Timur Vermes: "Die Hungrigen und die Satten"

Bitterböse Satire über einen Flüchtlingsmarsch nach Deutschland

Cover von Timur Vermes "Die Hungrigen und die Satten", im Hintergrund sind Geflüchtete im Jahr 2016 auf dem Weg von Budapest nach Deutschland zu sehen
Hunderttausende Migranten aus Afrika zu Fuß auf dem Weg nach Deutschland – dieses Szenario entwirft Timur Vermes in seinem humorvollen und bitterbösen Roman. © Eichborn / picture alliance / dpa / Collage: DLF Kultur
Von Irene Binal · 25.08.2018
Ein deutscher Fernsehstar, ein findiger Flüchtling, eine überforderte Regierung: Nach "Er ist wieder da" legt Timur Vermes mit "Die Hungrigen und die Satten" eine Gesellschaftssatire vom Feinsten vor, die unsere Realität schonungslos durchleuchtet und demaskiert.
Was wäre, wenn sich plötzlich Hunderttausende Migranten aus Afrika zu Fuß nach Deutschland aufmachten? Dieses Szenario untersucht Timur Vermes in seinem neuen Roman mit feinem Witz und viel Empathie.
Ein deutscher Fernsehstar, ein findiger Flüchtling, eine überforderte Regierung: Das sind die Zutaten, aus denen Timur Vermes seinen Roman "Die Hungrigen und die Satten" gestrickt hat. Die Hungrigen, das sind Millionen von Flüchtlingen, die in einem riesigen Lager südlich der Sahara auf ihre Chance warten, nach Europa zu gelangen. Aber der alte Kontinent hat sich abgeschottet und bezahlt den nordafrikanischen Staaten große Summen, damit sie niemanden über ihre Grenzen lassen.
Viele Migranten sind seit Jahren im Lager, so auch ein junger Mann, den die Deutschen später Lionel nennen werden, obwohl er gar nicht so heißt. Seit eineinhalb Jahren sitzt er hier fest, ohne Geld aber mit sehr viel Zeit. Zeit, die er besser hätte nutzen können: "Wenn ich jeden Tag nur zehn Kilometer gelaufen wäre, dann wäre ich fünftausend Kilometer weiter."
Dann taucht ein deutsches Fernsehteam mit Starmoderatorin Nadeche Hackenbusch im Lager auf, um eine Reality-Show zu drehen, und aus Lionels vager Idee wird plötzlich Realität: Mit Nadeche, den Kameraleuten, 250.000 Flüchtlingen und logistischer Unterstützung durch einen Schlepper macht sich Lionel auf den langen Fußmarsch nach Deutschland.

Kein säuberlich abgegrenztes Gut und Böse

All das erzählt Vermes rasant, spritzig und mit erfrischend boshaftem Witz, der vor nichts und niemandem halt macht. In Vermes' Prosa gibt es kein säuberlich abgegrenztes Gut und Böse: Lionel wird von Zeitungen als "Gandhi Afrikas" gefeiert, aber er hat von Deutschland, seinem Traumziel, höchst unrealistische Vorstellungen ("Zusammen werden sie mit den berühmten deutschen Ingenieuren Deutschland zur größten Ziegennation der Welt machen") und wäre auch nicht davon abgeneigt, für einen guten Job den ganzen Zug im Stich zu lassen.
Nadeche wurde zwar durch eine Fernsehshow mit dem kitschigen Namen "Engel im Elend" berühmt, tatsächlich aber ist die TV-Moderatorin ein ziemlich selbstverliebtes Luxusgeschöpf, lässt jedes ihrer Worte dokumentieren und achtet darauf, Gutes nur im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu tun. Der Zug der Flüchtlinge ist vor allem ein gigantisches Medienspektakel, und je näher er der deutschen Grenze kommt, umso nervöser wird die Regierung in Berlin, zumal sich Bürgerwehren bilden und die Umfragewerte für die AfD in die Höhe schnellen - bis der Innenminister eine unerwartete Entscheidung trifft.
Es ist eine Gesellschaftssatire vom Feinsten, die unsere Realität schonungslos durchleuchtet und demaskiert. Ob es um eine zynische Medienszene geht, die das Leid anderer als Quotenbringer nutzt, um eine Politik, die ihre Aufgabe nur mehr darin sieht, "Scheiße von hier nach dort" zu verschieben und sich hauptsächlich vor schlimmen Bildern fürchtet, oder um die Flüchtlinge und ihren unerschütterlichen Glauben an Europa: Timur Vermes seziert die Gegenwart mit feiner, aber scharfer Klinge. Dabei ist er gleichzeitig humorvoll und bitterböse, empathisch und respektlos – und von der ersten bis zur letzten Seite unterhaltend.

Timur Vermes: Die Hungrigen und die Satten
Verlag Eichborn, Köln 2018
509 Seiten, 22 Euro

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