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"Demokratie- und Geschichtslehrer" gesucht

Ein Bundespräsident könne die politische Kultur des Landes entscheidend prägen, meint Heinrich August Winkler. Als Beispiel nannte er Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai 1985, in der dieser - 40 Jahre nach dem Zusammenbruch Deutschlands - als erster Bundespräsident von einer Befreiung vom Hitleregime sprach.

Historiker Heinrich August Winkler im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 29.06.2010
    Doris Schäfer-Noske: Der Countdown für die Wahl des Bundespräsidenten läuft. Am Mittwoch wird die Bundesversammlung in geheimer Abstimmung den Nachfolger von Horst Köhler wählen. Und nach dem Rücktritt des Finanzexperten und Seiteneinsteigers wird wahrscheinlich der CDU-Politiker Christian Wulff das höchste Amt in Deutschland bekleiden. Der kündigte an, sich im Falle seiner Wahl wie Friedrich der Große mit klugen Köpfen aus Wissenschaft und Kultur zu umgeben. Dabei sei es auch denkbar, dass er seinen Konkurrenten Joachim Gauck um Rat fragen werde. Gauck hat als Kandidat von Rot-Grün Außenseiterchancen und zieht als Gegenmodell zum Parteipolitiker die Sehnsüchte nach einer Art Bürgerkönig auf sich. Königsersatz, moralische Instanz, Integrationsfigur – wozu brauchen wir heute einen Bundespräsidenten? Darüber spreche ich jetzt mit dem Historiker Heinrich August Winkler. Frage, Herr Professor Winkler: Wie ist denn das Amt des Bundespräsidenten historisch gesehen überhaupt zu dem geworden, was es heute ist?

    Heinrich August Winkler: Am Anfang stand die Entscheidung des parlamentarischen Rats, 1948/49, aus Weimar zu lernen. Das Weimarer Problem war, dieser Präsident war so stark, hatte außerordentliche Vollmachten, war die Instanz, auf die die Parlamentarier immer ihre Verantwortung abschieben konnten, wenn Kompromisse ihnen zu unbequem waren. Und Hindenburg hat ja bekanntlich, obwohl er von Sozialdemokraten und Zentrum im Frühjahr 1932 vor allem wiedergewählt worden war, am 30. Januar 1933 Hitler ernannt. Es sollte, das wollten die Väter und Mütter des Grundgesetzes, so etwas in der Bundesrepublik nicht geben. Deswegen die indirekte Wahl des Bundespräsidenten durch die Bundesversammlung und die Beschränkung seines Amtes auf überwiegend repräsentative Funktionen.

    Schäfer-Noske: Wozu brauchen wir denn dann heute überhaupt noch einen Bundespräsidenten?

    Winkler: Der Bundespräsident hat in entscheidenden Fragen mitzureden, etwa bei der Unterzeichnung von Gesetzen, wo er durchaus Bedenken geltend machen kann, was ja unter Horst Köhler auch geschehen ist. Er hat eine entscheidende Rolle zu spielen, wenn es um die Auflösung des Bundestages geht, aber vor allem kann der Bundespräsident sich als das betätigen, was einige der großen Bundespräsidenten getan haben, nämlich Demokratie- und Geschichtslehrer zu sein. Das ist eine Rolle, die war dem ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss geradezu auf den Leib geschrieben. Er hat entscheidend dazu beigetragen, dass in Deutschland in der Bundesrepublik sich ein positives Verhältnis zum Widerstand gegen Hitler herausbildete. Das war die große, in manchen Punkten auch anfechtbare Rede, die er am zehnten Jahrestag des Attentats vom 20. Juli 1944, also im Jahre 1954, in Berlin gehalten hat. Und ein klassisches Beispiel, das vielen noch in der Erinnerung ist, das ist die große Rede von Richard von Weizsäcker zum 8. Mai 1985, also 40 Jahre nach dem Zusammenbruch Deutschlands, wobei er eben die zentrale Aussage traf: Das war unsere Befreiung. Also ein Bundespräsident kann die politische Kultur des Landes entscheidend prägen, wenn er es versteht, in langen, historischen Perspektiven zu denken und Demokratie als eine immerwährende Aufgabe zu vermitteln.

    Schäfer-Noske: Das heißt auch eine moralische Instanz, eine Integrationsfigur?

    Winkler: Ja, und das gilt über Deutschland hinaus. Johannes Rau zum Beispiel hat sich als Präsident in Europa begriffen und einige wichtige Reden zum Thema der europäischen Einigung gehalten. Wenn ein Bundespräsident das tut, muss er sich natürlich mit der Bundesregierung abstimmen. Aber wenn das geschieht, dann können Grundsatzreden, die über den Tag hinausweisen, etwas sein, womit der Bundespräsident starken moralischen und politischen Einfluss ausübt.

    Schäfer-Noske: Was für einen Bundespräsidenten brauchen wir denn für die Zukunft?

    Winkler: Bei uns beruht die Demokratie ja nicht auf einer erfolgreichen Revolution wie in Amerika oder in Frankreich. In Deutschland bedurfte es des katastrophalen Scheiterns einer Auflehnung gegen die politischen Ideen des Westens, in Gestalt des Dritten Reiches, um den Deutschen klarzumachen, was sie an der westlichen Demokratie haben. Jürgen Habermas hat 1986 von der vorbehaltlosen Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens gesprochen, und ich denke, das ist etwas, was für einen Bundespräsidenten eine ständige Aufgabe bleibt, auch in Krisenzeiten den Wert der Demokratie glaubhaft zu vertreten. Und ich füge noch einmal das Stichwort Europa hinzu. Bundespräsidenten haben sich auch als Kämpfer gegen bornierten Nationalismus verstanden, als Vertreter des europäischen Gedankens, und das wäre etwas, was ich mir vom nächsten Bundespräsidenten sehr wünschen würde.

    Schäfer-Noske: Das war der Historiker Heinrich August Winkler anlässlich der Wahl des Bundespräsidenten morgen.