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Demokratie in Krisenzeiten

Wurde die gegenwärtige Krise des demokratischen Kapitalismus schon in den 70er-Jahren vorprogrammiert? Diese These des Soziologen Wolfgang Streeck wird in den Sozialwissenschaften derzeit diskutiert. Uneinig ist sich die Zunft nicht zuletzt über mögliche politische Gegenmaßnahmen.

Von Peter Leusch | 11.04.2013
    "Sehr beunruhigend ist, dass diese Krisen immer schwerwiegender geworden sind, 2008 ist jetzt fast fünf Jahre her – die amerikanische Wirtschaft stockt vor sich hin, und im Mittelmeerraum ist es nun wirklich dramatisch geworden."

    Wolfgang Streeck, Soziologe

    "Unsere politischen Eliten auf nationaler wie auf europäischer Ebene stellen sich dar als hilf- und ratloses Führungspersonal, dem es nicht gelingt, die Eurokrise und die damit verbundene Schuldenkrise in Europa in den Griff zu bekommen."

    Claus Offe, Politikwissenschaftler und Soziologe

    "Ich nenne es eine Regierungspolitik nach dem Matthäusprinzip, weil es im Evangelium des Matthäus heißt: Wer hat, dem wird gegeben. Und wer wenig hat, dem wird das Wenige auch noch genommen."

    So Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler. Politik- und Sozialwissenschaftler diskutieren über die Schuldenkrise in der Eurozone, ihre Ursachen und die Gegenmaßnahmen der Politik. Dabei ist das aktuelle Buch mit dem Titel "Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus", das der Soziologe Wolfgang Streeck, Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung jüngst veröffentlicht, hat ins Zentrum der Diskussion gerückt. Streeck geht in seiner Ursachenforschung weit hinter die Einführung des Euro zurück, bis zur Wirtschaftskrise der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Dort lägen die Wurzeln der heutigen Probleme, so sieht es auch Claus Offe:

    "Ein großer Wendepunkt der Nachkriegsgeschichte sind die Jahre 1974 /75 nach der Aufkündigung von Bretton Woods als einem System der internationalen Regulierung des Handels und der Finanzen, die einsetzende Wirtschaftskrise mit kontinuierlich wachsender Unterbeschäftigung oder Arbeitslosigkeit, das ist ein Einschnitt, insofern folge ich der brillanten Analyse von Wolfgang Streeck durchaus. Mit der Wirtschaftskrise Mitte der 70er-Jahre sei eine Dynamik in Gang gekommen, von Inflation, Arbeitslosigkeit - wir haben es dann mit einem kontinuierlichen Anwachsen der Gesamtverschuldung der Ökonomien, der OECD-Welt insgesamt zu tun, aber auch der EU, insbesondere mit einem steilen Anwachsen der staatlichen Verschuldung."

    Wolfgang Streeck begreift es als Wandel vom Steuer- zum Schuldenstaat. Und beschreibt die Entwicklung so:

    "Staatliche Defizite setzen ein, weil dann natürlich auch Sozialausgaben wachsen, wenn die Arbeitslosigkeit wächst und so weiter. Diese ganze Phase ist eine Phase immer stärker wachsender Verschuldung, nicht nur Staatsverschuldung, sondern alle Sektoren zusammengenommen und am meisten in der Finanzwirtschaft – um ein Beispiel zu geben: In Amerika, wenn Sie alle Schulden addieren, private Haushalte, Staat, Unternehmen, Finanzsektor nehmen, dann war das 1970 eine Summe, die viereinhalb mal so groß war wie das Sozialprodukt. Wenn Sie die Kurve angucken, dann sehen Sie, dass von da an diese Kurve immer weiter steigt, heute liegt sie beim Neunfachen, also verdoppelt über 40 Jahre hinweg. Und es ist überhaupt nicht zu sehen, wie das aufhört. Es geht immer weiter. Ralf Dahrendorf hat, bevor er starb, dafür den Begriff des Pumpkapitalismus geprägt. Und ein Wirtschaftssystem, das in dieser Weise auf Versprechungen zukünftiger Produktion beruht - denn Kredit ist nichts anderes: Ich werde etwas herstellen, was ich dir dann gebe, - das ist in Schwierigkeiten."

    In den 80er-Jahren befreite die Politik die Kräfte des Marktes, weil sie sich von einem entfesselten Marktkapitalismus schnellen wirtschaftlichen Aufschwung versprach. Diese neoliberale Revolution, wie Streeck sie nennt, ist in Europa vor allem mit dem Namen der gerade verstorbenen britischen Premierministerin Margret Thatcher verbunden. Doch die Deregulierung des Marktes bedeutete harte Einschnitte ins soziale Netz, sie wurden auch in Deutschland, allerdings nicht ganz so extrem und mit Verspätung nachgeholt. Denn der Sozialstaat mit seinen Errungenschaften erfüllte auch eine wichtige politische Funktion, solange es die DDR und den sozialistischen Ostblock gab, betont Christoph Butterwegge, Politikwissenschaftler an der Kölner Universität.

    "Weil hier an der Systemgrenze zwischen Ost und West vor allen Dingen die Aspekte des Sozialstaats in den Vordergrund gerückt wurden, die eben nach Osten hin zeigen konnten: Auch im Kapitalismus ist es möglich, dass Arbeiter gut wohnen, dass sie gut leben, dass sie am Wohlstand dieser Gesellschaft einigermaßen beteiligt werden. Nach dem Sieg über den realexistierenden Sozialismus wurde dem Sozialstaat der Krieg erklärt: Der Sozialstaat, so wie man ihn bis dahin kannte, den gab es nun bald nicht mehr, und die Strukturveränderungen, die er erlitten hat in Richtung Agenda 2010 und Hartz IV, die waren so gravierend, dass heute die Gesellschaft sich mehr und mehr spaltet in Arm und Reich, und wir dadurch bedingt nicht nur einen anderen Sozialstaat, sondern wenn man so will auch eine andere Gesellschaft haben."

    Christoph Butterwegge hat "Krise und Zukunft des Sozialstaats" – so auch der Titel seines Buches – untersucht, insbesondere forscht er zum Thema Armut in Deutschland. Die Zahlen und Ergebnisse des aktuellen Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung interpretiert Butterwegge weit kritischer als diese selbst es tut. Die Schere sozialer Ungleichheit gehe in Deutschland immer weiter auseinander, das zeige sich vor allem an der Vermögensverteilung. Christoph Butterwegge:

    "Die ärmere Hälfe der Bevölkerung nennt nur etwas über ein Prozent des Gesamtvermögens ihr eigen und das bedeutet, mehr als 40 Millionen Menschen in der Bundesrepublik verfügen über so wenig, dass man sagen kann, sie leben von der Hand in den Mund. Denn wer kein Vermögen hat, der ist letztlich nur eine Krankheit oder eine Kündigung von der Armut entfernt und das spaltet unsere Gesellschaft mehr und mehr dieser Niedriglohnsektor als Haupteinfallstor von Erwerbsarmut und dann zwangsläufig späterer Altersarmut, der weitet sich immer mehr aus, umfasst inzwischen fast ein Viertel der Beschäftigten."

    Bis heute sind die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010, die Hartz-IV-Regelungen umstritten. Ist es nicht eher ein Abbau als ein Umbau des Sozialstaates? Dabei hat Deutschland aufgrund seiner hohen Produktivität und einer starken Exportwirtschaft relativ günstige Rahmenbedingungen. Viel härter trifft es die ärmeren Regionen und Länder Südeuropas mit ihrer geringeren Produktivität. Und hier erweist sich die Einführung des Euro als fataler Fehler. Kurzzeitig konnten sich dort alle - ob Staat, Unternehmen oder Privatleute - über billige Kredite freuen. Dann aber schnappte die Falle zu. Sie können die Schulden nicht bedienen, weil ihre Wirtschaft nicht konkurrenzfähig ist. Vor der Einführung des Euro hatten diese Länder einen Ausweg: Sie konnten ihre Währung abwerten, dadurch ihre Produkte auf dem Weltmarkt billiger und also konkurrenzfähiger machen. Das geht mit der Einheitswährung nicht mehr. Deshalb müssen sie nun, so nennt Streeck es in seinem Buch, eine innere Abwertung ihrer Lebensverhältnisse vornehmen. Die so genannte neoliberale Rosskur: Löhne runter, Renten runter und staatliche Dienstleistungen streichen. Besonders hart, so Wolfgang Streeck, trifft es die junge Generation:

    "Das ist weitgehend bekannt, dass mittlerweile in Spanien und Griechenland 50 Prozent der, ich glaube, 16-bis 26-Jährigen arbeitslos sind. Wobei man nicht weiß, wie die da mal rauskommen sollen. Und man muss ja sagen, dass für eine Generation, die zehn Jahre lang davon betroffen ist, wenn man sich jetzt die junge Generation anguckt - da gehen Arbeitsfähigkeiten verloren, soziale Integration geht verloren, da können keine Familien gegründet werden, da wohnen die bei ihren Eltern in den kleinen Wohnungen, die es da so gibt, - also es ist eine Katastrophe. Und da kann man nicht einfach sagen: Es ist nur Jugendarbeitslosigkeit."

    Beeinträchtigt sind in Griechenland auch buchstäblich lebenswichtige Versorgungseinrichtungen wie das Gesundheitswesen. Claus Offe:

    "Die Arzneimittelversorgung stockt, die elementaren Dienstleistungen von Krankenhäusern sind nicht selbstverständlich zu bekommen, weil das Gesundheitssystem zusammenbricht, also da ist an vielen Fronten, nachdem Löhne und Renten und öffentliche Dienstleistungen gekürzt worden sind unter dem Austeritätsdikat, die Lage schlechter geworden, perspektivloser."

    Was kann man tun? Wolfang Streeck meint, dass die Politik gegenüber den Kräften des globalisierten Finanzmarktes, die sie selbst entfesselt hat, wie Goethes Zauberlehrling ins Hintertreffen geraten sei. Die Politik betreibt kurzfristiges Krisenmanagement, ihre scheinbaren Lösungen, - immer neue Kredite und Garantien - bewältigen das gegenwärtige Problem nur, indem sie das nächstgrößere vorbereiten. Sie haben lediglich Zeit gewonnen, Zeit gekauft. Denn es gilt: Nach der Krise ist vor der Krise.

    Christoph Butterwege beurteilt das anders. In seinen Augen bleibt die Politik sehr wohl handlungsmächtig und frei in der Wahl, welche Prinzipien oder Interessen sie in ihren Entscheidungen verfolgen will:

    "Natürlich hat die ökonomische Entwicklung bestimmte politische Entscheidungen mit determiniert, aber es gibt auch immer politische Handlungsspielräume. Politik und insbesondere Demokratie heißt, dass es Alternativen gibt, und eine Margret Thatcher, die angefangen hat im neoliberalen Sinne der Formulierung 'There is no alternative' zu suggerieren, man könne gar nicht anders Politik machen, auf diese Art und Weise werden Menschen, die eigentlich andere Interessen haben und die politisch sich wehren müssten gegen solche Versuche, den Sozialstaat zu demontieren – die werden entmutigt, sie fallen in Resignation, weil ihnen ständig auch in den Medien eingeredet wird, das sei eine Art naturgesetzliche Entwicklung – nein das sind politische Entscheidungen, die genauso gut anders fallen könnten, wenn entsprechender außerparlamentarischer Druck auf die Regierenden ausgeübt würde."

    Wolfgang Streeck gelangt in seiner Analyse der letzten 40 Jahre zu einer pessimistischen Prognose: Demokratie und Kapitalismus, die das Nachkriegsdeutschland in Gestalt der sozialen Marktwirtschaft friedlich zusammengeführt hat, streben seit den 1970er-Jahren auseinander – und dabei triumphiert der Kapitalismus über die Demokratie. Demokratie und Kapitalismus hätten nie in einem harmonischen, sondern immer schon in einem äußerst konfliktreichen Spannungsverhältnis zueinandergestanden, meint Christoph Butterwegge:

    "Was zusammengehört sind Demokratie und Sozialstaat. Demokratie braucht in modernen Gesellschaften einen entwickelten Sozialstaat. Wenn man unter Demokratie versteht, dass alle Einwohner eines Landes entscheiden über die Zukunft eines Landes, das heißt einbezogen sind in politische Willensbildung und Entscheidungsprozesse, aber - und das gilt für 600.000 bis 800.000 Haushalte bei uns im Jahr - wer fürchten muss, dass ihm Strom oder Gas abgestellt werden, oder dass die Kinder im Dunkeln ihre Hausaufgabe machen sollen oder in der Kälte eines Winters, wenn die Wohnung nicht mehr geheizt werden kann, wie soll denn unter diesen Bedingungen Demokratie funktionieren. Also ist ein entwickelter Sozialstaat die Voraussetzung dafür, dass Demokratie funktionieren kann und alle Versuche den Sozialstaat zu demontieren, sind im Grunde Bemühungen, die Demokratie zu zerstören."

    Für Butterwegge bildet der Sozialstaat der 60er- und 70er-Jahre einen unverrückbaren Maßstab, ein Niveau, hinter das man weder zurückfallen dürfe noch müsse. Dagegen relativieren andere Sozialwissenschaftler wie Claus Offe die damalige Gestalt des Sozialstaats als ein Produkt günstiger historischer Rahmenbedingungen. Claus Offe:

    "Ich denke, dass Sozial- und Wirtschaftshistoriker heute dazu neigen, die positiven Erfahrungen der 30 oder 25 Nachkriegsjahre, also die positiven Erfahrungen des Westens im dritten Quartal des 20. Jahrhunderts, für eine Ausnahmeerscheinung zu halten, damals war es so, dass Demokratie und Kapitalismus eine wohlgeordnete, stabile sich selbst tragende Synthese eingegangen sind unter Bedingungen des Nachkriegsbooms, des Kalten Krieges, des Systemgegensatzes zwischen Staatssozialismus und liberalem Kapitalismus unter der Herrschaft einer keynesianischen Wirtschaftsdoktrin der Vollbeschäftigung – das war ein Ausnahmezustand, der Mitte der 70er-Jahre an ein Ende gekommen ist."

    Christoph Butterwegge dagegen sieht Chancen für eine Wiederherstellung des Sozialstaats auf hohem Niveau. Dafür fordert er:

    "Die Einführung einer solidarischen Bürgerversicherung. Alle Bevölkerungs¬gruppen einzubeziehen in den Sozialstaat, verstanden jetzt als eine umfassende Sozialversicherung, also auch Freiberufler, Selbstständige, Beamte, Abgeord¬nete und Minister, alle Einkommensarten zu erfassen, nicht nur Lohn- und Gehaltseinkommen, sondern zum Beispiel auch Dividendenzahlungen, Miet- und Pachterlöse, warum sollen die nicht ‚verbeitragt‘ werden – wie der Fachaus¬druck heißt, also einzahlen mit in die gesetzliche Sozialversicherung. Wenn man das machen würde und wenn man auch an die Beitragsbemessungsgrenze gehen würde, bzw. nicht irgendwo Solidarität zu begrenzen bei einer bestimmten Einkommenshöhe von 5800 Euro im Monat im Westen und 4900 Euro im Monat im Osten, würde man auch Millionärseinkommen mit heranziehen, um den Sozialstaat zu finanzieren, dann wäre dieses Fundament des Sozialstaates so stark wieder, dass damit auch ein Fundament für die Demokratie geschaffen würde und damit die Gesellschaft sich auf eine andere Art und Weise entwickeln könnte. Maßnahmen, die mehr soziale Gerechtigkeit schaffen statt weniger."

    Und auf europäischer Ebene? Claus Offe und Wolfgang Streeck sind sich in der Analyse weitgehend einig. Die Einführung des Euro, das heißt Länder mit sehr unterschiedlichen Wirtschafts- und Lebensverhältnissen in eine Währungsge¬mein¬schaft zu bringen, war ein Fehler. Allerdings ziehen sie daraus entgegengesetzte Konsequenzen. Offe plädiert für eine Fortsetzung und Verbesserung des Europrojektes:

    "Weil wir bei einer Rückwärtsbewegung, Renationalisierung, es zu tun hätten mit noch schlimmeren Zuständen in den südlichen Ländern. Aber auch mit einer Zerstörung der Europäischen Union und ihrer Errungenschaften – um das krasse Beispiel Griechenland zu nehmen, eine Rückkehr zur Drachme würde dazu führen, dass die Schulden noch weniger tragfähig sind, weil das verbunden wäre mit einer Abwertung, und die Schulden, die in Euro zurückgezahlt werden müssen, wären dann noch teurer."

    Wolfgang Streeck dagegen kann sich einen Rückbau der Einheitswährung durchaus vorstellen. Und soziale Gerechtigkeit und Demokratie sieht er nicht so sehr in Brüssel und bei der EU gewahrt, eher noch in den Parlamenten des viel geschmähten Nationalstaats. Wolfgang Streeck:

    "Vielleicht geht es darum, Zeit zu gewinnen und auf keinen Fall denjenigen Folge zu leisten, die uns sagen: ‘Gebt das, was ihr an nationaler Demokratie habt, ab, weil ihr dann eine schönere, neuere, wirkungsvollere supranationale Demokratie bekommt‘ – damit ist nicht zu rechnen. Es ist eine Situation, in der diejenigen noch für Korrekturen dieses liberalisierten Kapitalismus stehen, die alles tun, um das was an Resten nationalstaatlicher Demokratie vorhanden ist, mit Klauen und Zähnen zu verteidigen, und sich da nicht irgendwelche schönen Dinge der Zukunft versprechen zu lassen, wo man bisher immer gesehen hat, dass das, was nach Brüssel abwandert, in aller Regel wiederkommt als ein Gebot der Marktöffnung und Liberalisierung, und nicht als Schutz vor den Kräften des Marktes."