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Demütigung nach Plan

Jugendwerkhöfe hießen in der DDR jene Heime, in denen sogenannte Schwererziehbare untergebracht wurden. Menschenverachtende Erziehungsmethoden gehörten dort zum Alltag: militärischer Drill, Demütigungen bis hin zur Vergewaltigung. Ehemalige Betroffene sind oft noch nach Jahrzehnten neurotisiert.

Von Alexa Hennings | 06.08.2012
    "Das große Tor der Schleuse öffnete sich. Da stand ich nun. Hohe Mauern und Stacheldraht um mich herum. Ein Gefängnis für Kinder war dies hier. Hier war Flucht unmöglich, schoss es mir durch den Kopf."

    Heidemarie Puls war 15, als sie in den geschlossenen Jugendwerkhof nach Torgau kam. Und sie war 50, als sie in dem Buch "Schattenkinder hinter Torgauer Mauern" alles aufschrieb.

    "Nun stand ich auf dem Flur und nirgendwo eine Toilette. Ein Erzieher schrie mich an und forderte mich auf, mich an eine Wand zu stellen. Das tat ich. "Umdrehen. Jugendliche Burkart!" "Aber ich muss dringend auf die Toilette!", war meine Antwort. Noch bevor ich ein weiteres Wort verlieren konnte, spürte ich Schläge mit einem Stock auf meinem Rücken. Der Mann schlug so heftig zu, dass ich zu Boden sank. Ich weiß nicht, wie oft er zuschlug. Meine Hose war inzwischen nass."

    Das Mädchen aus dem mecklenburgischen Neukalen wurde, seit sie elf war, von ihrem alkoholsüchtigen Stiefvater missbraucht. Ihre Mutter schwieg dazu. Heidemarie versuchte, sich das Leben zu nehmen. Sie lief von zuhause weg, versteckte sich in Gartenhäusern, schwänzte die Schule. Das war ein "auffälliges Verhalten". Man brachte sie in ein Kinderheim.

    "Unter den Kindern gab es dann oftmals ganz arge Sachen. Und ich hab dann – immer wenn ich Gefahr für mich sah, bin ich ausgerissen. Und dieses Ausreißen, das hat mich von einer Einrichtung in die andere getrieben."

    Immer wieder lief sie weg. Man brachte sie in stärker gesicherte Spezialkinderheime, wieder lief sie irgendwann weg.

    "Diese Hierarchie unter den Kindern, das war das Aller-, Allerschlimmste. Und das war natürlich so gewollt. Die Erzieher haben dann schon gewusst: Einfach nur einen Satz sagen, und dann regeln das die Kinder unter sich. Und wenn es am Abend kein Abendbrot gab, dann wurde gesagt: Ihr wisst ja, wem ihr das zu verdanken habt. Und dann wurde unter den Kindern - das war dann oft ganz, ganz böse. Hunger macht tatsächlich böse, das habe ich an so manchem Morgen erlebt, wenn ich mit einer aufgeplatzten Lippe oder einem blauen Auge aufgestanden bin. Und dann der Erzieher noch demütigend gefragt hat: Heidemarie, bist du gefallen?"

    Die Odyssee durch die Heime endete für Heidemarie im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau.

    "Nun wurde ich in eine Arrestzelle eingeschlossen. Ich fühlte mich elendig und dreckig und mein Körper schmerzte und brannte. Endlich öffnete sich die Tür der Aufnahmezelle. Eine Erzieherin sah mich an: "Meldung!" "Was für eine Meldung?" "Jugendliche Burkart, ich erwarte eine Meldung, wenn sich die Tür öffnet. Diese sollte schon gelernt worden sein! Also?" "Ich weiß nicht, was ich lernen sollte. Nachdem mich ein Erzieher mit dem Stock schlug, nur weil ich nach einer Toilette fragte, wurde ich hier eingeschlossen." Nun schrie sie noch heftiger: "Hier wird nicht gefragt, hier hast du zu warten, bis Anweisungen von den Erziehern kommen. Du bist hier, um zu lernen, Anweisungen zu befolgen, dich ein- und unterzuordnen und du hast keine Fragen zu stellen!" Unaufhaltsam rannen mir die Tränen. Was passierte hier?"

    Keine Schule, Akkordarbeit nach Norm, nach der Arbeit in schweren Arbeitssachen militärischer Sport auf dem Hof bis zum Zusammenbrechen, Demütigungen durch Erzieher und höherrangige jugendliche Insassen, Vergewaltigungen durch einen Erzieher und immer wieder härteste Strafen für geringste "Vergehen". Die schlimmste Strafe: Tagelange Einzelhaft im sogenannten Fuchsbau, einer fensterlosen Zelle ohne Kübel für die Notdurft.

    "In Torgau brach man die Persönlichkeit. Als ich in diesem Fuchsbau war, ich hörte Stimmen und all so was. Dann bin ich weggetreten, da habe ich, denke ich, eine Schwelle vom Leben in den Tod überschritten. Und da ist mein Leben drin geblieben. Ich war dann ein anderer Mensch. Ich habe funktioniert. Die Gesellschaft konnte mich dann so aufbauen, wie sie mich haben wollte. Und das ist gelungen. Und nicht nur bei mir, das ist bei tausenden anderen auch gelungen."

    430.000 Kinder und Jugendliche in der DDR verbrachten Teile ihrer Kindheit in Kinderheimen, etwas mehr als ein Viertel davon waren Insassen eines Spezialkinderheims oder eines Jugendwerkhofs – Einrichtungen, die es für die sogenannten "Schwererziehbaren" gab. Das Thema ist bis heute im Osten Deutschlands ein sehr emotionales, wie man nicht nur den Leserbriefseiten der Schweriner Volkszeitung entnehmen kann.

    "Als elternlose Flüchtlingskinder fanden wir in Kinderheimen in Mecklenburg eine neue Heimstatt, die wir als glücklich bezeichnen möchten. Hochachtung vor diesen Heimen und den Erziehern. Werkhöfe waren notwendig, um kriminell gewordene ältere Kinder auf den Lebensweg zu bringen. Wo liegt hier die "Schuld" der DDR-Behörden oder auch der Erzieher?"
    Dieter und Gerd Klautke

    "Kinder und Jugendliche, die in der DDR kriminell waren, kamen nicht in den Jugendwerkhof und in Spezialkinderheime. Sondern in Jugendstrafvollzüge, es gab Jugendhäuser. Und diese wurden auch verurteilt über ein Gericht. In einem Jugendwerkhof gab es keine kriminellen Jugendlichen. In einen Jugendwerkhof kamen Kinder, die auffällig waren, die einfach durch ihr Anderssein auffällig wurden. Man sah diese Auffälligkeiten eines Kindes, die Wirkungen, aber man hinterfragte nicht die Ursachen. Das System der Jugendhilfe der DDR hat da versagt. Und dieses Stigma, was in der Bevölkerung auch heute noch besteht gegenüber Kindern und Jugendlichen, die in Spezialkinderheime und Jugendwerkhöfe verbracht worden sind, das ist natürlich ein Prozess, der gesellschaftlich aufgearbeitet werden muss. Und das kann er nur, wenn viel drüber geredet wird."

    Heidemarie Puls hofft, dass spätestens jetzt viel über das Thema Heimkinder geredet wird. Denn seit dem 1. Juli können ostdeutsche Heimkinder einen Antrag auf Entschädigung für erlittenes Unrecht stellen. Der Fonds wird von Bund und Ländern mit 40 Millionen Euro ausgestattet. Die Aufarbeitung der Vergangenheit und der Missbrauchsvorwürfe in westdeutschen Kinderheimen hatte zunächst nur zu einem Entschädigungsfonds für diese Betroffenen geführt. Heidemarie Puls war als Vertreterin Mecklenburg-Vorpommerns an der Ausarbeitung des Fonds für die ostdeutschen Heimkinder beteiligt.

    "Das war Schwerstarbeit, die seit 28. November geleistet wurde. Und man darf dabei nicht vergessen, dass wir uns immer wieder, mit jeder Sitzung in Berlin, sind wir auch zurück in unsere eigene Vergangenheit gekommen. Und ich bin auch an meine Grenzen gestoßen und ich bin froh, dass wir jetzt die Anlaufstellen haben und ich ein bisschen zur Ruhe komme und mich wieder um meine Familie, meine Kinder und Enkelkinder kümmern kann. Ich denke, dass wir mit dem Fonds - nach 22 Jahren muss man sagen - was erreicht haben, das auch ein Stückchen Anerkennung durch die Gesellschaft des erlittenen Leides einzelner Kinder nach außen trägt. Und dass sich auch die Bevölkerung Gedanken macht, auf den Weg macht, sich mit dem wirklichen Geschehen auseinanderzusetzen. Denn dieses Stigma, was auf Heimkindern lastet, das ist das, was mit 40 Millionen auch nicht wegzutreiben ist. Das muss von der Bevölkerung kommen."

    Noch eine Lesermeinung aus der Schweriner Volkszeitung

    "Es ist das Übliche: Ein wegen Diebstahl und Körperverletzung polizeibekannter Jugendlicher tötet in voller Absicht einen Menschen und wird vom Gesetz behütet. Zu DDR-Zeiten wäre der Junge spätestens nach der Körperverletzung in einem Jugendwerkhof gelandet und hätte dort vielleicht erfahren, dass ein Menschenleben wertvoll ist. Aber ich vergaß: Nach dem heutigen Bild gab es ja in Jugendwerkhöfen und DDR-Kinderheimen ja ausschließlich politische Verfolgte, denen dort Schlimmes zugefügt wurde und die jetzt dafür eine Entschädigung erhalten."
    Hei Kesen

    Nicht nur einige Zeitungsleser denken so, sondern durchaus auch Richter und Staatsanwälte. Schon länger haben ehemalige Heimkinder die Möglichkeit einer Rehabilitierung. Bei Heidemarie Puls wurde sie anerkannt, bei mehr als 90 Prozent der Antragsteller nicht. Der häufigste Grund: Anhand der Akten der DDR-Jugendämter wird eine Rehabilitierung oft verweigert, weil die dort vermerkten Gründe für eine Heimeinweisung noch heute "nachvollziehbar" seien: Sogenannte Herumtreiberei, Schulbummelei, Rowdytum. Die Frage ist jedoch nicht: Was haben die Kinder und Jugendlichen getan, sondern: Wie wurden sie behandelt? Mancher Richter möchte sich diese Frage nicht stellen. Vielleicht, weil die heutige Gesellschaft es oft an Härte fehlen lässt mit auffälligen Jugendlichen?

    "Umhertreiberei – dieses Wort umhergetrieben, sie hat sich umhergetrieben. Das ist etwas für ganz viele Frauen heute, was ganz schwer wiegt, wofür sie sich schämen. Und ich für mich habe dieses Wort genau wie die Schwer-Erziehbarkeit auseinander gelegt. Ich bin auch umhergetrieben. Warum bin ich umhergetrieben? Weil ich mich schützen musste, darum bin ich umhergetrieben. Es wird aber in der Bevölkerung dann so definiert: Es war eine Rumtreiberin, und das wird oft in Verbindung gebracht mit Prostitution und all solchen Sachen. Dass aber Kinder sich geschützt haben und schützen mussten und umhergetrieben sind, das muss man den Menschen sagen."

    Auch Burkhard Bley will das den Menschen sagen. Im Schweriner Büro der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen organisiert er Fortbildungen zum Thema "Heime und Jugendwerkhöfe in der DDR". Schon mehr als 100 Richter und Staatsanwälte, Mitarbeiter der Stasi-Unterlagenbehörden,
    Lehrer, Auszubildende in Erziehungsberufen und Soziologen haben bisher daran teilgenommen. Und Burkhard Bley organisierte eine Konferenz, auf der sich Ärzte, Therapeuten und Historiker mit Betroffenen trafen. Seit dem 1. Juli leitet er die Beratungsstelle, an die sich ehemalige Heimkinder wenden können, wenn sie den Fonds in Anspruch nehmen möchten. Der Fonds bietet unbürokratische Hilfe: anders als beim Verfahren der Rehabilitierung, bei dem der Geschädigte Beweise für erlittenes Unrecht erbringen muss – was durch die Vernichtung vieler Unterlagen oft sehr schwierig ist – anders als bei der Rehabilitierung also sind beim Fonds für Heimkinder Nachweise nicht erforderlich. Sorge, dass jemand das ausnutzen könnte, hat Burkard Bley dennoch nicht.

    "Ich habe schon viele Gespräche geführt, mit mehreren hundert Betroffenen, die in Heimen waren: Das kann man sich nicht alles ausdenken, was die Personen da erzählen, Und die berichten übereinstimmend von bestimmten Erziehungsmethoden, sie berichten von bestimmten Heimen, wo man das schon mal gehört hat. Das ist schon nachvollziehbar. Das kann man nachvollziehen, wenn jemand nicht glaubwürdig berichtet, dann würde das auch auffallen. Diese Form der Glaubhaftmachung ist, glaube ich, ein guter Weg, den man gewählt hat. Weil mit Unterlagen wird man in der Regel nicht weitermachen, weil in den Unterlagen steht ja nicht drin, was mit den Leuten gemacht worden ist. Das sind Akten aus Sicht der Erzieher, die schreiben natürlich nicht rein: Heute wurde der geprügelt. Selbst wenn es auftaucht, das sehen wir in den Studien von Christian Sachse, wird das immer abgebügelt, das ist sogar bis hoch ins Volksbildungsministerium gegangen, aber man hat das nicht weiter verfolgt, man wollte nicht dran rühren. Daran sieht man, dass es von ganz oben auch abgesegnet war."

    Christian Sachse ist ein ehemaliger Pfarrer aus Torgau, der die Studie "Heimerziehung in der DDR" erstellte und das Buch "Der letzte Schliff" veröffentlichte.

    "Herr Sachse, sogenannter Heimexperte, befindet sich im Krieg mit den ehemaligen Erziehern der DDR, diese gilt es zu vernichten. Geht es Herrn Sachse & Co darum, die verantwortungsvolle Arbeit der meisten Erzieher in den Dreck zu ziehen, ihnen den moralischen und seelischen Krieg zu erklären? Personen wie Christian Sachse sind gar nicht in der Lage, objektiv die Heimgeschichte der DDR zu erforschen und positive Effekte der Heimerziehung zu erfahren."
    Karl-Heinz Paap, Diplompädagoge, Schwerin

    Die Betroffenen haben zwei Gesprächstermine bei Burkard Bley und seiner Mitarbeiterin. In den Gesprächen geht es um die Geschichte der Heimkindzeit und auch um die Lebensgeschichte, denn oft wurde der Aufenthalt besonders in Spezialkinderheimen und Jugendwerkhöfen prägend für die ganze Biografie. Bei vielen Kindern war allein die non-konforme Haltung ihrer Eltern zur DDR Grund für eine Einweisung in ein Heim. Während Kinder in normalen Heimen die normalen Schulen besuchen konnten, waren Kinder wie Heidemarie Puls in Spezialheimen benachteiligt: Für sie war in der 7.Klasse die Schule beendet, ab diesem Zeitpunkt musste sie nur noch arbeiten im Heim. Deshalb konnte sie später nur sogenannte Teilfacharbeiterabschlüsse machen, verdiente sehr wenig Geld und wird einmal sehr wenig Rente bekommen.

    "Viele Betroffene sind durch die entgangenen Bildungschancen im Berufsleben nicht so angekommen wie es wünschenswert gewesen wäre. Die meisten leben tatsächlich von Hartz IV beziehungsweise sind Erwerbsunfähigkeitsrentner. Das Entscheidende ist immer, was ist dem Einzelnen widerfahren, welches Leid, welches Unrecht, was resultiert an Schäden daraus. Und was kann es geben, die ganze Palette, die dann zur Milderung beiträgt."

    Das kann eine spezielle Therapie sein, die von der Krankenkasse nicht getragen wird, eine Ausgleichszahlung für entgangene Rentenbeiträge, wenn im Jugendwerkhof gearbeitet wurde und sich das nicht in der Rente niederschlägt, oder auch dringend benötigte Haushaltsgegenstände, wie eine neue Waschmaschine, die sich ein Geringverdiener nicht leisten kann.

    "Es gibt ja sicherlich auch Berichte von Heimkindern, die sagen: Im Heim ist alles sehr gut gelaufen. Das wird es auch gegeben haben. Aber es gibt auch genügend, die eben anderes berichten. Und das ist auch, glaube ich, das Entscheidende, was man sagen muss: Es ist egal, was die angestellt haben, ob es jetzt irgendwelche jugendlichen Delikte waren oder Schulbummelei. Es ist trotzdem kein Freibrief dafür, Kinder und Jugendliche mit solchen Erziehungsmethoden zu behandeln. Wo es wirklich darum geht, Persönlichkeiten zu brechen, sie an den Rand der physischen Erschöpfung zu führen, sie zu demütigen. Das sind Erziehungsmethoden, die sind ganz klar menschenverachtend. Und es gibt keinen Grund, wirklich keinen vernünftigen Grund, Kinder und Jugendliche so zu behandeln. Ganz egal, was sie angestellt haben. Wenn sie denn überhaupt etwas angestellt haben."

    "Ich musste zum Direktor. "Bist du gefallen?", fragte er mich, als er einen Blick auf mein blau unterlaufenes Auge geworfen hatte. "Nein, ich bin nicht gefallen. Ich habe einen Schlag mit dem schwarzen Stock bekommen." Nun wurde er laut. "Mit dem Stock?" Ich bestätigte es. Daraufhin packte er mein Ohr und dreht es herum. "Jugendliche Burkart, hier gibt es keinen Stock, keinen schwarzen Stock und hier wird auch niemand geschlagen!" Bevor ich auch nur irgendetwas sagen konnte, dreht er noch einmal an meinem Ohr und fragte mehrfach, ob ich es verstehe. "Ja, ja!"

    "Mit der Entlassung eine Verzichtserklärung zu unterschreiben, über das Erlebte zu schweigen – das war für mich etwas, was diesen ganzen Sack zugemacht hat. Bis dann mein Körper rebelliert hat und ich im Alter von 40 Jahren zusammengebrochen bin. Gar nicht wusste, was ist mit mir los. Es gab Jahre, da dachte ich überhaupt nicht an das Heim. Es war einfach nicht da. Ich habe mich auf das Leben im Heute eingelassen. Und habe versucht, meine Kinder als Menschen heranzuziehen, die mit beiden Füßen im Leben stehen, das war mir wichtig. Und das ist mir auch ganz gut gelungen. Aber als die Kinder dann aus dem Haus gingen, da war dann diese Leere da. Und ich denke, diese Leere, dieses zur Ruhe kommen hat in mir diesen Aufbruch in die Vergangenheit herbeigeführt."

    Heidemarie Puls machte mehrere stationäre Psychotherapien. Doch auch dort konnte sie lange nicht über das Geschehene sprechen. Bis ihr irgendwann das Malen in der Ergotherapie half, später das Schreiben.

    "Das kam nicht so einfach raus. Das musste erarbeitet werden, diese ganze Therapie. Als man mir dann sagte: Wenn sie ihr Päckchen nicht auspacken, dann können wir langfristig nicht helfen. Da wusste ich, dass ich noch mal durch die Hölle gehen musste. Ich musste reden, ich musste mich meiner Vergangenheit stellen. Ich musste erst mal erkennen, dass ich Kind war, dass ich kindlich gehandelt habe. Dass die Erwachsenen es waren, die für mich verantwortlich waren und ich nicht für irgendwelche Dinge verantwortlich gemacht werden konnte. Nämlich dass mein Stiefvater mich sexuell missbraucht hat und meine Mutter nicht die Verantwortung übernehmen konnte. Meine Mutter wäre diejenige gewesen, die hätte was unternehmen müssen. Alle diese Dinge, dieses Schuld auferlegen. Eigentlich war das mit der Schuld das Schwerste, was ich für mich auf die Reihe bekommen musste. Man bummelt nicht die Schule, man bricht nicht in Gartenhäuser ein und schläft da, man nimmt auch keine Jacke aus dem Gartenhaus mit, weil man gefroren hat. Und man isst auch nicht die Lebensmittel, die einem nicht gehören. Das sind alles Dinge gewesen, die ich als Schuld lange, lange Jahre mitgetragen habe. Und dieses jetzt zu erkennen, dass es einfach zum Überleben diente, dass es eine ganz normale Reaktion war – das war schwer für mich."

    Auf der Internetseite von Heidemarie Puls melden sich seit der Veröffentlichung ihres Buches viele Betroffene, sie betreut sie per E-Mail oder am Telefon. Manchmal geht das monatelang. Die meisten, so weiß sie, wollen anonym bleiben. Sie rät ihnen, doch allen Mut zusammenzunehmen und sich bei der neuen Beratungsstelle in Schwerin zu melden.

    "Ich bekam gerade gestern eine wunderbare Mail. Da schrieb mir eine junge Frau, dass sie sich bedankt dafür, dass sie sich jetzt nicht mehr schämen muss, ein Heimkind gewesen zu sein. Und diese Frau wird natürlich auch den Weg in die Anlaufstelle gehen."

    Im Juni hat sich zudem der Verein "Heimkinder Ost – Mecklenburg Vorpommern e.V." gegründet. Mitglieder, die über ihre Erlebnisse reden können, wollen als Zeitzeugen an Schulen auftreten und Betroffenen bei der Rehabilitierung helfen. So unterstützen ehemalige Heimkinder Burkard Bley in seiner Schweriner Beratungsstelle.

    "Für ganz viele, mit denen ich gesprochen habe, ist dieser Aspekt ganz wichtig, dass man ihnen hier Glaubwürdigkeit zugesteht, dass sie Leid erlitten haben und dass es auch nicht normal ist, was ihnen passiert ist. Dass sie nicht selber dran schuld sind. Nicht dass sie die Kriminellen sind, sondern sie sind in ein System geraten, das sie kriminalisiert hat und ihnen mit schwarzer Pädagogik bleibende Schäden zugefügt hat. Und das ist auch ein wichtiger Aspekt bei dem Fonds, dass diejenigen eben über diese Biografiearbeit ihren Frieden mit dem Ganzen machen können. Es zumindest einen Anstoß dafür gibt, dass sie ihren Frieden damit finden."

    Wiedergutmachung kann es nicht geben. Was ist eine Waschmaschine gegen sechs Jahre Spezialkinderheim in der DDR? Vielleicht ist es die größte Wiedergutmachung für die Heimkinder, wenn alle tiefer darüber nachdenken, was das in der DDR bedeuten konnte: ein Heimkind sein.