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Demokratische Verrenkungen
"Man ist dagegen, stimmt aber dafür"

Wolfgang Schäuble plädiert für ein drittes Hilfspaket, obwohl er lieber einen Grexit hätte, die Regierung Tsipras lässt sich auf einen harten Sparkurs ein, obwohl sie ihren Wählern das Gegenteil versprochen hatte. Was komisch klingt, sei in einer Demokratie Alltag, sagte der Politikwissenschaftler Jürgen Falter im DLF. Griechenland sei nun allerdings eine Ausnahme.

Jürgen Falter im Gespräch mit Gerd Breker | 17.07.2015
    Prof. Jürgen Falter, Politikwissenschaftler, Universität Mainz
    Prof. Jürgen Falter, Politikwissenschaftler, Universität Mainz (picture alliance / Erwin Elsner)
    Gerd Breker: Seltsame Mehrheiten in Griechenland. Das Parlament stimmt für etwas, was noch im Referendum abgelehnt wurde, Ministerpräsident Tsipras ist nicht von den Reformen überzeugt und fordert dennoch die Zustimmung seines Parlaments. Der Bundestag stimmt auch etwas seltsam ab, die Linkspartei stimmt dagegen, ist aber eigentlich für Hilfe für Griechenland. In der Union herrscht große Skepsis, eigentlich will man nicht noch mehr Milliarden den Griechen geben, aber man tut es am Ende doch. Demokratische Abläufe dieser Tage, sie funktionieren so. Man ist dagegen und stimmt dafür, in Athen wie auch in Berlin. Darüber reden wollen wir nun mit dem Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen Falter. Guten Tag, Herr Falter!
    Jürgen Falter: Guten Tag, Herr Breker!
    Breker: Man stimmt für etwas, obwohl man eigentlich dagegen ist. Eine seltsame Art von Demokratie.
    Falter: Das ist gar nicht so seltsam. Das ist eigentlich parlamentarischer Alltag. Es dürfte kaum einen Abgeordneten geben, der nicht schon mal für eine Sache gestimmt hat, gegen die er eigentlich war oder wo er nicht wenigstens ein schlechtes Gefühl dabei hatte. Das gehört zum parlamentarischen System dazu, und es gibt ganz viele verschiedene Gründe, warum das so ist. Man will seine Regierung nicht stürzen, sondern loyal eben abstimmen, obwohl man anderer Meinung ist. Man unterliegt einer Fraktionsdisziplin, man ist sich nicht so ganz sicher, was man machen soll und orientiert sich dann an den Leitwölfen, an der Fraktionsführung beispielsweise. Wie gesagt, das ist nichts wirklich Außergewöhnliches. Außergewöhnlich ist das, worüber abgestimmt wird, nicht wie abgestimmt wird.
    Breker: Selbst der aufrechte Finanzminister Wolfgang Schäuble hält offenbar den zeitweiligen Grexit für die eigentlich bessere Lösung, fordert aber das Ja für weitere Verhandlungen. Schon seltsam.
    Falter: Tja, Gott, er hat keine Mehrheit für einen zeitweiligen Grexit auf der europäischen Ebene bekommen, er hat sie wohl auch nicht innerhalb der Fraktion. Das könnte er vielleicht kriegen, aber dann müsste er sich gegen Angela Merkel stellen und er hätte sie noch lange nicht im Bundestag. Die würde er wahrscheinlich nicht kriegen dort. Das heißt mit anderen Worten, er empfiehlt in seinen Augen das kleinere Übel, und das ist in diesem Falle, diesem Verhandlungspaket zuzustimmen und ein weiteres Hilfspaket, Verhandlungen darüber zu ermöglichen.
    Breker: Wenn wir mal umschwenken auf Athen. In Griechenland zerstört der Ministerpräsident Tsipras seine eigene Partei auf diese Art.
    Falter: Griechenland steht vor einem ganz anderen Dilemma, einem schlimmeren natürlich. Da ist eine Partei gewählt worden, da ist eine Regierung ins Amt gekommen, die es sozusagen mit dem Gegenteil von dem, was jetzt verabschiedet worden ist, angetreten ist, die mit Versprechungen angetreten ist, die Hoffnungen geweckt haben. Und die muss sie jetzt alle enttäuschen, und zwar deswegen, weil ihr auf der europäischen Ebene kein anderer Weg offen steht. Weil auch fiskalisch, finanziell kein anderer Weg da ist. Etwas anderes würde vermutlich den finanziellen Zusammenbruch Griechenlands bedeuten. Also siegt in diesem Falle die Verantwortungsethik über die Gesinnungsethik.
    Breker: Also sprich, das große Ganze, wenn das da ist, dann muss das Kleine zurückstehen?
    Falter: Das ist oft im Leben so, und in diesem Falle ganz besonders deutlich.
    "Das ist eine Güterabwägung"
    Breker: Hat es etwas damit zu tun, dass es hier um den Euro geht, um eine Währung, die nicht unterfüttert ist mit einer demokratischen Legitimation, einer Währungszone, in der alle einzeln ihre Politik machen, und keine gemeinsame?
    Falter: Das ist sicherlich einer der Geburtsfehler, einer der Strukturfehler des Euro. Das wusste man eigentlich schon länger und hatte immer nur das Prinzip Hoffnung, dass es doch gut gehe, dass sozusagen der europäische Gedanke das dann doch trüge. Und das hat es ja auch jetzt wieder getan. Das Problem ist, dass das, was von den Griechen gefordert wird von den übrigen europäischen Partnern, dass das schmerzhafte Einschnitte bedeutet und soziale Errungenschaften – man könnte es ruhig in Anführungsstrichen schreiben – wieder zurück abwickeln. Das kostet immer nicht nur eine ungeheure Kraft, das kostet Loyalität, das kann zu einer Gesellschaftskrise führen, und auf dem Wege könnte durchaus Griechenland sein.
    Breker: Und das führt dann auch zu diesen seltsamen demokratischen Verrenkungen. Man ist dagegen, stimmt aber dafür.
    Falter: Man ist dagegen, stimmt dafür. Das ist eine Güterabwägung. Man hat sozusagen zwei Werte, die in etwa gleich stark sind in der eigenen Einschätzung und muss sich zwischen einem von beiden entscheiden. Und dann hat die griechische Regierung das gewählt, ja Gott, was ihr eigentlich als einziger Ausweg wirklich offen blieb. Sonst hätte sie zurücktreten müssen und das Land sich selbst überlassen müssen, und das wäre vermutlich die schlechtere Alternative gewesen.
    Breker: Stellt sich nur die Frage, Herr Falter, wie man das dem Bürger, dem Wähler verkaufen will.
    Falter: Ja, das ist eine hochkomplexe Materie, die ist schwierig, das Verständnis für parlamentarische Entscheidungsvorgänge ist bei uns ja nicht besonders stark ausgeprägt. Man geht eher von sich selber aus, obwohl man auch da Situationen konstruieren könnte, wo man in ganz ähnlichen Entscheidungsdilemmata ist. Und da ist die Aufgabe der Medien einerseits, der Politik andererseits, und die Aufgabe der Gutwilligen. Aber wenn Sie ins Netz schauen, da überwiegen meines Erachtens die Hämischen und die Zyniker.
    Breker: Eindeutig. Herr Falter, wenn wir mal auf Francois Hollande gucken. Er hat ja dieser Tage gefordert, dass die Eurozone eine eigene demokratische Legitimation bekommen müsse. Hat er da nicht irgendwo Recht, und haben wir dann ein weiteres Parlament der Eurozone.
    Falter: Es ist sicherlich wahr, dass die politische Unterfütterung fehlt. Es fehlt vor allen Dingen die wirtschaftspolitische Unterfütterung des Euro. Es ist auch ein kulturelles Problem, das muss man noch dazu sagen. Da hat er demokratietheoretisch gesehen ganz bestimmt recht, aber die Frage ist, ob das nicht zu einer weiteren Spaltung der EU in diejenigen, die den Euro haben, und diejenigen, die ihn nicht haben, führen könnte. Und es ist die Frage, ob tatsächlich selbst Frankreich zu diesem Souveränitätsverzicht bereit ist, der damit einherginge. Denn da könnte man wohl in der Tat dann von anderen, von Nicht-Franzosen überstimmt werden, die einem dann Vorschriften machten hinsichtlich nicht nur der Steuern, sondern der Finanzpolitik, möglicherweise sogar des Sozialsystems, das ja auch irgendwie damit verbunden ist. Ich bin sehr skeptisch, dass das durchsetzbar ist.
    Breker: Im Deutschlandfunk war das die Einschätzung des Mainzer Politikwissenschaftlers Jürgen Falter. Herr Falter, ich danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.