Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Demütige Chronik

Alexandria steht - wie kein anderer Ort - für ein Weltbild. Die von Alexander dem Großen im Nildelta gegründete, viele Jahrhunderte lang eigenständige Stadt erlebte ihre erste Blüte zur Zeit der Ptolemäerherrschaft in den drei Jahrhunderten vor Christus. Der Name dieser Herrscher steht bis heute für die Vorstellung von der Welt als Scheibe. In der Bibliothek von Alexandria wurde alles errechnet und diskutiert, was aus dieser Vorstellung folgt, komplizierte mathematische Gebilde, die aus falschen Voraussetzungen hervorgingen. Eine gigantische Ansammlung unnützen Wissens.

Peter Michalzik | 14.04.2004
    Hier wurde aber auch viel weiter gedacht und durch Beobachtung und gedankliche Schärfe das moderne heliozentrische Weltbild vorweggenommen. Und wie in der Astronomie war Alexandria in allen Wissenschaften der damaligen Welt führend - zwischen Geographie, Erathosthenes lehrte hier, und Dichtung, einer der ersten Leiter der Bibliothek war Kallimachos. Euklid und Archimedes entwarfen im alexandrinischen Museion ihre revolutionären Weltanschauungen. Zumindest wenn wir Jean-Pierre Luminet und seinem Buch Alexandria 642 folgen, wogegen nichts spricht.

    Die berühmte Bibliothek, in der bis zu einer Million Schriftrollen versammelt waren, war also weit mehr als eine Ansammlung von Papyros, sie war die Verwirklichung eines Ideals, von Platons Akademie oder Aristoteles Gymnasion, hier existierte über Jahrhunderte ein Zentrum des Weltwissens und seiner Diskussion. Alexandria, das war die Stadt, in der die Weltbilder produziert wurden.

    Vor allem darum, den Ort des Wissens und Denkens, geht es in Jean-Pierre Luminets historischem Roman Alexandria 642. Welchen Stellenwert räumt eine Gesellschaft dem Wissen ein? Welche Voraussetzungen brauchen wir, um zu treffenden Vorstellungen der Welt zu gelangen? Wie wird das Wissen weitergegeben, welchen Gefahren war und ist es ausgesetzt? Warum wird es vernichtet? Und: Wie ist es zu retten? Um diese Fragen kreist das Buch des Astrophysikers Luminet, Forschungsdirektor am Observatorium von Meudon. Man spürt dabei deutlich seine flammende Parteinahme für die freie, sich in Diskussion und Argument entfaltende Wissenschaft. Diesem Ideal huldigt das Buch auch stilistisch.

    642 ist das Jahr, in dem Alexandria endgültig von den Arabern unter Amr ibn el-Ass erobert und die Bibliothek zerstört wurde. Luminet nimmt dieses Datum zum Anlass einer geschickten Konstruktion, durch die er seine Wissenschaftsliebe schriftstellerisch voll ausleben kann. Drei Mitglieder der Bibliothek verteidigen in ausführlichen Exkursen das Buch und das Wissen gegen den Wüstensohn Amr, der nichts Gedrucktes neben dem Wort des Propheten gelten lässt - zumindest sieht es anfangs so aus. Durch diese Plädoyers hat Luminet Gelegenheit, große Rekonstruktionen der Geschichte Alexandrias zu entwerfen, die nicht so trocken wie Schulstoff sondern eben so leidenschaftlich und schwungvoll wie Verteidungsreden vor uns erstehen. Sie sind informativ, historisch genau rekonstruiert - und wo die Geschichtsschreibung nicht weiter weiß, füllt er die Lücken plausibel und phantasievoll.

    Die Verteidiger sind der alte griechische Philosoph Philoponos, der Vertreter des weisen Alexandria, der sarkastische jüdische Arzt Rhazes, der Vertreter des gewitzten Gedankens, und die schöne, junge Mathematikerin Hypathia. Ihre Stimme ist entscheidend, weil sie neben dem Wort auch die Verführung einzusetzen weiß. Bücher - auch das eine Botschaft Luminets - sind alles andere als eine staubtrockene Angelegenheit.

    Letztlich aber haben alle drei Verteidiger leichtes Spiel, da sich Amr als gebildete Persönlichkeit auf der Höhe seiner Zeit erweist. Die Bibliothek aber wird - wie ja auch die Geschichte lehrt - trotzdem zerstört. Wie es dazu kommt - diese letzte Wendung des Buchs, soll hier nicht verraten werden, in ihr zeigt Luminet nicht nur, dass er ein geschickter Historiekonstrukteur ist, sondern versteckt er auch sein Plädoyer für Toleranz.

    Trotz dieser Vorzüge ist das Buch nicht so spannend und ergreifend geworden, wie man es sich ausmahlen könnte. In der Charakterisierung seiner vier Hauptfiguren ist Luminet etwas stereotyp. Psychologie zählt nicht zu seinen schriftstellerischen Stärken. Und wenn man sein Buch zum Beispiel mit den durchaus verwandten Passagen aus Thukydides "Peleponnesischem Krieg" vergleicht, etwa dem Dialog der Griechen mit den Meliern, sieht man deutlich, was den Unterschied zwischen archaischer und epigonaler Kunst ausmacht. Gegen die kompromisslosen Dialoge von Thukydides, die auch in Alexandria zu lesen waren, wirken Luminets Wortgefechte doch etwas matt.

    Am interessantesten ist das Buch, wo es sich auf heutige Problemstellungen bezieht, wo in den Vertretern Alexandrias die Verfechter eines westlichen Weltbilds im positiven aufgeklärten Sinn sichtbar werden und wo Amr als Vertreter der dunklen Bedrohung auftaucht, die sich dann als gar nicht so finster erweist, wo es um die alte aber nicht auszurottende Idee geht, dass Kultur verdirbt, egal ob die Natur des Menschen oder den rechten Glaube, wo es um die Auseinandersetzungen zwischen Philosophie und Religion geht. Wer Luminets Buch gelesen hat, dessen Sinn ist geschärft für die Gefährdungen des Wissens.

    Alexandria 642 ist also kein Bibliotheksbuch im herkömmlichen Sinne, Ecos Der Name der Rose oder die Bibliothek von Babel von Jorge Luis Borges spielen als Vorbilder keine Rolle. Dafür ist das Buch eine Huldigung eines Wissenschaftlers an mutige und geniale Vorgänger. Wenn das - wie etwa in den Passagen über Euklid - spürbar wird, erweist sich Luminet als demütig-emphatischer Chronist einer Zeit, die uns in seinem Buch besser erscheint, als die nachfolgenden - und als sie wohl auch gewesen ist.

    Jean-Pierre Luminet
    Alexandria 642. Roman des antiken Weltwissens
    C.H. Beck, 288 S., EUR 19,90