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Demontage einer Ikone

Auch mehr als 40 Jahre nach seinem Tod verkörpert Ernesto Guevara de la Serna die Revolution ohne Alltag. Gerd Koenen interessiert der Mensch hinter dem Mythos; aber er betreibt nicht nur Bilderstürmerei und Denkmalsturz, sondern forscht auch nach den Motiven, die Che antrieben. Dabei wird auch klar: Er verstand nichts von Land und Leuten, die er befreien wollte.

Von Martin Ebel | 27.01.2009
    Er war wohl nicht der meistfotografierte Politiker, aber sein Bild das meistvervielfältigte und das ist es, mehr als 40 Jahre nach seinem Tod, immer noch. Es ist fast immer dasselbe Bild, ein aus einem Gruppenphoto aus dem Jahr 1960 herausgeschnittenes Porträt von Alberto Korda, zur Schwarzweiss-Ikone vereinfacht, aller Zwischentöne beraubt. Es schmückt kubanische Kindergärten und Hauswände im Gaza-Streifen, es hing in der Zelle des RAF-Terroristen Andreas Baader und in manch einer linksbürgerlichen Wohngemeinschafts-Küche. Längst hat sich auch die Werbung seiner bedient; und im jüngsten österreichischen Wahlkampf war der Rechtpopulist Heinz Strache in einem Rap mit Ches Kommandantenmütze zu sehen.

    Che Guevara war, mehr noch als Fidel Castro, das Gesicht der kubanischen Revolution, die der Beginn einer noch größeren Umwälzung sein sollte, erst der Dritten, dann der ganzen Welt. Er war jung und schön, seine Augen leuchteten und blickten in eine Ferne, in die man ihm gern folgen wollte; er war klug und selbstlos - hatte er nicht sein Ministeramt niedergelegt, um im Dschungel für die Befreiung der Unterdrückten zu kämpfen? Und dann war er tot, ein Märtyrer des Befreiungskampfs, ein Opfer des US-Imperialismus. Die Bilder vor und nach der Ermordung am 9. Oktober 1967 in La Higuera, Bolivien, zeigen ihn hingestreckt wie Christus nach der Kreuzabnahme. Der Kult um den Toten begann auch sofort und verbreitete sich um die Welt. Als "Jesus mit der Knarre" hat ihn Wolf Biermann bedichtet, für Jean-Paul Sartre war er der "vollkommenste Mensch seines Zeitalters".

    In Kuba sieht man heute selten Bilder von Castro; Che aber ist überall. Er verkörpert die Revolution ohne Alltag, den Wechsel auf die Zukunft, der in der tristen Realität des Armuts-Sozialismus längst geplatzt ist.

    Gerd Koenen interessiert der Mensch hinter dem Mythos; aber er betreibt nicht nur Bilderstürmerei und Denkmalsturz, sondern forscht auch nach den Motiven, die Ernesto Guevara de la Serna antrieben (so sein voller Name, er war Urenkel des letzten Vizekönigs von Peru). Für diese Außen- und Innensicht ist Koenen geradezu prädestiniert, hat er doch selbst den süßen Giftbecher der Ideologie bis zur Neige geleert.

    Zehn Jahre war er ein führendes Mitglied des sektiererischen "Kommunistischen Bundes Westdeutschlands"; inzwischen erforscht er als undogmatischer Historiker jene Bewegungen, die ihn einst faszinierten. Aber nicht als rachsüchtiger Renegat, sondern als behutsamer Entzifferer einer Botschaft, die ihm nah und fremd zugleich ist. Außerdem kann er gut erzählen. Das alles macht sein Buch "Traumpfade der Weltrevolution" zu einer faszinierenden, sowohl erhellenden wie auch erschreckenden Lektüre. Allenfalls kommen die in der Tat skandalösen Verhältnisse, gegen die die Revolutionäre angingen, etwas zu kurz.

    Koenen macht Che nicht den Prozess; er legt die Fakten auf den Tisch, zitiert zahlreiche Selbstzeugnisse - Tagebücher, Briefe, Gedichte - des belesenen und ausdrucksstarken "Comandante"; bewerten und urteilen können wir dann selbst. Das Belastungsmaterial ist allerdings erdrückend. Che Guvara hat nicht nur vor seinen eigenen moralischen Ansprüchen versagt, sondern auch vor der nackten Realität. Er ging, wenn es der Revolution, seinem Götzen, diente, über Leichen: Im Guerillakrieg in der kubanischen Sierra Mestra dezimierte sich das kleine Häuflein Revolutionäre selbst durch die Exekution von sogenannten "Verrätern"; hier legte Che, als Arzt eigentlich dem hippokratischen Eid verpflichtet, auch selbst Hand an. Nach dem Sieg zeichnete er die Hinrichtungsurteile ab und richtete Lager für Regimekritiker ein.

    Nichts verstand er von Land und Leuten, die er befreien wollte. Seine Wirtschaftspolitik (er war Industrieminister und Direktor der Staatsbank) ruinierte Kuba, das zu den prosperierensten und entwickeltsten Regionen in Lateinamerika zählte, in wenigen Jahren. Koenen bringt drastische Beispiele: Che nahm persönlich an der Zuckerrohrernte teil und fehlte so im Ministerium; er bestellte 1000 Exemplare einer Schneidemaschine, von der es nicht einmal einen funktionstüchtigen Prototyp gab. Aus den Widersprüchen zwischen Planung und Realität flüchtete er sich in den Traum vom Neuen Menschen, der nicht "niederen" materiellen Anreizen folgt, sondern nur der revolutionären Idee.

    Den Kongo wollte Che befreien, ohne die dort kämpfenden Warlords überhaupt zu fragen: "Ich erpresste sie mit meiner Anwesenheit", kommentierte er das Verhalten selbst. Der erste Versuch, die kubanische Revolution zu exportieren, endete in einem Desaster.

    Ähnlich erging es einem Unternehmen in Argentinien, an dem Che allerdings nicht persönlich teilnahm. Und auch in Bolivien begab sich der Weltenbefreier in den Dschungel, ohne sich wenigstens mit der kommunistischen Partei des Landes abzusprechen; deren Unterstützung blieb folglich aus. Die Bauern, die Ches Trupp erlösen wollte (er nannte sich hochtrabend "Nationale Befreiungsarmee Boliviens", zählte aber höchstens 40 Mann), die Bauern waren damit aber gar nicht einverstanden und benachrichtigten stattdessen den nächsten Armeeposten.

    Koenen sieht in diesem letzten Unternehmen des Che suizidale Züge, einen "halbbewussten Marsch in den Tod"; vielleicht zu Recht, wissen kann man das nicht. Sicher ist, dass dieser Marxist sich zwar vollgesogen hatte mit den Büchern der materialistischen Theoretiker, aber im Grunde seines Herzens ein radikaler Romantiker war und blieb. Seinem Endziel, der Revolution, ordnete er alles unter, nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das seiner Mitmenschen - in unbegrenzter Zahl: "Wir müssen den Weg der Befreiung auch dann gehen, wenn er Millionen atomarer Opfer kosten sollte", sagte er 1962 während der Raketenkrise. Castro, der Realist, dem Koenen ebenfalls lange Ausführungen widmet, arrangierte sich mit der Sowjetunion und den Grenzen des Möglichen; das brachte ihn und Che endgültig auseinander.

    Im Kleinen spiegelt sich das Leben des Che in seinen Bewunderern. Einer von ihnen widmet Koenen besondere Aufmerksamkeit. Es ist die in Argentinien und Ostdeutschland aufgewachsene Tamara Bunke alias "Tania", die es selbst schon zur Legende und zu mehreren Biografien gebracht hat. Sie war eine brave Parteiaktivistin, die nach Höherem, Aufregenderem strebte, und das Aufregendste war damals Kuba. Nicht ganz zur Freude der SED, der sie auch als Stasi-Zuträgerin diente, fuhr sie nach Havanna und stellte sich dem neuen Staat zur Verfügung. Che schleuste sie in La Paz ein, wo sie Zugang zu höheren Kreisen erlangte und die Guerilleros mit Informationen versorgen sollte. Um so wütender war der "Comandante", als er Tamara in seinem Dschungelcamp antraf. Sie machte dann die erschöpfenden Märsche von einem Schlupfwinkel zum nächsten mit, zunehmend schwächer, gemobbt von ihren Mitkämpfern, denen eine (zudem noch unantastbare) Frau in ihren Reihen nicht passte.

    Das Ende war kläglich und schrecklich. Die Gruppe, in der Tania sich befand, wurde verraten, sämtliche Mitglieder beim Überqueren eines Flusses erschossen. Che, der schwer an Asthma litt und keine Medikamente mehr hatte, fiel einige Wochen später den Regierungstruppen in die Hände. Die fragten in der Hauptstadt an, was mit der wertvollen Beute geschehen sollte, und erhielten als Antwort das Codewort "700". Das war das Todesurteil. Und es war der Beginn eines Kults, den Koenen jetzt gründlich demontiert hat. Nicht als erster, aber gewiss am gründlichsten.

    Gerd Koenen: Traumpfade der Weltrevolution. Das Guevara-Projekt.
    Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 602 S., 24,95 Euro.