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De-Radikalisierung
Kaum Klickzahlen für Aussteiger-Videos

Viele islamistische Terroristen sind erst im Internet zu Anhängern des sogenannten Islamischen Staats geworden. Die EU versucht schon seit einiger Zeit, der Radikalisierung im Netz etwas entgegenzusetzen. Mit authentischen Aussteiger-Videos soll die Coolheits-Propaganda des Islamischen Staats gebrochen werden.

Von Annette Riedel | 11.10.2016
    Eine junge Frau schaut auf einen Computermonitor, auf dem einer Website mit Propaganda des IS zu sehen ist.
    Der Islamische Staat konzentriert sich in seiner Propaganda darauf zu portraitieren, wie schön das Leben dort ist, sagt Terrorismusforscher Alexander Ritzmann. (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Alexander Ritzmann sitzt an seinem Laptop in einem kleinen Brüsseler Büro. Der Politikwissenschaftler beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit Extremismus-Forschung. Und natürlich mit der Frage, warum sich jemand radikalisiert.
    "Das Ergebnis der Forschung ist, dass es kein Ergebnis gibt. Radikalisierung ist ein Prozess und am Ende dieses Prozesses ist man ein Extremist. Ein Extremist stellt die herrschende Ordnung komplett infrage und möchte sie durch eine andere ersetzen."
    Zehntausende Extremisten gibt es nach Alexander Ritzmanns Schätzung in Europa – unter ihnen sogenannte "legalistische". Das sind jene, die zwar gegen die herrschende Ordnung arbeiten und dabei durchaus teilweise die Grenzen des Rechtsstaats streifen. Aber sie tun das mit Mitteln der Mission, der Propaganda, mithilfe von Medien. Und dann gibt es eben jene, die Terroristen unterstützen, anwerben oder selbst zu solchen werden. Alexander Ritzmann berät unter anderem die EU-Kommission dabei, Strategien zur Prävention von Radikalisierung zu entwickeln. Ein Strategie-Ansatz: Den Propaganda-Geschichten oder "Narrativen" von gerechten, heldenhaften Kämpfern gegen Andersgläubige durch Aufklärung etwas entgegenzusetzen.
    Wie kontert man die Coolheits-Propaganda des IS?
    "Diese Coolheits-Narrative, mit der Kalaschnikow auf dem Pferd und den ganzen Frauen, die man da hat und dem Abenteuer. Der Islamische Staat konzentriert sich in seiner Propaganda darauf zu portraitieren, wie schön das Leben dort ist. Der Punkt jetzt, wie man das kontert, ist zu zeigen, dass das eine Lüge ist, indem man die, die zurückkommen, frustriert, irritiert, die fliehen vom Islamischen Staat, denen das Mikrofon gibt."
    Und sie filmt und die Filme ins Netz stellt. Etwa auf der von der EU-Kommission angestoßenen Internet-Seite "Exit Hate", die seit Mitte September online ist.
    Exit Hate - authentische Aussteiger-Videos
    "Wenn Sie 'Exit Hate' eintippen… Also YouTube – da sind die Videos. Das ist also eine Serie von Videos, Menschen mit verschiedenem Hintergrund, die erklären, was passiert ist und wie sie da rausgekommen sind und wie sie sich jetzt fühlen. Das sind am Anfang professionell produzierte Videos, aber Sinn und Zweck ist, dass jetzt NGOs ein bisschen Hilfe bekommen bei der Produktion von Videos, aber dass das eine eigene Dynamik entfaltet, also eine lebendige Kampagne, keine von oben herab, sondern lebendig in dem Sinne, dass NGOs ihre Videos einschicken können", in denen Menschen Zeugnis ablegen darüber, wie sie zu Extremisten wurden und warum und wie sie sich wieder de-radikalisiert haben. Menschen wie Adam.
    "Adam ist auf alle Fälle Islamist gewesen"
    "I’m Adam. As a young man I spend a great number of years in this organization.”
    Ärger und Hass auf den Westen waren seine Motive, sagt Adam in die Kamera. Und dass er selbst kurz davor war, ein Terrorattentat zu begehen. Im Laufe der Zeit, erzählt Adam in dem Video, habe er herausgefunden, dass der IS eine völlig falsche Vorstellung vom Islam verbreitet. Und nicht zuletzt darum unterstütze er jetzt Projekte wie "Exit Hate".
    Kaum Klickzahlen für Anti-Extremismusvideos
    Ein Projekt, das aber naturgemäß nur eine begrenzte Reichweite haben kann. Extremismus-Experte Alexander Ritzmann ist sich dessen bewusst. Adams Geschichte, eine der vier professionell produzierten, ist in dem knappen Monat, die sie online ist, lediglich fünf Mal aufgerufen worden. Die anderen auch kaum öfter. "Das erreicht natürlich nur Menschen, die gerade neugierig sind, oder die Zweifel haben. Wer in seiner Kammer ist, wo er den ganzen Tag nur Sachen sieht und hört, von den er überzeugt ist, den kann man auch drei Stunden lang anschreien. Der wird es einem nicht glauben, der wird es auch nicht hören."
    Auf europäischer Ebene gibt es das RAN, das Radicalization Awareness Network, ein Netzwerk, mit dessen Hilfe sich renommierte Experten und Praktiker EU-weit austauschen, Wissen über Projekte, Initiativen, Erfahrungen zusammengeführt wird. Ziel: Expertise darüber zu bündeln und zu teilen, wie sich Radikalisierung erkennen, vorbeugen, bekämpfen lässt.
    RAN - das Netzwerk braucht mehr in die Öffentlichkeit
    Über 2.400 Individuen beziehungsweise NGOs sind Teil des Netzwerks, dessen Arbeit zwar inzwischen intern einige Würdigung erfährt, von dem man aber in der Öffentlichkeit vergleichsweise wenig weiß, angesichts des wachsenden Problems von gewaltbereiten radikalisierten Extremisten in der EU und auch in Deutschland.
    "Was könnte besser gemacht werden, ist, die eigene Öffentlichkeitsarbeit zu verbessern, also besser zu erklären, was machen wir eigentlich genau. Also wie können wir das gewonnene Wissen, weil RAN gibt es ja schon fünf, sechs Jahre, jetzt der Öffentlichkeit noch besser zur Verfügung stellen, Leuten zur Verfügung stellen, die nicht im Netzwerk sind."
    Das wäre mit Sicherheit sinnvoll. Aber wie so oft ist es dann eben auch wieder eine Frage des Geldes und des nötigen Personals.