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Debütroman "Ismaels Orangen"
Auf der Suche nach der jüdisch-muslimischen Identität

Wenn es um den israelisch-palästinensischen Konflikt geht, ist fast immer nur von Kampf und Verlusten die Rede. Die britische Autorin Claire Hajaj erzählt in ihrem Debütroman "Ismaels Orangen" von dem unverdrossenen Versuch, einander über kulturelle und religiöse Differenzen hinweg zu lieben und aneinander festzuhalten.

Von Sigrid Brinkmann | 25.01.2016
    Die britische Autorin Claire Hajaj
    Die britische Autorin Claire Hajaj (Deutschlandradio / Torben Waleczek)
    Claire Hajaj wirkt übernächtigt. Wer von Beirut nach Tel Aviv will, muss inzwischen den Weg über Ägypten nach Amman nehmen und von dort aus die Grenze zu Israel ansteuern, denn der Luftraum über Syrien ist für Linienflugzeuge gesperrt. Fünf Stunden wartete Claire Hajaj im Grenzgebiet auf die Einreisegenehmigung. Kurz vor Mitternacht konnte sie dann die letzte Etappe im Bus nach Tel Aviv nehmen. Am frühen Morgen hatte die 42-Jährige eine erste Verabredung in Yafo. Ein Konservator vom Denkmalsamt führte sie durch das ehemalige Anwesen ihres Großvaters, der vor der Gründung des Staates Israel Orangenhaine in Jaffa besessen hatte. 1948 musste die väterliche Familie das Haus verlassen und die Plantagen aufgeben. Mehrmals wechselte das Gebäude den Besitzer. Nun soll es in ein kleines Museum umgebaut werden. Der Konservator hatte Claire Hajajs im Sommer 2014 zuerst auf Englisch publizierten Roman "Ismaels Orangen" gelesen und plötzlich begriffen, in wessen Haus er als Denkmalschützer arbeitete. Er fand das unter Putz liegende Firmenlogo der Familie Hajaj und setzte sich mit der Autorin in Verbindung.
    Außer Claire Hajaj betreibt in ihrer Familie niemand Spurensuche
    "Ich hatte mir vorgestellt, ich käme in eine Villa, aber das Haus ist eine einzige Baustelle. Hinter dem Grundstück klafft eine riesige Baugrube. Dort entsteht ein Einkaufszentrum. Rings herum werden teure Apartmenthäuser errichtet. Das "Murad-Haus" - so nannte man das Anwesen meiner Familie - wird zu einer Art archäologischem Mini-Museum umgewandelt. Ein Teil der Wand, in der der Name meines Großvaters eingelassen ist, soll ausgestellt werden. Ich bin dem Mann, der die Wand davor bewahrt hat, eingerissen zu werden, wirklich sehr dankbar."
    Außer Claire Hajaj gibt es niemanden in ihrer Familie, der Spurensuche betreibt, Zeugnisse bewahrt und wieder zusammensetzt. Als Jugendliche hatte sie ein einziges Mal gemeinsam mit ihrem Vater dessen Elternhaus aufgesucht - nicht ahnend, dass sich die damaligen Eindrücke zwanzig Jahre später zu einem Roman verdichten und formen würden.
    "Ich erinnere mich vage an ein Haus, dessen Mauern von pinkfarbenen Bougainvillea-Blüten überzogen waren. Eine Frau mit deutschem Akzent öffnete die Tür. Sie bat uns hinein, aber mein Vater lehnte ab. Er drehte sich um und wir gingen weg. Er sprach kein Wort, und ich wusste nicht, was ich ihn fragen sollte. Gedanken wie "dieses Haus sollte uns gehören" waren mir total fremd, aber das Haus spukte seit dieser Zeit immer mal wieder in meinem Kopf herum. Im Buch beschreibe ich, wie Salim sein ganzes Leben lang nicht von dieser Erinnerung loskommt."
    Die Trauer hat sich eingenistet
    Die Trauer um den Verlust, sagt Claire Hajaj, wirke wie ein Virus. Auch in ihrem Vater, dem die Romanfigur des Salim nachgebildet ist, habe sich die Trauer eingenistet. Mit den Jahren zählte das, was er beruflich und familiär aufgebaut hatte, immer weniger, und die Erfahrung, als Kind vertrieben worden zu sein, begann alles zu überstrahlen. Claire Hajaj beschreibt wie die Liebe eines Paares von der Nahost-Politik und religiösen Bindungen sukzessive erschöpft und zerrüttet wird. Die Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation, der Einmarsch der Israelis in den Libanon, die Erste Intifada 1987 und der zweite Golfkrieg von 1990 führten zu Loyalitätskonflikten und schließlich zum Bruch.
    In wechselnden Kapiteln schildert die Autorin die Herkunftswelten der Protagonisten Judith und Salim. Scheinbar gelassen übergeht Judith antisemitische Sticheleien ihrer Mitschüler und lehnt sich stur gegen Bevormundungen durch ihre jüdische Familie auf. Salim Al-Ismaeli macht 1948 als Siebenjähriger die Erfahrung von Scham, Verleugnung und körperlicher Gewalt. Er beschließt als Jugendlicher, auf keinen Fall das Leben eines "staubigen muslimischen Arabers" zu führen, und emigriert nach Großbritannien. Claire Hajaj ist eine einfühlsame Beobachterin mit viel Gespür für kleine, aber oft entscheidende Gesten. Ein Wegsehen, ein Zurückziehen der Hand, ein grußloses Davonlaufen deuten an, dass das multikulturelle und multiethnische Gefüge 1948 in Palästina zerbrechen wird. In Dialogen schärft sie das Profil ihrer Protagonisten, die viel Kraft und Schlagfertigkeit aufbieten müssen, um den Ressentiments ihrer Familien gegenüber Juden beziehungsweise Muslimen etwas entgegen zu setzen. Für den Titel des Romans - "Ismaels Orangen" - sprechen zwei Gründe.
    "Die Geschichte erzählt von Salim Al-Ismaeli und dem zu seiner Geburt gepflanzten Orangenbaum, den er so sehr liebte. Mit dem Namen Ismael ziehe ich eine Verbindung zur biblischen Geschichte der Brüder Ismael und Isaak. Es geht dabei um das verlorene Erbe. Ismael war der Erstgeborene, aber sein Vater Abraham hat ihn verstoßen und statt seiner den zweitgeborenen Isaak vorgezogen. Diese Ungerechtigkeit überschattet das Verhältnis von Muslimen und Juden über alle Generationen hinweg. Mir war es aber noch wichtiger, zu zeigen, was aus dieser Ungleichbehandlung erwächst. Ismaels Orangen stehen für das, was heute gesät und morgen geerntet wird. Und es liegt an uns, ob die Früchte bitter oder süß schmecken."
    Als Leser profitiert man von der Offenheit
    Bitter wird es, wenn Kinder eines konfessionell gemischten, aber säkular lebenden Paares direkt oder indirekt aufgefordert werden, sich für eine Seite und eine Herkunftsfamilie zu entscheiden. Claire Hajaj schildert politische Vorgänge und ein gesellschaftliches Umfeld, das den Zwang zum Bekenntnis fördert. Einen Teil ihrer Kindheit hat die Autorin in Kuwait verbracht. Dass dort niemand erfahren durfte, dass ihre Mutter Jüdin ist, habe sie damals zutiefst verstört und geängstigt. Ihr Roman wirft denn auch die Frage auf, was mit Kindern geschieht, die die Identität eines Elternteils aktiv verheimlichen müssen. Ihnen wird eine Gratwanderung abverlangt, die tödlich enden kann. Der politisch offenkundig unlösbare Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern führt im Roman zu Resignation und Verhärtung des Protagonisten. "Wer sich für den Frieden entscheidet", befindet Salim, "wählt die Seite der Verlierer." Eine solche Haltung entspricht der Logik von Befreiungskämpfern, die den ideologischen Feind und Kriegsgewinner mit allen Mitteln besiegen wollen. Und sie impliziert die Bereitschaft, sich von elementaren Bindungen loszusagen.
    Claire Hajajs Figuren stecken in einem Dilemma, das ihr selbst sehr vertraut ist. In Beirut, wo sie lebt, wird sie täglich konfrontiert mit humanitären Missständen und Feindschaft zwischen Religionsgruppen. Klug zeigt sie die Trennlinien auch innerhalb religiöser Gemeinschaften und Ethnien auf. Geschichte, Mentalitäten und Emotionen werden von ihr in komplexen Konstellationen verdichtet. Als Leser profitiert man von der Offenheit, die für die Person Claire Hajaj zu einer Lebensbedingung wurde.
    "Ich werde nie ganz wissen, was es heißt, sich jüdisch zu fühlen, denn Jude beziehungsweise Jüdin kannst du nur sein, wenn du dich vollständig zum jüdischen Volk bekennst. Das Gleiche gilt für die Palästinenser. Ich sitze einfach zwischen zwei Stühlen und werde mich nie für eine Seite entscheiden können."
    Claire Hajaj: "Ismaels Orangen".
    Aus dem Englischen von Karin Dufner.
    Blanvalet Verlag, München, 448 Seiten, 19,99 Euro.