Energiewende

Norddeutsche Vorreiter

13:03 Minuten
Das Foto zeigt ein Windrad in der Gemeinde Scharbeutz in Schleswig-Holstein.
Windrad in der Gemeinde Scharbeutz in Schleswig-Holstein: Norddeutschland profitiert von stetigem Wind. © picture alliance / Christian Ohde
Von Axel Schröder · 21.01.2020
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Die Energiewende wird in den einzelnen Bundesländern mit unterschiedlichem Engagement betrieben. Ganz vorn dabei ist Schleswig-Holstein, das sich beim Klimaschutz nicht nur auf den legendären Wind an der Küste verlässt.
Im schleswig-holsteinischen Norderstedt hat die Zukunft schon begonnen. Dort können die Kunden der Stadtwerke schon heute davon profitieren, dass sich die Strompreise im Tageslauf immer wieder ändern. Christel und Joachim Welk gehören zu diesen Kunden. Oben, im ersten Stock ihres Einfamlienhauses, zeigt Joachim Welk den Internetrouter, der den Stromverbrauch ihres Hauses steuert:
"Hier in der Ecke die Fritzbox. Und außerdem ist der 'Homee-Würfel' da aufgestellt. Der 'Homee-Würfel' verbindet die vier Steckdosen und steuert die auch. Das ist sozusagen ein eigener Computer für die Steckdosen."
Die kleinen, weißen "Homee-Würfel" – die Welks haben gleich mehrere davon – sind per Internet mit einem Rechner der Stadtwerke Norderstedt verbunden. Über die Würfel können alle angeschlossenen Steckdosen aus der Ferne an- und ausgeschaltet werden.

Intelligente Stromsteuerung in Norderstedt

Die Idee dahinter: Wenn der Wind weht und die Windkraftanlagen an der Küste besonders viel Strom liefern, sinkt der Preis pro Kilowattstunde. Und genau dann lohnt es sich für Verbraucher wie die Welks, besonders stromfressende Geräte laufen zu lassen. Die intelligente Stromsteuerung in Norderstedt gehört zum Projekt "Norddeutsche Energiewende 4.0", kurz: "NEW 4.0". Ausgestattet mit Fördermitteln in Höhe von 45 Millionen Euro.
Bei den Norderstedter Stadtwerken kümmert sich Thorsten Meyer um die Umsetzung des "Homee-Projekts", an dem auch die Welks teilnehmen. Viel zu oft müssten Windenergie-Anlagen abgeschaltet werden, damit nicht zu viel Strom das Netz überlastet, sagt Meyer:
"Die überschüssige Energie darf nicht ins Netz. Das würde unsere Netzfrequenz stark zum Schwanken bringen. Und weil alle Geräte in Deutschland auf 50 Hertz ausgelegt sind, dürfen wir das eben nicht."
Trotzdem haben die Windradbetreiber einen Anspruch auf die vertraglich garantierte Vergütung ihres Stroms. Auch dann, wenn die Anlagen abgeschaltet werden mussten. Für grünen Strom, der nicht produziert werden durfte, fallen jährlich rund 300 Millionen Euro Entschädigungen an. Zahlen müssen das die Verbraucher mit der Stromrechnung über die so genannte EEG-Umlage.
Das Norderstedter "Homee-Projekt" ist nur eines von insgesamt 80 Projekten der "Norddeutschen Energiewende 4.0". Das Förderprogramm hat nicht nur Norderstedt, sondern ganz Schleswig-Holstein und Hamburg im Blick. Die Idee: ein Flächenland mit viel Windstrom und ein Stadtstaat mit knapp zwei Millionen Einwohnern und einer energiehungrigen Industrie sollen zusammengeschaltet werden, erklärt Professor Werner Beba, der Projektkoordinator von "NEW 4.0":
"Diese Grundidee, eine Erzeugungsregion mit einer Verbrauchsregion, das ist hier schon mal gegeben. Und der zweite Punkt ist: Eine wichtige Rolle spielt bei uns die Industrie. Und zwar deshalb, weil bei uns die Industrie nicht nur ein großer Energieverbraucher ist, sondern auch – und das zeigen unsere einzelnen Projekte – in der Lage ist, ihren Verbrauch zu flexibilisieren. Das heißt, wenn viel Windstrom im Netz ist, mehr Energie aufzunehmen, und wenn weniger Windstrom im Netz ist, weniger Strom aufzunehmen. Ohne dass die Produktionsprozesse leiden."

Neue Speicher für überschüssige Energie

Damit die Energiewende gelingt, erklärt Beba, sei es allerdings nötig, mehr regenerativen Strom als bisher zu erzeugen. Gleichzeitig müssten die Stromverteilnetze aus- und umgebaut, müssten neue Speicher für überschüssige Energie entwickelt werden. Und es geht darum, die einzelnen Energiesektoren – also der Verkehrs-, der Strom- oder der Wärmesektor – möglichst effizient miteinander zu koppeln, erklärt André Wolff. Er leitet den Forschungsbereich Energie, Klima und Umwelt am Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut.
"Der Grundgedanke der Sektorkopplung ist, dass man Überschüsse in der Stromversorgung in anderen Bereichen nutzbar macht. Und zwar vor allem in den Energieformen Wärme, was die Wärmeversorgung von Industrie und Privathaushalten anbelangt und im Bereich Mobilität, Verkehrsanwendungen in Form von synthetischen Kraftstoffen, sei es Brennstoffzellenmobilität oder auch Erdgasautos."
Im Vergleich mit anderen Regionen kommt der Norden bei der Energiewende sehr schnell voran. Nicht nur die regenerativ erzeugte Strommenge ist hier besonders hoch. Auch die Technik der Sektorkopplung wird hier schon in vielen Projekten umgesetzt, sagt Claudia Kemfert, Energieexpertin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung:
"Im Bundesländervergleich sehen wir sehr deutlich, dass im Moment Schleswig-Holstein sehr weit vorne liegt. Die haben auch das Bundesländerranking gewonnen. Aufgeholt haben jetzt Länder wie Baden-Württemberg und auch der Osten Deutschlands. Aber insgesamt gesehen, kann man sagen, ist der Norden sehr, sehr gut aufgestellt."

Mal weht gar kein Wind, mal weht zu viel

An vielen Orten sind mittlerweile Pilotanlagen entstanden, die ein zentrales Problem der Energiewende lösen sollen: die unstete Verfügbarkeit des Ökostroms. Mal weht gar kein Wind, mal weht zu viel. Wie die Technik der Sektorkopplung dieses Problem lösen kann, zeigt eine Pilotanlage im schleswig-holsteinischen Büttel. Mitten in einem Industriegebiet haben sich 15 Windparkbetreiber zusammengeschlossen, um den überschüssigen Strom aus ihren Anlagen nutzbar zu machen.
Tim Brandt ist Geschäftsführer der "Wind 2 Gas Energy GmbH". Gerade betankt er seinen Wagen an der firmeneigenen Wasserstofftankstelle, mitten in einem Industriegebiet:
"Man fährt ran wie eine normale Tankstelle", erklärt er. "Innerhalb von drei bis vier Minuten ist der Tank komplett voll und man kann weiterfahren. Und hat dann im Grunde fast eine Reichweite wie beim Verbrenner von 500 bis 600 Kilometern."
Fünfzig Meter entfernt steht das Herzstück der Anlage: der Elektrolyseur. Der Apparat wird mit 20.000 Volt direkt aus dem Windpark versorgt. Um den eigentlich überschüssigen Strom in Wasserstoff zu verwandeln:
"Destilliertes Wasser wird aufgespalten in Sauerstoff und Wasserstoff. Der Wasserstoff geht dann entweder hier rüber in diesen Puffertank, der dann den Wasserstoff für die Tankstelle speichert. Oder er geht in diese Station hier vorne – die hat der Gasnetzbetreiber errichtet – das ist eine Gaseinspeiseanlage. Hier wird der Wasserstoff von 30 auf 50 bar verdichtet, um dann ins Erdgasnetz eingespeist zu werden."
Möglich wäre es auch, die Industrie in der Nachbarschaft mit grünem Wasserstoff zu beliefern. Zum Beispiel die Düngemittelfabrik, die riesige Mengen des Gases verarbeitet. Genau diesen Ansatz, den Aufbau einer leistungsfähigen Wasserstoffindustrie, verfolgt der Hamburger Senat. Noch in diesem Jahrzehnt soll eine Anlage entstehen, die mit 100 Megawatt Leistung Wasserstoff produziert.

Industriebetriebe als Teil der Lösung

Energieintensive Betriebe wie die Stahlhütte von Arcelor Mittal, das Kupferwerk Aurubis oder der Aluminiumhersteller Trimet könnten dann bei ihren Schmelzprozessen statt auf fossiles Gas auf regenerativ erzeugten Wasserstoff setzen. Immerhin entfällt mehr als ein Drittel des Hamburger Stromverbrauchs auf besonders energieintensive Betriebe. Hamburgs grüner Umweltsenator Jens Kerstan ist trotzdem überzeugt: Die Energiewende gelingt nur mit diesen Unternehmen.
"Die Industriebetriebe sind Teil der Lösung", betont er. "Die können mit ihrer vorhandenen Abwärme aus der Produktion jetzt richtig Geld verdienen, indem sie die Wärme zur Beheizung unserer Wohnungen zur Verfügung stellen und das ist gut für das Klima!"
Im Sommer 2019 steht Umweltsenator Jens Kerstan vor drei Dutzend Gästen:
"Meine Damen und Herren! Das ist eine besondere Freude für mich, dass wir heute gemeinsam diese Anlage eröffnen können! Sie haben ja wirklich tolles Wetter bestellt!"
Kerstan, mit Bauhelm und Warnweste, hat ein Mikrofon in der Hand, auf dem weiten Gelände von Aurubis, dem zweitgrößten Kupferproduzenten Europas. Eingeweiht wird die so genannte "Power-to-Steam"-Anlage. Was diese Anlage kann, erklärt Ulf Gehrkens, zuständig für den Bereich "Energie und Klimaschutz" beim Kupferunternehmen:
"Es ist eigentlich so etwas wie ein Siedekocher, um Kaffeewasser aufzuheizen. Wir haben hier einen Sieder und dieser Sieder wird jetzt mit Energie gespeist, die aus überschüssiger Energie kommt."
Sobald die Stromnetz-Leitwarten ein Zuviel an erzeugter Ökostrom-Leistung melden, schaltet die neue Anlage die Dampferzeugung per Erdgas ab. Dann startet der stromgetriebene Riesen-Tauchsieder. Und am Ende werde der Konzern in seinem Werk durch den Verzicht auf Erdgas 4.000 Tonnen CO2 pro Jahr sparen.
Noch mehr Kohlendioxid spart ein anderes Projekt der Firma. 2017 ging die Fernwärmeleitung vom Werksgelände in die Hafencity in Betrieb. Diese Fernwärme wird CO2-neutral erzeugt, erklärt Ulf Gehrkens in seinem Büro:
"Wir haben noch zwei Drittel der Wärme hier in petto, die wir noch hier in den Anlagen haben, die wir auskoppeln müssten. Dann wären insgesamt 500 Millionen Kilowattstunden. Das ist richtig viel! Ganz Hamburg hat etwa 4.000 Gigawattstunden. Und wir würden davon dann so 12, 13 Prozent CO2-frei liefern können."

Neuer Standortvorteil gegenüber dem Süden

Der Wind an den Küsten, kombiniert mit intelligenten Energietechniken, könnte den Nordländern am Ende einen ganz neuen Standortvorteil gegenüber dem Süden verschaffen, glaubt auch André Wolf vom Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitut:
"Ich denke durchaus, dass langfristig – zumindest dann, wenn es gelingt, auch im Zusammenhang mit der Sektorkopplung Wertschöpfungspotenziale in Norddeutschland zu wecken, also auch lokal Technologien zu erzeugen, die dann auch zum Aufbau einer lokalen Industrie eingesetzt werden – dass es dann durchaus möglich ist, auch einen Aufholprozess einzuleiten."
Noch optimistischer schätzt die Energieexpertin Claudia Kemfert die Chancen der Nordländer ein. Die Ressource Wind sei an den Küsten im Überfluss vorhanden und der Strom aus erneuerbaren Energien dort deshalb besonders günstig.
"Da ist es dann vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich, dass wir in der Zukunft nicht die 'Bayerischen Motorenwerke', sondern die 'Bremischen' oder die 'Hamburgischen' haben, weil auch die Autoindustrie sich ihre Standorte danach sucht, wo Energie preisgünstig zu haben ist. Und die erneuerbaren Energien werden immer billiger. Und das wird die Wirtschaft ganz sicher nutzen."

"Die Bundesregierung steht auf der Bremse"

Gelingen wird die Energiewende und mit ihr der norddeutsche Aufbruch aber nur, wenn die Bundesregierung die Hürden dafür aus dem Weg räumt. Zum Beispiel die geplanten größeren Abstände zu Wohnsiedlungen beim Neubau von Windkraftanlagen und die beschlossene Halbierung der Ausbauziele für Offshore-Windparks von 30 auf 15 Gigawatt.
"Die Bundesregierung steht leider massiv auf der Bremse. Und das tut sie schon seit einigen Jahren. Was im höchsten Maße problematisch ist. Nicht nur, weil wir damit die Energiewende und Klimaziele nicht erreichen, sondern weil wir auch wertvolle Industriearbeitsplätze verlieren. Und deswegen muss die Bundesregierung hier rasch umsteuern, damit auch die wirtschaftlichen Chancen gehoben werden können, und das ist im Moment leider nicht der Fall."
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