Buch über den Staat Israel: Das jüdische Volk habe ein Recht auf Selbstbestimmung, aber keines auf eine Souveränität, die Minderheiten oder andere Völker unterdrücke.
    Viele machten Gebrauch vom neuen Gesetz
    Allein in den ersten drei Jahren nach Gründung des Staates wanderten fast 700.000 Juden ein: Überlebende des Holocaust, aber auch Juden aus Ägypten, Irak und Jemen. Ende 1951 hatte sich die jüdische Bevölkerung Israels fast verdoppelt, die Zahl der Araber dagegen war durch Flucht und Vertreibung während des Unabhängigkeitskrieges von rund 900.000 auf 150.000 gesunken. Diese wurden durch das 1952 erlassene Nationalitätsgesetz zu gleichberechtigten Bürgern des jüdischen Staates.
    Die meisten der arabischen Flüchtlinge und ihre Nachkommen dagegen beharren bis heute auf ihrem Recht auf Rückkehr, das ihnen die Vereinten Nationen im Dezember 1948 auch grundsätzlich zusprachen. Und so steht dem Rückkehr-Gesetz auf jüdischer Seite das Rückkehr-Recht auf arabisch-palästinensischer Seite gegenüber.
    "Diese Entstehungsmythen von Vertreibung, die sind typisch für ganz viele Nationalbildungen. Und hier in diesem Konflikt haben wir eine Eskalation beider solcher Fälle, auch wenn sie historisch versetzt sind. Und natürlich schwingen da verschiedene Ansprüche mit, wer denn früher da war, wer mehr das Recht hat, es wird versucht auf beiden Seiten, die Argumentation so herzuleiten, dass für die einen das Recht zur Rückkehr höher sei als für die anderen."
    Blick aus seinem Fenster auf Kinder auf der Straße im Westjordanland
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    Nicht alle werden gleich behandelt
    1970 wurde das Rückkehrgesetz ergänzt. "Jude ist", heißt es seitdem, "wer eine jüdische Mutter hat, zum Judentum übergetreten ist und keiner anderen Religion angehört." Außerdem wurde das Recht auf Rückkehr auch auf die Kinder und Enkel von Juden ausgedehnt.
    Der Streit darüber, wer aus welchen Gründen nach Israel "zurückkehrt", ist dadurch nicht behoben. Vielen Neueinwanderern aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion wird unterstellt, sie seien keine richtigen Juden, sondern nur aus ökonomischen Gründen nach Israel gekommen. Und manchen äthiopischen Juden wird die Immigration nach Israel bis heute verwehrt, weil ihre Vorfahren unter Zwang zum Christentum konvertierten.
    "Der Anspruch, Zentrum des Judentums zu sein"
    Die zentrale Frage, die sich Israel immer wieder stellen muss, ist jedoch eine andere: Ist das Rückkehrgesetz mit seiner Privilegierung jüdischer Einwanderung auf Dauer mit den Maßstäben einer liberalen Demokratie vereinbar?
    "Es ist das Gesetz, was auf den Punkt bringt, was Israel für ein Bild von sich selbst hat, nämlich als die Heimat des jüdischen Volkes, der Anspruch, das Zentrum des Judentums zu sein. Und ich muss sagen, dass es natürlich für viele Menschen auf dieser Welt ein wichtiges Gesetz ist, weil es ihnen potenziell die Möglichkeit gibt, nach Israel einzuwandern, wenn sie in ihren eigenen Ländern nicht erwünscht sind. Also bei aller Kritik an dem Gesetz, dass es nicht unbedingt mit den liberalen demokratischen westlichen Standards einhergeht: Das Gesetz hat eine enorme symbolische Kraft und ist immer noch für einzelne Personen weltweit relevant."
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