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Dem Flusse mehr Platz

In den vergangenen Jahrzehnten rückten viele künstliche Deiche immer näher an die Flüsse heran. Natürliche Überschwemmungsflächen wurden dadurch stark verkleinert. Die Folge: Hochwasser erreicht Städte und Dörfer viel schneller als früher. Doch allmählich setzt ein Umdenken ein.

Von Volker Mrasek | 01.07.2013
    Auen sind natürliche Überschwemmungsflächen und gerade dann sehr nützlich, wenn Flüsse bei Hochwasser über die Ufer treten. In Deutschland sind sie allerdings weitgehend verloren gegangen, wie Alexandra Dehnhardt von der TU Berlin jetzt auf der Bonner Fachtagung erzählte. Dabei zitierte die Agrarwissenschaftlerin Untersuchungen des Umweltforschungszentrums Leipzig an fast 80 deutschen Flüssen:

    "Dabei ist rausgekommen, dass je nach Fluss 70 bis 90 Prozent der Auen verschwunden sind - also in den letzten Jahrzehnten ein gewaltiger Verlust an Überschwemmungsfläche. Weil durch Siedlungsentwicklung, landwirtschaftliche Maßnahmen und so weiter die Deiche ja immer weiter an den Fluss gebaut wurden. Das gilt es jetzt zumindest da, wo es möglich ist, wieder rückgängig zu machen durch Deichrückverlegungen."

    An der Elbe sind drei solcher Projekte nach dem Hochwasser von 2002 umgesetzt worden. Der Strom bietet sehr gute Chancen dafür. Von Dresden bis Geesthacht kurz vor Hamburg gibt es keinerlei Staudämme.

    "Das ist einer der am wenigsten verbauten Flüsse Europas. Das ist eine Wahnsinnschance - dadurch, dass über so eine lange Strecke überhaupt kein Querbauwerk vorhanden ist."

    In der Nähe der Ortschaft Lenzen in Brandenburg fließt die Elbe in einem 90-Grad-Bogen. Dort wurde der Deich auf einer Länge von über sieben Kilometern ins Hinterland verlegt. So entstand ein neuer Überflutungsraum mit einer Fläche von 420 Hektar. Es ist das größte Deich-Rückverlegungsprojekt in Deutschland. Und offenbar ein Erfolg. Das berichtet jetzt das Karlsruhe-Institut für Technologie, bei dem die Projektleitung lag.

    Die neue Überschwemmungsfläche in der Lenzener Elbtalaue könne den Wasserspiegel lokal um bis zu 40 Zentimeter senken. Dadurch sei das Umland beim Hochwasser Anfang Juni vor Schäden bewahrt worden. Der Effekt einer Deichverlegung ist dabei mal kleiner und mal größer, wie Alexandra Dehnhardt sagt:

    "Wie viel das bringt, hängt von der morphologischen Struktur der Aue ab, das heißt: Wie schnell wird die volllaufen? Hängt von dem Bewuchs der Aue ab: Ist da Auwald oder ist da Grünland beispielsweise? Es hängt von dem Ort an der Elbe, also jetzt im Flusslauf, ab. Und es hängt natürlich auch davon ab, um was für ein Hochwasserereignis es sich handelt. Also, das ist quantifizierbar. Und dann können Sie im Bereich von ein paar Zentimetern bis 50, 60, 70, 80 Zentimeter Reduktion erreichen. Aber das muss man halt im Einzelfall modellieren und betrachten. Das kann man so pauschal übern Flusslauf nicht sagen."

    Alexandra Dehnhardt forscht am Institut für Landschaftsarchitektur und Umweltplanung der TU Berlin. Dort wurde untersucht, welche Überschwemmungsflächen eigentlich nützlicher sind: große Polder, die man bei einem Hochwasser öffnet und auch nur dann volllaufen lässt oder renaturierte Auen, in die sich Flüsse nach der Deichverlegung wieder ausbreiten können und die deshalb ständig unter Wasser stehen. Die Forscher führten eine ökonomische Kosten-Nutzen-Analyse durch und hatten dabei nicht nur den Hochwasserschutz im Blick.

    "Wenn ich den gesamtgesellschaftlichen Nutzen in den Vordergrund stelle, dann ist eine Deichrückverlegung die sinnvollere Maßnahme. Denn ein gesteuerter Überflutungspolder hat nicht den gleichen Wert wie eine regelmäßig überschwemmte Auenfläche."

    Auen erbringen zusätzliche Ökosystemleistungen. Sie haben eine höhere Artenvielfalt. Ihre Böden und Wälder speichern mehr Treibhausgase. Außerdem wirken Auen im Prinzip wie eine Kläranlage: Sie filtern große Mengen Stickstoff und Phosphor aus dem Fluss, die ansonsten im Meer landen und dort zu einer Überdüngung mit diesen Nährstoffen führen würden.

    Berücksichtigt man all das, dann rechnet sich die Auen-Renaturierung nach den Analysen eher als die Einrichtung von Poldern. Noch einmal Alexandra Dehnhardt:

    "Wenn man peu à peu versucht, an den Stellen, wo es möglich ist, solche Maßnahmen umzusetzen, dann kriegt man sicherlich über die Jahre einen größeren Effekt. Und man sollte sicherlich auch das öffentliche und politische Bewusstsein, was jetzt infolge der jetzigen Hochwasserkatastrophe gestiegen ist, nutzen, um den Flüssen eben wieder mehr Raum zu geben."

    In Sachen Hochwassermanagement könnte man also sagen: Der kluge Mann baut nicht vor, sondern rück.

    "Also, ich würde natürlich aus meiner Perspektive sagen: Die kluge Frau baut rück."