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Dem Schöpferischen auf der Spur

Der Kultursoziologe Andreas Reckwitz beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Kreativität - sei es mit der Umgestaltung unserer Städte zu sogenannten "creative cities" oder dem Aufstieg des Kreativen als Berufsprofil in Wirtschaft und Kultur. Seine Überlegungen hat er in einer großangelegten Studie zusammengefasst.

Von Volkmar Mühleis | 01.05.2013
    Über alles darf man sich lustig machen, nur den Spaß darf man in der Kulturindustrie nicht in Frage stellen – so hatten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno es bereits formuliert. Die Pflicht zum Lustigsein wirkt heute vielleicht wie ein alter Hut, aber die Pflicht zum Kreativen will man sich nicht nehmen lassen. Andreas Reckwitz hat in seiner Studie "Die Erfindung der Kreativität" diesen Imperativ des Kreativen untersucht, in all seiner historischen und aktuellen Bandbreite. Und die führt von der Kunst seit der Romantik über ihre Popularisierung in die massenmediale Gesellschaft, angetrieben von der psychologischen Emphase für die Ressourcen des Einzelnen und deren ökonomischer Steigerung. Das Buch von Reckwitz liest sich deshalb so spannend, weil er diese Dynamik zwischen künstlerischem, psychologischem und wirtschaftlichem Denken nuanciert über 350 Seiten hin entfaltet. Dabei hütet er sich vor wissenschaftlichen Ganzheitsansprüchen, wie sie gerade in der Soziologie mit Pierre Bourdieu oder Niklas Luhmann besser nicht nachzuahmende Beispiele gefunden haben. Was hat Reckwitz dazu bewogen, die stets beschwörte Kreativität kritisch in den Blick zu nehmen?

    "Also ich hatte eigentlich immer, das war eigentlich in vieler Hinsicht auch mein Verständnis von moderner Kultur, dass die ästhetischen Bewegungen, also die künstlerischen Bewegungen seit der Romantik in vieler Hinsicht eine Gegenkraft darstellen. Also eine kritische, auch, wenn man so will, eine emanzipatorische Gegenkraft gegen den Mainstream der Rationalisierung der Moderne. Das ist ja auch ein Verständnis, das viele haben und das ich auch hatte. Und da versuchte ich dann auch noch mal mir klarer zu machen, was diese Gegenkraft des Künstlerischen und Ästhetischen ausmacht. Nur dann wurde mir immer klarer – also gerade, wenn ich mir die gegenwärtige Gesellschaft anschaue –, dass es diesen Dualismus ja gar nicht mehr gibt. Also dass diese ehemaligen, ästhetischen Gegenkräfte – wie man sie in der Bohème-Kultur ja noch kannte usw. –, dass die ja mittlerweile massiv in den Mainstream eingesickert sind. Also gerade hier in Berlin, wo ich ja wohne, ist das sehr deutlich – also wenn man an die Kreativindustrie denkt usw. Das heißt also, hier gibt es eine Symbiose zwischen den alten Feinden, wenn man so will – Bourgeoisie und Bohème oder rationalistische Kultur und ästhetische Gegenkultur –, sodass hier eine Komplizenschaft sich mittlerweile ergeben hat, die dann diese vielleicht utopischen Potenziale, die ich selbst auch oder manche andere, im Ästhetischen und der Kunst gesehen haben, in vieler Hinsicht naiv erscheinen lassen."

    Nun kam man natürlich fragen, ob diese Symbiose nicht das Resultat einer stetigen Anpassung der Kunst an wirtschaftliche Bedingungen ist, eine Vereinnahmung ihrer Ausdruckskraft für gutverkäufliche Zwecke. So einfach sollte man es sich aber nicht machen, meint Reckwitz:

    "Also man kann sagen, es steckt immer dieses Aufmerksamkeitsproblem da: Worauf richtet sich eigentlich die Aufmerksamkeit eines Publikums, wenn es etwas Neues, etwas Kreatives zertifiziert? Das gilt ja auch schon für das Kunstfeld im 18., 19. Jahrhundert, ob das für das Theater ist oder ob das für die bildende Kunst ist, ob das für die Musik ist – worauf richtet sich die Aufmerksamkeit? Natürlich, dieses Aufmerksamkeitsproblem, das hat sich mittlerweile potenziert – es gibt natürlich viel mehr Musikprodukte, Filmprodukte, Konsumprodukte usw., als es jemals gegeben hat. Insofern stellt sich noch viel mehr dieses Aufmerksamkeitsproblem – worauf richtet sich die Aufmerksamkeit, worauf fokussiert sie sich? Aber ich würde sagen, das hängt nicht einfach nur von der Ökonomisierung ab. Also da würde man es sich zu leicht machen zu sagen, also gewissermaßen der Kapitalismus ist schuld, oder die Ökonomie ist schuld, wenn die Orientierung an der Kreativität problematisch ist. Also dieses Aufmerksamkeitsparadox, dass eigentlich immer zu wenig Aufmerksamkeit für die vielen neuen Ereignisse da ist, das wird, denke ich, bestehen bleiben, und das war auch schon vor der Ökonomisierung der Fall."

    Zwei Fragen rücken deshalb in den Vordergrund. Zum einen, warum ist der allgegenwärtige Aufruf zur Kreativität ein Problem? Und zum anderen, welche Bedeutung kommt dabei dem zu, was man Ästhetisierung nennt, also die zunehmende Bedeutung der wirksamen Erscheinung von Dingen und Ereignissen? Der Aufruf zur Kreativität weckt Erwartungen – die der Einzelne sich selbst stellt und die an ihn herangetragen werden. In Aussicht lockt ein Leben spannender Entfaltungsmöglichkeiten. In Wahrheit stiehlt der Einzelne sich vor diesem Anspruch gern auch mal davon, um – völlig zu Recht – ein wenig auszuruhen, zu entspannen. Und auf der anderen Seite nehmen im Wirtschaftsleben die Erwartungen selten ein Ende. Der Schriftsteller Pico Iyer hat in der New York Times kürzlich deshalb treffend festgestellt, dass gerade Menschen in schöpferischen Berufen zunehmend abschalten – nicht nur metaphorisch, sondern buchstäblich, indem sie zeitweise vom Internet fernbleiben, kein Telefon anrühren oder sogar mehr bezahlen, um gerade keinen Fernsehapparat im Hotelzimmer zu haben. Kreativität wird zum Problem, wenn sie nicht länger mit Muße einhergeht. So viel zu der einen Frage, warum Kreativität problematisch werden kann. Was genau es mit den Folgen der zunehmenden Ästhetisierung auf sich hat, das erklärt der Kultursoziologe am Beispiel der Wissenschaft:

    "Also wenn man sich das anschaut – also ich schaue in dem Buch ja auch immer historisch zurück –, also im 18. Jahrhundert, als dieser Gedanke des Schöpferischen aufkam, auch in der Philosophie zum Beispiel thematisiert wurde, hat man eigentlich immer den Künstler einerseits und den Erfinder, den Wissenschaftler, auch den Philosophen usw. andererseits als ziemlich gleichberechtigt wahrgenommen. Also als verschiedene Personen, die alle irgendwie schöpferisch sind. Und das hat sich irgendwann verzweigt, also nach dem 18. Jahrhundert letztlich verzweigt, das auf der einen Seite der Künstler so als Original, als Originalgenie immer mehr heroisiert wurde, während der Wissenschaftler natürlich auch als derjenige erschien, der Neues produziert, neue Theorie, neue Erkenntnisse, aber doch in einem rein kognitiven Sinn. Also im Sinne von Wahrheitsproduktion. Und das, was für mich ja mit der Kreativitätsorientierung in der Moderne eng zusammenhängt, das ist ja gerade diese ästhetische Orientierung. Also damit meine ich, dass es eben darum geht, bestimmte sinnlich befriedigende Reize zu produzieren und diese auch zu rezipieren. Nun könnte man sagen, das ist eigentlich für die moderne Wissenschaft nicht charakteristisch, die ist trocken, die ist sachlich. Da geht es eben um neue Theorien, neue Erkenntnisse usw. Nur, das ist ja mittlerweile auch nicht mehr so. Und insofern könnte man sagen, dass auch in der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten auch eine Art Ästhetisierungsprozess stattfindet, dass sich teilweise – also zum Beispiel, es gibt ja in der Mathematik immer die Rede von den ‚nice proofs’, die schönen Beweise, das ist ja auch schon eine relativ oberflächliche Form von Ästhetisierung -, aber wenn Sie etwa die Geistes- und Sozialwissenschaften nehmen, also meinen Bereich, da gibt es ja immer wieder neue Ansätze, neue ‚turns’ usw., die auf jeden Fall, würde ich sagen, auch eine ästhetische Qualität haben."

    Nicht mehr das radikal Neue steht, so Reckwitz, im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses – so wie es etwa noch Karl Marx oder Niklas Luhmann propagierten –, sondern die leichte Wende zum Anderen, zu anderen Perspektiven, zum neuen Blickwinkel, mehr als die Suche nach der Zäsur, dem Bruch, dem ‚Paradigmenwechsel’, wie es Thomas Kuhn etwa beschrieb. Mit all diesen Überlegungen nähert sich der Autor dem kritischen Punkt seiner Studie, nämlich der Einladung zu einem gelassenen Abstand von der, wie er sagt, ‚heroischen Kreativität’, einer Kreativität vor Publikum, mit Leistungsdruck und Legendenbildung. Stattdessen empfiehlt er eine vielmehr ‚profane Kreativität’, eine Kreativität ohne Publikum, die in der Gruppe nur Mitspieler kennt, keine Zaungäste, und die von der findungsreichen Routine im Alltag lebt. Was bedeutet das nun aber für die Kunst als Ausgangspunkt seiner Überlegungen? Diese Frage bleibt am Schluss offen. Seine Studie bietet in dem Sinne vor allem eine überaus anregende und überzeugende Diskussionsgrundlage, woher die Emphase der Kreativität heute rührt. Ob die moderate Findungsgabe aber tatsächlich einen Ausweg aus dem Dilemma bietet, steht auf einem anderen Blatt.

    Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität.
    Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung
    Suhrkamp Verlag, 416 Seiten, 16,50 Euro