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Dem Leser stockt der Atem

Andrea Maria Schenkels Roman "Tannöd" ist mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden. Dabei bricht er mit den Konventionen und Regeln der Krimikunst. Von Handlung kann im gewohnten Sinn kaum die Rede sein.

Von Detlev Grumbach | 05.02.2007
    Mitte der 50er Jahre, in einer einsamen, bayerischen Gegend: Eine ganze Familie wird ausgelöscht, der Bauer Danner, seine Mutter, die Frau, zwei Kinder und die neue Magd. Ihr Hof Tannöd liegt am Rande eines Dorfes. Das ist Realität. Ein authentischer Fall. Niemand, so scheint es, bekommt etwas mit. Erst als die Tat bekannt wird, hat jeder im Dorf etwas zu erzählen: Düstere Ahnungen, Dinge, die mit den Opfern zu tun haben, auch von Rache und von Schuldgefühlen ist die Rede. Aber hat wirklich niemand etwas bemerkt? Und was genau ist überhaupt geschehen?

    Die geniale Leistung Andrea Maria Schenkels ist es, genau das in der Schwebe zu halten. Denn wenn ihr Roman "Tannöd" mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden ist, dann paradoxer Weise deshalb, weil er mit den Konventionen und Regeln der Krimikunst bricht. Die Strickmuster sind bekannt: Am Anfang steht das Verbrechen. Variante eins: Der Leser kennt den Täter und wird dadurch bei der Stange gehalten, wie die Polizei ihm in einem Katz- und Maus-Spiel auf die Schliche kommt. Variante zwei: Der Leser kennt den Täter nicht: Gemeinsam mit den Ermittlern treibt ihn die Frage: Wer war es? Die Autorin lässt aber schon das Verbrechen von Anfang an im Dunklen. Es ist etwas geschehen, mehr erfahren wir zunächst nicht. Ein Fremder, der nach dem Krieg einen Sommer in dem Dorf verbracht hat, hat in der Zeitung davon gelesen. Er fährt an den Ort des Geschehens. Dann folgen erst einmal eineinhalb Seiten Kyrieeleison: "Herr erbarme dich unser! ... Alle heiligen Mönche und Einsiedler, bittet für sie."

    Mehr Zeit kann man sich kaum nehmen, um eine Handlung in Gang zu bringen. Aber auch von Handlung kann hier im gewohnten Sinn kaum die Rede sein. Keine Polizei, keine Ermittlungen, keine privaten Nachforschungen. Stattdessen einzelne Handlungsfetzen: "Am frühen Morgen, vor Tagesanbruch, betritt er den Raum", so beginnt ein kleines Kapitel. "Marianne liegt wach in ihrem Bett" ein anderes. Und wieder eines: "Marie geht gleich nach dem Abendbrot in ihre Kammer, neben der Küche." Einfache Sätze. In ihrer Kombination erzeugen sie Dramatik. Wie in der Chronik eines angekündigten Todes lassen sie ahnen, dass sich unausweichlich, ohne jedes Erbarmen, etwas anbahnt. Doch wer wird hier zum Täter, zum Opfer oder zum Zeugen?

    In die sachlich-nüchternen Momentaufnahmen hinein montiert die Autorin das, was dem Fremden nach der Tat im Dorf zugetragen wird. "Marianne liegt wach", hatte es geheißen, jetzt: "Sie war eine gute Schülerin..." Präsens - Präteritum - dazwischen das bislang Unaussprechliche. Erste Indizien. Der Fremde hört zu, gibt wieder, was die Leute ihm berichten. Wann sie den Bauern, die Frau, die Kinder, die Magd zuletzt gesehen haben. Wann ihnen aufgefallen ist, dass etwas nicht stimmen kann auf dem Hof. Wie das Vieh gebrüllt hat, weil es kein Futter bekommen hat, weil die Kühe nicht gemolken wurden. Die Nachbarn, der Pfarrer und der Briefträger, die Mitschülerin, der Lehrer und die Schwester der Magd, auch deren frühere Herrschaft und andere - sie alle geben preis, was sie mit dem Geschehen verbindet, erinnern sich im Tonfall ihrer ganz eigenen Sprache. Von Inzest ist auch die Rede, ganz am Rande, von Frömmigkeit, Habgier und Liebe. Das sind aber nur Gerüchte, nur Andeutungen. Doch fast jeder spricht den Satz aus, dass es niemand von hier gewesen sein kann. Nein, im Dorf herrscht Normalität. Bis zu dieser gewaltigen Eruption, auf die alles in diesem 125 Seiten schmalen Büchlein hinausläuft.

    Irgendwie erinnert die friedlich- beklemmende Situation auf dem Dorf, die glatte Oberfläche und die aufgewühlte Gemengelage darunter, an den Erstling einer anderen Krimi-Autorin, an Doris Gerckes "Weinschröter, du musst hängen". Wenn der Vergleich stimmt, hat Andrea Maria Schenkel eine Zukunft als Autorin.

    Seit über 20 Jahren verleihen Literaturwissenschaftler, Kritiker und Buchhändler den undotierten, aber mit großer Aufmerksamkeit bedachten Deutschen Krimipreis. Sie würdigen, so heißt es, Autorinnen und Autoren, "die dem Genre literarisch gekonnt und inhaltlich originell neue Impulse geben". In diesem Fall ist die Preisträgerin, über die man in dem Buch leider kaum etwas erfährt, eine allerbeste Wahl. Die Spannung, die in vielen Krimis durch handwerkliche Tricks über die Dauer der Lektüre hinweg gerettet wird, das, was oft nur "Inhalt" bleibt, gerinnt in diesem Roman ganz zu literarischer Form. Durch die vertrackte Art und Weise, wie die Autorin sich an das Verbrechen herantastet, mit der hohen Kunst der Auslassung, dadurch, wie sie auch das nicht Ausgesprochene im Bewusstsein des Lesers evoziert, rückt sie diesen ins Zentrum des Geschehens. So gering die Rolle des Fremden veranschlagt ist, den die Nachricht von dem Mord anfangs in das Dorf gelockt hat, dieses "Protokollanten des Geschehens", so bedeutsam wird die des Lesers. Unmerklich tritt er selbst an die Stelle eines Beteiligten, in dessen Kopf sich die ganze Tragweite des Falls erst entfaltet. Der Atem stockt dabei - und es fröstelt ihn! Herzlichen Glückwunsch!