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Demokratie
Die Entmachtung der Parlamente

Demokratie wird nicht gefährdet, sondern umgangen. In "Schattenmächte" benennt der Publizist Fritz R. Glunk die internationalen Strippenzieher. G20 zum Beispiel. Politische Entscheidungen werden in Zirkeln und Netzwerken getroffen, die keiner demokratischen Kontrolle unterliegen.

Von Marc Engelhardt | 04.12.2017
    Die Schattenrisse von Menschen erscheinen vor den grell-blauen Leuchtdioden eines großen LED-Displays (Hintergrundbild), Buchcover (Vordergrund)
    Die globalisierte Wirtschaft reguliert sich in den Schattennetzwerken selbst. Dem Staat und letztlich dem Bürger bleibt die Aufgabe, die Folgen zu tragen. (dpa / Maximilian Schönherr / dtv)
    Wer ist verantwortlich für unsere Gesetze? Diese grundlegende Frage einer Demokratie steht am Anfang des Buchs von Fritz Glunk. Und der Autor räumt gleich auf mit unserer Vorstellung, dass es die vom Souverän - dem Volk - gewählten Abgeordneten sind. Deren Aufgaben hätten, so behauptet es Glunk, längst Gremien, Gruppen und Netzwerke übernommen, die meist nicht mal eine Rechtsform, dafür aber umso mehr Macht haben.
    "Die globalen Sachverhalte werden an den Parlamenten vorbei in nicht-gewählten, unbeaufsichtigten Gruppen oder 'bodies' definiert und in transnationalen Regimen als faktisch verbindliche Vorschriften reguliert; zu dieser "informellen Rechtsetzung" schweigt die Öffentlichkeit, weil die praktischen Resultate im Großen und Ganzen akzeptabel sind. Die damit verbundene Entparlamentarisierung wird hingenommen."
    Offiziell wird nur geredet
    Schattenmächte nennt der Publizist Glunk die von ihm auf gut zweitausend geschätzten Körperschaften, die nicht Teil der internationalen Architektur etwa im Rahmen der UN sind. Glunk bezeichnet diese Gruppen als transnational. Einige wenige kennt man: Die G20 etwa, der Zusammenschluss der zwanzig angeblich wichtigsten Industrie-Nationen. Die mit Abstand meisten sind dagegen in der Öffentlichkeit völlig unbekannt, ihre Aufgaben obskur. Gemeinsam ist ihnen der informelle Rahmen, offiziell wird nur miteinander geredet. Deshalb können Entscheidungen transnationaler Netzwerke auch von niemandem kontrolliert oder gar angefochten werden. Und das, obwohl in vielen dieser Gruppen globale Industriebranchen ihr eigenes Recht gestalten. Ohne Aufsicht durch gewählte Volksvertreter, wie Glunk am Beispiel des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht zeigt.
    "Ein privater Club, die Regierungschefs der G20 (keine Organisation, keine Adresse, kein Weisungsrecht, kein Mandat), erklärt etwas für erwünscht; ein zweiter Club, der Basler Ausschuss (ebenfalls keine Organisation, keine Rechtsperson, kein Mandat), hört das und macht sich an die Arbeit. Er übergibt das Ergebnis den Regierungen der G20. Die übernehmen die Maßnahmen formlos und verpflichten sich, sie uneingeschränkt umzusetzen. Zuletzt wird das fertige Paket Parlamenten vorgelegt, die es - weil von den zwanzig Regierungschefs schon vorab gebilligt - durchwinken. Das Parlament hat nur ein Zustimmungsrecht oder sogar nur ein Anhörungsrecht."
    Externer Rat bei komplexen Themen
    Im Basler Ausschuss sitzen vor allem Notenbanker und Bankenaufsichten der elf wichtigsten Industrienationen und 16 weiterer Länder. Der Ausschuss nennt sich in der Gründungscharta die - Zitat - "weltweit wichtigste normgebende Instanz für die Bankenregulierung". Die Legislative, die in der Staatstheorie eigentlich gesetzgebende Gewalt, ist in diesem Gremium nicht vertreten. Dabei geht es um viel, vor allem um viel Geld. Der Basler Ausschuss hat nach der letzten Bankenkrise das Basel III-Abkommen erarbeitet. 4.600 Seiten und technisch so komplex, dass selbst der Internationale Währungsfonds nur mutmaßen kann, womöglich werde sich durch das Abkommen eine deutliche Verlagerung von Risiken zu Lasten der Verbraucher ergeben.
    Die Komplexität der Materie gilt vielen der transnationalen Gruppen als Legitimation. Auch die Zulassung neuer Medikamente ist eine komplizierte Angelegenheit, bei der ein Gremium gerne hilft: "Der Rat" - früher: die Konferenz - "zur Harmonisierung technischer Vorgaben für zu menschlichem Gebrauch bestimmten Pharmaka", kurz: ICH, mit Sitz in Genf.
    Beispiel Pharmabranche
    "Die Erfolge der ICH sind beeindruckend. Die Leitlinien wurden schon sehr früh weltweit, auch von Nicht-Mitgliedern, akzeptiert und in geltendes Recht übernommen. Der internationale Handel mit Medikamenten erfuhr dadurch einen ungeahnten Aufschwung (er ist bis 2015 auf etwa 1 Billion US-Dollar gestiegen)."
    Gegründet wurde der ICH 1990 von den Zulassungsbehörden der EU, Japans und der USA sowie den drei Spitzenverbänden der dortigen Pharmaindustrie. Zusammen sollen sie die Zulassungsbedingungen für Medikamente global harmonisieren. Das klingt gut. Doch Glunk beschreibt, wie der ICH die Tests von Medikamenten auf ihr Krebsrisiko drastisch eingeschränkt hat oder den Einsatz umstrittener Hochtechnologie fordert, die laut Weltgesundheitsorganisation keinen Nutzen bringt, aber durch die hohen Kosten Konkurrenten von Pharmariesen ausschaltet.
    "In einem sehr geschlossenen Club sitzen im engeren Kreis drei Regulierungsbehörden und drei Wirtschaftsverbände zusammen und beschließen Regeln für Produktions- und Vermarktungsaktivitäten der Pharmaindustrie. Das Ziel ist die Abschaffung "unnötiger" Prüfverfahren und anderer Erschwernisse des internationalen Pharmahandels (etwa durch nationale Schutzbestimmungen). Nicht beteiligt sind hierbei die Parlamente, auch nicht die unmittelbar Betroffenen. Die beschlossenen Regeln werden von fast allen Ländern übernommen."
    Die Folgen trägt der Bürger
    Glunk entwirft das erschreckende Bild von Staaten, die die Kontrolle abgegeben haben. Die globalisierte Wirtschaft reguliert sich in den Schattennetzwerken selbst. Dem Staat und letztlich dem Bürger bleibt die Aufgabe die Folgen zu tragen, wenn beispielsweise die Regulierung wie im Fall der Bankenkrise fehlschlägt. Das alles analysiert Glunk mit großem Fachwissen und stets sachlich - Verschwörungstheorie ist seine Sache nicht. Und er geht noch einen Schritt weiter, wenn er sagt, der Aufstieg von Populisten habe genau hier ihre Ursache. In der Entmachtung der Volksvertreter zugunsten von Industrie und Regierungen, der Exekutive.
    "Es gibt keinen Gegensatz zwischen der Exekutive und der Wirtschaft, und es kann keinen geben. In den "bodies" und deren transnationalen Regimen konnten wir eine harmonische Zusammenarbeit, ja eine Symbiose von privaten Normgebern und staatlichen Behörden beobachten. Erstere lassen sich ihre möglichst weiten Freiträume bestätigen. Letztere profitieren von der Wirtschaftsleistung in ihrem Bereich."
    Was tun? Darauf versucht Glunk im letzten Kapitel des Buchs Antworten zu finden, bis hin zu einem Plädoyer für Volkstribune wie einst in Rom. Das ist nicht immer überzeugend, aber die Qualität seines Buchs liegt ohnehin anderswo: Es öffnet die Augen für eine mächtige Maschinerie, die sich im Schatten verbirgt. Dass er diese Schattenmächte ins Licht der Öffentlichkeit holt, macht Glunks Buch so spannend wie wichtig.
    Fritz R. Glunk: "Schattenmächte. Wie transnationale Netzwerke die Regeln unserer Welt bestimmen"
    dtv premium, 187 Seiten, 12,90 Euro