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Debütroman
Versehrte Menschen

Aus einem gescheiterten Theaterstück der renommierten niederländischen Theaterautorin Lot Vekemans wurde ihr erster, jetzt ins Deutsche übersetzter Roman. In "Ein Brautkleid aus Warschau" erzählt die Dramatikerin von vergeblichen Chancen und bleibenden Verletzungen, aber auch vom Aufbruch und der Kraft des Neubeginns.

Von Holger Heimann | 21.07.2016
    Bauernhaus in Wiesenlandschaft mit Windmühle, Niederlande, Noord Holland.
    Marlena lebt mit einem verwitweten Bauern auf einem Hof in den Niederlanden. (imago/blickwinkel)
    Menschen, die sich vom Leben betrogen fühlen, werden blind für das Glück der kleinen Dinge. Sie haben nicht nur verlernt, das Gute zu schätzen, auch ihr Mitgefühl verkümmert. So ist es Marlena ergangen. Die junge Frau, die im Mittelpunkt von Lot Vekemans Debütroman "Ein Brautkleid aus Warschau" steht, wächst im ländlichen Polen in einfachen Verhältnissen auf. Bei einem Besuch in Warschau verliebt sie sich in den polnischstämmigen Amerikaner Natan. Als Marlena bemerkt, dass sie schwanger ist, befindet sich Natan bereits wieder in New York, um dort – wie er sagt – seine Familienverhältnisse zu ordnen.
    Von der eigenen Mutter mit Vorwürfen überhäuft, flieht Marlena vom elterlichen Hof. In einem Reisebüro, wo sie einen Flug nach New York buchen will, wird ihr stattdessen ein Heiratskatalog in die Hand gedrückt, in dem sich polnische Frauen holländischen Männern vorstellen. Lange zögert Marlena nicht, denn ob sie in Amerika wirklich willkommen ist, bleibt für sie ungewiss. Die Zweifel, ob Natan ihre Zuneigung voll und ganz erwidert, lassen sich nicht abschütteln. In Holland dagegen erwartet die unbedarfte, meist spontan agierende Frau ein verwitweter Bauer. Marlena hat Glück: Andries ist nicht nur ein verständnisvoller, sanftmütiger Mann, sondern wird auch zum perfekten Vater für das Kind, das Marlena in Holland zur Welt bringt.
    Figur bleibt auch für den Betrachter rätselhaft und undurchdringlich
    Stan wächst heran, der Bauernhof ist seine Welt. Marlena indes wird in diesem Milieu nie heimisch. Nach neun Jahren fährt sie zur Beerdigung der Mutter erstmals wieder nach Hause. Ihren Sohn nimmt sie mit, und sie beschließt, in Polen zu bleiben.
    "Andries fehlte mir nicht. Der Hof fehlte mir nicht. Holland fehlte mir nicht. Das Einzige, was mir jeden Tag mehr fehlte, war das Leben, das ich nicht gehabt hatte. Das Leben mit Natan. Das Leben von dem ich einmal geträumt hatte. Seit ich wieder in Polen war, überkam mich das Gefühl immer häufiger und heftiger. Als würde die Erinnerung daran, wer ich einmal hatte sein wollen, langsam wach gerüttelt."
    Marlena, aus deren Perspektive im ersten Teil des Buches erzählt wird, kümmert sich wenig darum, dass ihr Mann sie anfleht zurückzukommen. Und auch die Wut und der Hass ihres Sohnes machen sie nicht nachgiebiger. Selbst als Stan in einem verzweifelten Akt der Notwehr beschließt, nicht mehr zu sprechen, kann seine Verweigerung das Herz der Mutter nicht erweichen. Die junge Polin ist eine selbstbezogene Frau, die ihren eigenen Lebensweg nicht völlig versteht und so auch für den Betrachter rätselhaft und undurchdringlich bleibt. Beständig ist nur ihr Rückzug ins Schweigen.
    "Ein großes Problem dieser Figuren ist, dass sie nicht sprechen wollen, nicht reden über die Sachen, die wichtig sind für sie. Das ist ein echtes Problem, das Nicht-Reden über das, was da war oder da ist."
    Vertane Chancen und bleibenden Verletzungen
    Auch der niederländische Bauer Andries ist kein begabter Redner. Und er ist überdies ein Zauderer, ein großer Zögernder. So hat erst der brutale Vater, dann die energische Schwester über sein Leben bestimmt. Sie waren es, die ihm die Ehefrauen vermittelten. Andries, dessen Stimme durch den zweiten Teil des Romans führt, hat immer nur Ratschläge und Anweisungen befolgt. Doch der Verrat von Marlena weckt ihn aus einer langen Taubheit und führt schließlich zu einer immer drängenderen Selbstbefragung.
    "Warum hatte ich nie daran gedacht, Stan aus Polen zurückzuholen? Jeden Tag fühlte ich seinen Verlust wie Schläge in meiner Brust und Krämpfe im Bauch, aber was hatte ich unternommen, um ihn zurückzubekommen? Das einzige, was ich versucht hatte, war, mit aller Macht das elende Gefühl zu vergessen. Recht erfolglos."
    Weil er nicht vergessen kann und will, macht er sich schließlich auf den Weg nach Polen.
    "Ich will immer, dass man am Ende das Gefühl hat, dass etwas sich ändern kann oder dass man sich anders entscheiden kann, dass du das Gefühl hast, dass etwas vielleicht nicht jetzt in diesem Moment sich geändert hat, aber dass es möglich ist, dass vielleicht morgen oder nächste Woche etwas passiert, was auch das Leben von Marlena leichter macht."
    "Ein Brautkleid aus Warschau" ist ein Roman, der von versehrten Menschen erzählt. Er tut dies in einer einfachen, nie aufgesetzt wirkenden Sprache. Etwas Trauriges schwingt immer darin mit. Aber dieses bemerkenswerte Debüt einer bekannten Dramatikerin verliert sich nicht in Düsternis und Melancholie. Lot Vekemans erzählt von vertanen Chancen und bleibenden Verletzungen, aber auch vom Aufbruch, von der Kraft des Neubeginns. "Vielleicht bin ich eine optimistische Autorin mit einer pessimistischen Geschichte", sagt sie von sich selbst. Es ist genau diese Verbindung, die ihr Buch so besonders und lesenswert macht.
    Lot Vekemans: "Ein Brautkleid aus Warschau". Aus dem Niederländischen von Eva M. Pieper und Alexandra Schmiedebach, Wallstein Verlag, 256 Seiten, 19,90 Euro.