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Dem Volk aufs Maul geschaut

Ein wenig keck kommt er daher, der Lehrer und Erzieher Juan de Mairena, eigentlich viel zu respektlos, viel zu unpatriotisch vor allem, um auf die Schüler des späten 19. Jahrhunderts losgelassen zu werden. Doch er ist im Dienst, erschaffen vom spanischen Dichter Antonio Machado. "Sprüche, Scherze, Randbemerkungen und Erinnerungen eines zweifelhaften Schulmeisters" nennt er die Sammlung von Sentenzen seiner Kunstfigur Juan de Mairena.

Von Kersten Knipp | 13.06.2006
    Das Volk mag ein großer Lümmel sein, aber eines versteht es ganz wunderbar. sich auszudrücken. Bunt, anschaulich und vor allem verständlich ist seine Sprache, und darum sollten sich angehende Dichter ein Beispiel an ihm nehmen: "Das Wichtigste", so der Spanischlehrer und Kulturkritiker Antonio Mairena zu seinen Schülern, "ist, gut zu sprechen: lebhaft, logisch, reizvoll. Das übrige fällt euch dann von selber zu." Und daraus lassen sich dann treffliche Sentenzen basteln. Etwa diese: "Gelegentlich ist gesagt worden: Die Köpfe taugen nichts; lasst die Reitstiefel regieren. Das ist sehr spanisch, Freund Mairena. – Das ist ein Allerweltsgerede, lieber Don Cosme. Das spezifisch Spanische ist, dass die Stiefel es nicht immer schlechter machen als die Köpfe."
    Ein wenig keck kommt er daher, der Lehrer und Erzieher Juan de Mairena, eigentlich viel zu respektlos, viel zu unpatriotisch vor allem, um auf die Schüler des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert losgelassen zu werden. Doch er ist nun einmal im Dienst, und darum muss man sich mit ihm befassen. "Sprüche, Scherze, Randbemerkungen und Erinnerungen eines zweifelhaften Schulmeisters" nennt der spanische Dichter Antonio Machado, im Hauptberuf ebenfalls lange Jahre Lehrer, die Sammlung von Sentenzen seiner Kunstfigur Juan de Mairena. Doch so lässig und locker diese Sprüche nun daherkommen, so lang hatte Machado über ihnen gebrütet: Erste Entwürfe waren bereits in den "Poesías Completas" von 1928 erschienen, die Schwelle zur Prosa aber nahmen sie erst 1934, als Beiträge einer Madrider Tageszeitung; doch es brauchte noch zwei weitere Jahre, bis sie, vermutlich im August 1936, als eigenständiges Buch erschienen.

    Größer hätte der Kontrast zwischen dem Erscheinungstermin des heiteren Buches und seinem zeitgeschichtlichen Horizont kaum sein können: Kurz zuvor hatte sich General Franco erhoben und das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt. Machado focht auf Seiten der Republik, leistete ihr mit seinen Waffen – Gedichten, Vorträgen, vermischten Schriften – entschlossen Schützenhilfe. Doch merkwürdig: So engagiert er in der finsteren Realpolitik der kommenden Jahre mitmischte – auf der Flucht vor den Truppen Francos starb der Dichter im Februar 1939 im französischen Collioure -, so zeit- und vergleichsweise harmlos wirken die Äußerungen seiner literarischen Schulmeisterfigur. Das muss nicht schlecht sein, im Gegenteil: Mairena ist ein spanischer Eulenspiegel, ein glänzender Ironiker mit Respekt vor fast nichts und niemandem, am allerwenigsten vor jenen, die glauben, ihn zu den ihren zählen zu können. Auch ihnen hat der aufmüpfige Schulmeister einiges ins Stammbuch zu schreiben.

    Dieses etwa: "Unsere so genannten Linken, die – beiläufig sei´s gesagt – ein bisschen frivol auftreten, rechnen, wenn sie das Flintengeknatter ihrer Zukunftsrhetorik abfeuern, selten mit dem Rückstoß der Gewehrkolben, der, so seltsam es auch scheinen mag, meist heftiger ausfällt als der Schuss."

    Ob es diese, weit vor Ausbruch des Bürgerkriegs wahrgenommene latente und schließlich manifeste Ohnmacht der Linken war, die Machado bewog, zurückzuschauen und seinen Schulmeister lieber als Figur von gestern statt von heute zu konzipieren? Oder wollte er ihm das Ungemach der Gegenwart ersparen? Auf jeden Fall ließ er sein literarisches Alter Ego 1865 in Sevilla zur Welt kommen – zehn Jahre vor seiner, Machados, eigener Geburt. Doch entscheidender noch als die Gnade der frühen Geburt ist das Lied des frühen Todes: Mairena, so wollte es Machado, musste die Welt schon 1909 wieder verlassen.

    Immerhin blieben ihm so die Schrecken des Bürgerkriegs erspart. Und Machado hatte sich eine Figur geschaffen, über die er dem aufklärerisch-liberalen Geist des späten 19. Jahrhunderts huldigen konnte, einem Geist, der einige Jahrzehnte später seine Unschuld – die linken Gewehrkolben lassen grüßen – gründlich verloren hatte. Die einstige intellektuelle Aufbruchsstimmung hatte Machado selbst noch gekannt, nämlich als Schüler der 1876 gegründeten "Institución Libre de Enseñanza", einer privaten, weder den Vorgaben der Kirche noch des Staates unterworfenen privaten Lehranstalt. Eine freundlich-aufklärerische Pädadogik durchwehte die Lehranstalt, deren Geist sich fortsetzt in die Maximen des Juan Mairena.

    Fragt, fragt immerzu, ermuntert er seine Schüler. Doch Fragen zu stellen ist in jener Zeit nicht unbedingt üblich: "In Spanien wird kein Dialog geführt, weil niemand fragt, es sei denn, um sich selbst Antwort zu geben. Wir wollen alle heimgekehrt sein, ohne je irgendwohin gegangen zu sein. Wir sind eigentlich Tölpel." Was umso schwerer wiegt, als die größten Tölpel sich zwar der Hoheit über die Begriffe, aber darum noch lange nicht der über die Vernunft erfreuen. Man muss also fragen, schärft der Lehrer seinen Schülern ein; und zwar auch und gerade dann, wenn die Auskünfte äußerst zweifelhaft ausfallen. Denn eines, zumindest eines lässt sich aus ihnen lernen: "Ihr werdet sehen, dass der Unsinn fast immer eine Spezialität der Antworten ist."

    Eine praktische, aber theoretisch verfeinerte Vernunft: So ungefähr kann man sich das sittlich-intellektuelle Ideal Mairenas und seines Schöpfers vorstellen. Dessen Glaube an das gesunde Volksempfinden dürfte ebenfalls ganz wesentlich biographisch begründet sein: Machados Vater, Antonio Machado y Álvarez, Demófilo" gilt in Spanien als ein Vorläufer der modernen Ethnologie. 1881 gründete er mit Gleichgesinnten die "Sociedad del Folk-lore Andaluz" die "Andalusische Gesellschaft (zur Erkundung) der Folklore." Volkskunst und Wahrheit dachten sich die Mitglieder der Gesellschaft als auf das engste miteinander verwandt, und diesen Glauben vermachte der Vater dem Sohn. Und auch, wenn dieser in seinem dichterischen Werk, vor allem den "Campos de Castilla", ein deutlich weniger idealisiertes Bild des Volkes zeichnete, so schätze er doch dessen scharfsichtigen Sinn für die Realitäten – einen Sinn, der im "Juan de Mairena" zur Freude des Lesers durch alles Sprachgewölk hindurch bis zur Essenz des Realen dringt: "Eine süße Frucht will ich dir schenken, gereift am schwer beladenen Ast des Birnbaums. – Willst du mir sagen, dass du mir eine Birne gibst? – Na klar!"