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Debatte um Wahlgesetz
"Deutschland ist bei direkter Demokratie ein EU-Entwicklungsland"

Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau unterstützt den Vorschlag für eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre. Eine längere Periode wäre sicherlich sinnvoll, sagte die Linken-Politikerin im Deutschlandfunk. Doch sie knüpft eine Zustimmung an Bedingungen.

Petra Pau im Gespräch mit Mario Dobovisek | 04.08.2015
    Petra Pau (Die Linke), Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages
    Petra Pau (Die Linke), Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages (picture alliance/dpa/Maurizio Gambarini)
    Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau betonte, die Demokratiemüdigkeit der Bürger rühre nicht von häufigen Wahlen. Vielmehr fühlten sich die Bürger nicht einbezogen in politische Entscheidungen, sagte sie im Deutschlandfunk. Deshalb müsse eine Legislaturperiode von fünf Jahren mit Elementen der direkten Demokratie gepaart werden. "Denn die Bundesrepublik ist in Sachen direkte Demokratie immer noch ein EU-Entwicklungsland." Bürger wollten nicht alle vier oder fünf Jahre zur Wahlurne gerufen werden und dazwischen nichts zu sagen haben. Mit Blick auf die Flüchtlingsdebatte lehnt Pau einen Volksentscheid über das Asylrecht ab, allerdings sollten Volksabstimmungen über die Unterbringung von Flüchtlingen möglich sein.
    Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat sich erneut für eine fünfjährige Wahlperiode des Bundestages ausgesprochen. Im Parlament gebe es seit Langem dafür eine haushohe Mehrheit. Die Forderung, zugleich Plebiszite im Grundgesetz zu verankern, lehnt er jedoch ab.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Gerd Breker: In den USA blockieren sich die Politiker oft gegenseitig, weil sich das Land gefühlt ununterbrochen im Wahlkampf befindet – alle zwei Jahre wird dort gewählt, der Senat und der Präsident immer im Wechsel. Und gerade die Präsidentschaftswahlen, wie wir dieser Tage wieder erleben dürfen, werfen mit der langwierigen Kandidatenkür samt Fundraising-Kampagnen ihre Schatten weit voraus. Und zwar fast anderthalb Jahre vor der eigentlichen Wahl, denn die findet erst im November 2016 statt. Fragt sich manch ein Kritiker, und wann wird vor lauter Wahlkampf tatsächlich Politik gemacht? Vor der gleichen Frage stehen auch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages – die ständigen Wahlkämpfe schränkten die Gestaltungsmöglichkeiten des Bundestages faktisch ein, sagt Bundestagspräsident Norbert Lammert und schlägt wiederholt eine fünfjährige Wahlperiode vor. Seine Stellvertreterin begrüße ich jetzt am Telefon, Petra Pau von der Linkspartei. Guten Morgen, Frau Pau!
    Petra Pau: Guten Morgen!
    Breker: Lammert spricht von einer haushohen virtuellen Mehrheit für seinen Vorschlag. Können Sie die auch erkennen?
    Pau: Das weiß ich nicht so ganz genau. Ich persönlich bin der Auffassung, eine längere Legislaturperiode wäre sicherlich sinnvoll, allerdings bleibt der Part – und da unterscheide ich mich von meinem Präsidenten – mit der Einführung von Elementen direkter Demokratie, weil die Bundesrepublik ist aus meiner Sicht in Sachen direkter Demokratie noch immer ein EU-Entwicklungsland.
    Breker: Bevor wir die direkte Demokratie, also Volksabstimmungen etc. vertiefen, noch einmal zu dem ersten Punkt, den Sie genannt haben, Sie wären prinzipiell dafür. Warum wäre es denn sinnvoll, auf fünf Jahre zu gehen?
    Pau: Nur wenn es gepaart ist tatsächlich mit direkter Demokratie, weil Bürgerinnen und Bürger wollen nicht alle vier Jahre oder fünf Jahre in dem Fall dann, zur Wahlurne gerufen werden und zwischendurch eigentlich nichts zu sagen haben.
    Breker: Nirgendwo wird so häufig und so oft gewählt wie in Deutschland, sagt Lammert. Und genau das führe eben zur Wahlmüdigkeit. Können Sie das auch so sehen?
    Pau: Ich glaube die Demokratiemüdigkeit, oder ich sage eigentlich immer Politikermüdigkeit, die rührt eher aus anderen Tatsachen her, nicht aus unseren häufigen Wahlen, weil wir haben in fast allen Bundesländern inzwischen alle fünf Jahre Wahlen und trotzdem geht dort auch die Wahlbeteiligung zurück. Viele fühlen sich einfach nicht sonst einbezogen und da müsste der Ansatz sein.
    Breker: Das heißt, fünf Jahre, ja, aber Sie haben ja schon ausführlich gesagt, direkte Demokratie eben auch ja. Das lehnt Norbert Lammert kategorisch ab. Das will er so nicht sehen im Deutschen Bundestag, auf Bundesebene sozusagen. Warum halten Sie das für sinnvoll?
    Pau: Erstens hilft ja manchmal ein Blick ins Grundgesetz, weil es gab ja mal einen Bundeskanzler, der meinte, direkte Demokratie wäre der Bundesrepublik verboten, das ist natürlich Unsinn. Im Grundgesetz steht, Entscheidungen fallen durch Wahlen und Abstimmungen. Deshalb haben die Wahlen die Bundesbürger seit 1949 und spätestens wir – ich komme ja aus dem Osten – seit 1990. Aber das mit den Abstimmungen ist bisher nicht umgesetzt. Und ich finde, da muss man dringend ran. Und ich glaube nicht, dass sich die Bundesrepublik so grundlegend ändern würde durch die Einführung von direkter Demokratie.
    Breker: Das sagt aber Lammert ganz klar, die Architektur unseres politischen Systems würde das nachhaltig verändern, sagt er.
    Pau: Ja, darüber können wir ja gerne miteinander reden. Mein Eindruck wäre, dass Bürgerinnen und Bürger sich ernster genommen fühlen und garantiert sich mehr wieder auch den Prozessen zwischen den Wahlen beteiligen.
    Breker: Sie sagen garantiert. Wäre das tatsächlich so, weil wenn wir zum Beispiel auf kommunaler Ebene, Plebiszit, da so Referenden erlebt haben, waren in der Regel die Beteiligungen auch nicht astronomisch hoch.
    Pau: Ich bin Berlinerin und seitdem dort damals die rot-rote Landesregierung die Möglichkeit von Volksentscheiden eingeführt hat, ist es so, dass sich viel mehr Bürgerinnen und Bürger beteiligen. Übrigens auch ein Phänomen: Damals hat die Union vor allen Dingen dagegen gekämpft, heute sind die Mitglieder der CDU diejenigen, die am meisten dieses Mittel von Volksbegehren und Bürgerentscheiden nutzen. Also ich persönlich würde das für eine Belebung der Demokratie halten.
    Breker: Welche Elemente direkter Demokratie wünschen Sie sich? Da gibt es ja unterschiedlichste – Volksentscheide, Bürgerbegehren –, was wären für Sie die Mindestvoraussetzungen, um dem Plan der fünfjährigen Wahlperiode zuzustimmen?
    Pau: Na gut, das ist ja ein stufiges Verfahren. Bevor man zum richtigen Volksentscheid kommt, gibt es die Möglichkeit, dass Bürgerinnen und Bürger erst mal ein Thema auf die Tagesordnung setzen. Und damit dafür sorgen, dass sich die gewählten Politikerinnen und Politiker mit diesem Thema auseinandersetzen. Insofern bin ich für das gesamte Instrumentarium, aber vor dem Volksentscheid muss natürlich das Anker schon mal für ein Thema stehen.
    Breker: Das könnte wie aussehen auf Bundesebene, wenn wir zum Beispiel auf die großen Themen dieser Tage blicken – Flüchtlinge, Euro-Rettung –, wären das Themen für Volksentscheide?
    Pau: Erstens – und da sind wir auch wieder beim Thema Ängste, was Volksentscheide bringen –, das Grundgesetz ist eigentlich sehr gut ausgestattet. Es gibt die sogenannte Ewigkeitsgarantie, das heißt, bestimmte Themen würden sich auch Volksentscheiden entziehen. Keiner würde etwa, wie es ja oftmals formuliert wird, die Todesstrafe wieder einführen können oder das Asylrecht über den Volksentscheid abschaffen können. Aber wenn es um grundlegende Entscheidungen geht, auch zur Änderung der Richtung der Politik, zum Beispiel vor Jahren die Einführung des Euro, das wäre ein solches Thema gewesen.
    Breker: Noch einmal die Frage: Wären Flüchtlinge auch ein Thema, das potenziell auch für einen Volksentscheid taugen würde?
    Pau: Ich halte das für falsch. Ich halte das Asylrecht, welches sowieso schon sehr eingeschränkt ist, für ein grundlegendes Menschenrecht und darüber sollte man nicht per Volksentscheid abstimmen. Aber wenn es darum geht, beispielsweise die Bedingungen zur Unterbringung von Menschen zu verbessern, warum nicht.
    Breker: Wir sprechen nach 8 mit der Autorin Katja Schneidt über die Wut der Menschen gegenüber der Politik und der Zukunftsangst der Deutschen, die leider immer wieder in Fremdenhass umschlagen – Stichwort Flüchtlinge und die Wer-hilft-uns-Mentalität einer wachsenden Zahl von Deutschen –, wie können Sie im Bundestag dem entgegenwirken?
    Pau: Ich glaube, das ist nie Frage von Volksentscheiden, sondern mich ärgert schon das gesamte letzte Jahr, dass man nicht einfach darüber aufklärt, wer kommt, warum kommen die Menschen. Und beispielsweise auch darüber redet, wie wir beteiligt sind, um Fluchtursachen überhaupt zu schaffen.
    Breker: Sind Bund und Länder einfach mit der dramatisch wachsenden Zahl überfordert, konnten sich darauf gar nicht vorbereiten?
    Pau: Ich war gestern beim Wahlkreis in Marzahn-Hellersdorf in einer neuen Flüchtlingsunterkunft und habe festgestellt, dass viele Bürgerinnen und Bürger weiter sind als die veröffentlichte Meinung, weil die packen einfach an und sagen, wir wollen helfen.
    Breker: Und das ist gut.
    Pau: Ja.
    Breker: Als wir gestern in der Redaktion über Lammerts Vorschläge gesprochen haben, hieß es gleich, na ja, typisches Sommerlochthema, typischer Sommerlochvorstoß. Gehört die ins Spiel gebrachte vierte Amtszeit der Bundeskanzlerin in die gleiche Kategorie?
    Pau: Ach, wir schauen mal, was 2017 wirklich ist. An einer Stelle bin ich übrigens mit meinem Bundestagspräsidenten einer Meinung – weil er, bevor er über die Verlängerung der Legislaturperiode gesprochen hat, sprach er über das Thema Wahlgesetz. Ich denke, wir haben hier Hausaufgaben zu machen, endlich ein Wahlgesetz zu schaffen, welches wieder die Voraussetzung schafft, dass jede Stimme tatsächlich dasselbe bewirkt und dass ausrechenbar ist, wie groß der Bundestag wird. Und daran gekoppelt dann auch zu schauen, ob die Legislaturperiode länger wird – das wäre sicherlich eine sinnvolle Maßnahme.
    Breker: Petra Pau von der Linkspartei, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, vielen Dank für das Gespräch!
    Pau: Gern!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.