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Demographie
Die neue Kultur des Alterns

Menschen altern überall auf der Welt ganz unterschiedlich. Während sich Senioren in China und Südeuropa von der Familie pflegen lassen, gründen Rentner in den USA auf eigene Faust Wohngemeinschaften. Der demographische Wandel in viele Industriestaaten sorgt für neue Wohn- und Pflegemodelle.

Von Ursula Biermann | 07.08.2014
    Ein brauner Krückstock lehnt an einem Sessel.
    Ältere Menschen suchen neue Formen des Altwerdens und der Teilhabe an der Gesellschaft. (picture alliance / dpa / Foto: Hans Wiedl)
    "Carpe Diem, enjoy the day. Du weißt nicht, ob du das Morgen hast. Aber andererseits macht man natürlich Pläne. Ich habe drei Bücher ins Englische, ins Spanische, ins Deutsche und ich will's in die anderen Sprachen übersetzen. Ich habe zwei oder drei Bücher halb fertig. Ich sammele jetzt die Weisheiten meiner Vorfahren und vor allem will ich einen Roman über meine Liebesgeschichte machen und da habe ich ein Assignment von einem Verlag, weil die Frau als Liebesobjekt in der modernen Literatur mit 70, 75 aufhört. Und ich habe jetzt eben diese Affäre da mit einem sehr viel jüngeren Mann und es wird ein fast fertiger Roman."
    Lebenspläne einer 92-Jährigen, die noch lange nicht daran denkt, sich so zu verhalten, wie man es von 90-Jährigen erwartet, nämlich sich auf's Altenteil oder ins Pflegeheim zurückzuziehen, anspruchslos, dankbar für jede Zuwendung, falls sie denn kommt.
    Inge Ginsberg will auch ihr Alter selbstbestimmt leben. Jeden Tag. So hat sie es schon immer gehalten. Als Jüdin floh sie aus Wien in die Schweiz, arbeitete dort für den CIA, heiratete, startete eine beachtliche Karriere als Songwriterin für Dean Martin, Harry Belafonte und Doris Day, heiratete in Israel ihren zweiten Mann, ging mit ihrem dritten nach Ecuador. Heute pendelt sie zwischen USA, Israel, Südamerika und der Schweiz. Sie weiß aus eigener Erfahrung, wie man in diesen Ländern mit dem Alter umgeht, denn das Altern findet in den Kulturen der Welt ganz unterschiedlich statt.
    "In Amerika ist das eigentlich so, auch in New York, dass die Alten dann nach Florida ziehen und ein sehr vergnügliches Leben führen und sich von ihren Kindern eben nicht reinreden lassen. In New York hat man ein wahnsinnig schlechtes Gewissen, dass man überhaupt atmet. Da wird man rücksichtslos herumgestoßen und "Old One, get out of the way" oder man wird mit Ellbogen weggetrieben und so weiter. Und nicht so viel anders ist es hier in der Schweiz."
    Unterschiedliche Kulturen des Älterwerdens weltweit
    Nach der Definition der Vereinten Nationen beginnt das Alter weltweit mit 60 Plus, nach der Weltgesundheitsorganisation mit 65. Eine sehr willkürliche Grenze, weil zum Beispiel in vielen Ländern Afrikas nur wenige dieses Alter erreichen.
    Auch die Kulturen des Alterns sind voneinander oft sehr unterschiedlich, selbst innerhalb der einzelnen Länder -, auf dem Land anders als in der Stadt, denn Altern ist vielfältig.
    Professor Andreas Kruse, Alternsforscher und Direktor des Instituts für Gerontologie der Universität Heidelberg, beobachtet Kulturen des Alterns weltweit. Er stellt fest, dass in den Vereinigten Staaten ein Teil der Alten sich zusammen tut, um an klimatisch angenehme Plätze zu ziehen und ihr Leben dort, mit anderen Alten nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen, so wie es auch Inge Ginsberg beschrieben hat. Er registriert dort aber auch eine außerordentlich große soziale Ungleichheit in der Gruppe der älteren Menschen. Viele können sich so ein Leben nicht leisten, sondern müssen sich mit Zusatzjobs ihre karge Rente aufbessern. In Westeuropa zeigt sich Kruse das Alter von einer engagierten Seite.
    "In Großbritannien, wie überhaupt in den nordeuropäischen Ländern, spielt die Eigeninitiative älterer Menschen in der Hinsicht, dass ältere Menschen sich in Vereinen, in Verbänden organisieren und auch etwas für andere, aber auch für ihre eigene Generation tun, eine sehr große Rolle, das bürgerschaftliche Engagement, zivilgesellschaftliche Engagement, ist beispielsweise in den nordeuropäischen Staaten sehr stark ausgeprägt, in den südeuropäischen Staaten finden wir eine starke Akzentuierung des Alters, im Sinne der Mehr-Generationen-Familie wird noch sehr stark der Mehr-Generationen-Aspekt betont.
    Zwei Hände halten sich gegenseitig.
    Jung und alt gemeinsam (picture-alliance/ ZB / Patrick Pleul)
    In Frankreich haben wir beispielsweise eine sehr interessante Entwicklung beobachtet, dass seit der Regierung Sarkozy sehr viel auch über die Verletzlichkeit des Alters gesprochen wird und die Frage, wie eigentlich der Staat hier unterstützend tätig sein kann, aber auch in der Bürgergesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland finden wir eine sehr starke Akzentuierung der Potenzialaspekte des Alters, sodass ich eigentlich sagen würde, das ist eine sehr reiche Mischung."
    Chinesische Alternskultur der Pflege durch die eigenen Kinder
    Im alten China hingegen gehörte zur Alternskultur die Pflicht der Kinder, die Alten zu versorgen. Man tat alles, um die eigenen Eltern, Großeltern glücklich und froh zu machen. Diese Pflicht auszuüben wird heute aber immer schwieriger, weil auch in China die Alten immer älter werden, und weil es seit 1978 die Ein-Kind-Politik gibt. Gegenwärtig gehen die ersten Eltern dieser Ein-Kind-Politik in Rente. Da wäre dann ein Kind für die Versorgung von zwei Eltern und vier Großeltern zuständig oder ein Paar für vier Eltern und acht Großeltern. Im Gegensatz zu früher wohnen sie auch nicht mehr in gleichen Haushalten. Was also tun, wenn die Eltern Hilfe brauchen? Selbst in den chinesischen Städten gibt es kaum Altersheime. Angelika Messmer, Professorin und Leiterin des Chinazentrums an der Universität Kiel:
    "In der Stadt gibt es größtenteils eine Absicherung, die ist im Vergleich zum Land da. Man kann sagen 90 Prozent der Menschen haben eine Rente und haben auch eine Krankenversicherung. Man versucht ja das flächendeckend einzuführen und das heißt, man kann potenziell auch auf eigenen Beinen gestellt leben aber das ist eigentlich in den Köpfen der Alten noch nicht so da. Die wollen gerne versorgt sein. Das ist aber von der Kinderseite her schwer einzulösen weil die auch keine Zeit dafür haben und zu wenige sind. Es gibt hohe Suizidraten, es gibt hohe Depressionsraten, die man feststellen kann, also von daher könnte man schließen, die Alten sind eigentlich in einer prekären Lage im Augenblick."
    Deshalb ist es in China nicht ungewöhnlich, wenn ein Sohn oder eine Tochter ihre Familie für einige Zeit verlässt, um zu den kranken Eltern zu ziehen und diese zu pflegen. Zur chinesischen Alterskultur gehört außerdem der Aufenthalt in den Parks, in den Gärten, Man spielt miteinander Schach oder macht Chi-Qong oder Tai-Chi-Übungen, unbeeindruckt vom vorbeifließenden Verkehr und in aller Ruhe: langsame Bewegungen mit Atem- und Entspannungsübungen. In China versteckt sich das Alter nicht.
    Große Unterschiede in Afrika: Schere zwischen Land- und Stadtleben
    In Afrika finden wir wiederum eine ganz andere Situation vor. Nur ein kleiner Prozentsatz der Bevölkerung wird überhaupt 60 Jahre alt. Von ihnen leben viele auf dem Land. Dort gibt es kaum Arbeitsplätze. Deshalb sind die Kinder zum Studium oder Arbeiten in die Stadt gezogen oder ausgewandert. Die Alten blieben zurück, und müssen von dem leben, was sie auf ihrem Land erwirtschaften. Ohne Nachbarschaftshilfe oder gelegentliche finanzielle Zuwendungen ihrer Kinder wäre das kaum möglich.
    Antony Ahounfack von der Universität Nürnberg stammt aus Kamerun in Westafrika und spricht aus eigener Erfahrung. Er versucht den Kontakt mit seinen Eltern und Großeltern auf dem Land per Telefon zu halten. Er schildert die kamerunische Alternskultur als Beispiel für die vieler afrikanischer Länder:
    "Die Rolle der älteren Menschen in Kamerun ist Traditionsvermittler und wird immer ernst genommen, immer noch. Also in ländlicher Gegend, in Kleinstädten und Dörfern, diese Rolle ist immer noch präsent aber in Großstädten werden sie verantwortlich für die schlechte Wirtschaft und die Situation des Landes gemacht. Dieses ambivalente Altersbild muss man im Hintergrund haben und leider muss man auch beklagen, dass die wirtschaftlich vielleicht nicht sehr gut gestellt sind. Also verglichen zu den vergangenen Generationen sind sie eigentlich nicht signifikant bessergestellt. Also die meisten von ihnen leben in Ungewissheit, man kann sogar von Prekarität sprechen."
    Es lässt sich also kaum von einem einheitlichen Altersbild sprechen, denn in den Städten Afrikas gibt es auch viele gebildete Menschen mit gutem Einkommen. Zwischen der Stadt- und Landbevölkerung klafft eine große Schere, ebenso wie zwischen Arm und Reich. Aber auch in den Städten sind die Alten nicht immer versorgt. Renten bekommen in der Regel nur Staatsbeamte. Die anderen sind wie auf dem Land auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen oder auf jeden Job, den sie ergattern können.
    Auch in unseren Breiten ist die Art, wie man altert nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine soziale Frage. Wer gut ausgebildet und finanziell einigermaßen gut gestellt ist, der altert besser, bleibt länger gesund und lebt auch länger. Im Vergleich der Länder haben die nordischen Länder und die Schweiz uns da noch einiges voraus.
    Anerkennungsproblem von Beiträgen älterer Menschen
    In Deutschland gibt es in vielen Bereichen der Gesellschaft Altersabwertung und Altersdiskriminierung, klagt Harm-Peer Zimmermann, Professor für Populäre Kulturen an der Universität Zürich:
    "Wir haben derzeit eine Situation, in der wir vor allem von rentenfiskalischen oder gesundheitsökonomischen Argumenten dominiert werden. Und eine Frage humanen Alterns ist eben auch zu widersprechen, solchen verbalen Schlagetods wie etwa "Altenlast", "Rentnerberg" oder "die Alten beuten die Jungen aus". Diese Vokabeln finden Sie eigentlich jeden Tag in der Zeitung und es ist unerträglich und nicht auszuhalten, das immer wieder zu lesen."
    Eine Ansicht, die auch Oskar Negt teilt. Er ist selbst auch über 80, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Hannover, und hat mit Theodor Adorno und Jürgen Habermas zusammen selbst ein Stück Wissenschaftsgeschichte geschrieben:
    "Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, sich dessen bewusst zu sein, dass die Menschen in ihrem Älterwerden großartige Beiträge für den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang liefern könnten, also ein Anerkennungsproblem auch ist, nicht dass die Einen produzieren und die Anderen müssen versorgt werden mit den Wertschöpfungsresultaten der Einen. Das führt zu einer grundlegenden Spaltung der Gesellschaft, der wertvollen und der, die nicht mehr gebraucht werden, der Überflüssigen. Die wachsende Armee der Überflüssigen, auf der Grundlage steigender Produktivität ist ein Problem, was dann auch die Alten einbezieht und diejenigen, die in der mittleren Generation leben, leben schon in der Angst, zu den Alten, Überflüssigen zu gehören."
    Die neue Alternskultur wird offener und politischer
    Francois Höpfinger, Professor am Zentrum für Gerontologie der Uni Zürich sieht hier auch schon eine weitere Gefahr heraufziehen.
    "Es zeigt sich immer mehr, dass wir eine Art Zweiteilung des Alters haben in dem Sinne, dass jetzt die jungen Alten, also die Menschen, die gesund, aktiv sind im Rentenalter, die erfahren eine Aufwertung.Wo wir eine negativere Betrachtungsweise feststellen, das ist bei den Hochaltrigen, also Menschen 80 plus, 85 plus. Da konzentrieren sich dann die negativen Bilder zum Altwerden."
    Harm-Peer Zimmermann von der Universität Zürich bemerkt in Westeuropa aber auch eine neue Entwicklung an Alternsstilen und Alternsentwürfen. Er registriert, dass diese neue Alternskultur offener, interessierter, politischer wird. Er hat beobachtet,
    "dass wir überall in den Kommunen Initiativen haben, die darauf hinwirken, etwa generationengerechte Infrastrukturen zu entwickeln. All das geht ja nicht nur von jungen Leuten aus, sondern auch von alten Menschen selbst, die einfach Interesse daran haben, ihre Umgebung zu gestalten, nicht nur aus Egoismus, sondern weil sie für alle Generationen mitdenken. Da wird also etwa der Kindergarten mit dem Altersheim zusammengedacht. Man sollte es nicht gegeneinander ausspielen, sondern das sind intergenerationelle gemeinschaftliche Aufgaben, die wissenschaftlich unter dem Begriff "Caring Communities", also "sorgende Gemeinschaften" zusammengefasst werden."
    Überall auf der Welt werden die Menschen immer länger leben, eine Situation, auf die sich keine Regierung wirklich vorbereitet hat. Ebenso wenig wie auf die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich.
    Eine Prognose für Deutschland
    Wie sich das weltweit auswirken wird, lässt sich nicht vorhersehen. Dafür möchte keiner der Wissenschaftler eine Prognose wagen. Andreas Kruse von der Universität Heidelberg wagt allerdings eine Prognose für Deutschland.
    "Wir werden in Zukunft ältere Menschen haben mit einer erheblichen kapitalen Vermögensbildung, großen finanziellen Ressourcen. Wir werden auf der anderen Seite eine wachsende Anzahl älterer Menschen haben, bei denen wir möglicherweise so etwas befürchten müssen wie ein Prekariat oder eine relative Armut und das bedeutet, dass wir in Zukunft über Fragen nicht nur der Gerechtigkeit zwischen den Generationen sprechen werden, sondern auch einer intra-generationellen Solidarität, das bedeutet, inwiefern können ältere Menschen andere ältere Menschen unterstützen, beispielsweise durch eine finanzielle Umverteilung, aber beispielsweise auch dadurch, dass Menschen, die über bemerkenswerte Ressourcen verfügen, zeitlich, kognitiv, emotional, sozial, sich noch in einem ganz anderen Maße für die Gesellschaft engagieren, um auf diese Art und Weise Gesellschaft zu entlasten und ihr die Möglichkeit zu geben, ältere Menschen zu unterstützen, die über diese Ressourcen nicht verfügen."