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Den Blick auf das Absolute konzentriert

Lavinia Greenlaw ist ein Augenmensch, begabt mit einem feinen Gespür für die Eigenheiten der Natur, für Landschaften, Lichtverhältnisse, Erdtöne und Farbschattierungen von Wasser, für die unmerklichen Übergänge der Elemente, für die Schärfen und Unschärfen des Blicks.

Von Katharina Narbutovic | 23.10.2006
    Was damit zusammenhängt, dass die 1962 in London geborene Lyrikerin in einer Kleinstadt in Essex aufgewachsen ist, in Ostanglien, in einem etwas trübseligen Landstrich unweit der Küste, wo "der Himmel zwei Drittel des Blickfeldes einnimmt" und Licht "das wesentliche Charakteristikum ist", weil es "Erde von Luft und Wasser" unterscheidet, die alle drei weiter zur Küste hin "zunehmend durcheinandergeraten". Hier hat Lavinia Greenlaw gelernt, ihren Blick "auf das Absolute zu konzentrieren - auf Licht und Wasser", hier hat sie ihr Denken in Räumen geschult.

    Landschaften und Räume sind zwei wesentliche Elemente in Lavinia Greenlaws Gedichten, und mit den Räumen und Landschaften der Kindheit setzt ihr dritter Gedichtband "Minsk" - den der Schweizer Lyriker Raphael Urweider ins Deutsche übertragen hat - auch ein: Backfischjahre im engen, ruhigen Kleinstadt-Gehege, changierend zwischen jugendlichem Übermut in lärmenden Horden und dem zähen Fluß der Langeweile, endlosen Sonntagen, an denen man förmlich dabei zusehen kann, wie die Staubkörner sich einzeln auf den Fernsehschirm legen. Erinnerungen, die Lavinia Greenlaw mit nur wenigen Strichen in einem Bild von filmischer Intensität und Dichte wieder auferstehen zu lassen vermag. Den Kleinstadt-Ennui genauso wie das Gefühl ein paar Jahre zuvor, als sie noch in London lebten, sich nicht wohl zu fühlen in seiner Haut, als sei der eigene Körper ein kratzender Pullover oder viel zu enger Mantel - ein Unwohlbefinden, das Lavinia Greenlaw in dem Gedicht "Lupinen" elegant kontrastiert mit dem besänftigenden Geheul der Wölfe im Londoner Zoo, das für das lyrische Ich Wohligkeit verbreitet und die blauen, spitzen Dornen der Eisengehege wie unter einem Zauber sich aufrollen zu lassen scheint.

    "Ich war acht, ich war Atmosphäre, / mehr als willens, in die Luft abzuheben" - mit diesen beiden Zeilen beginnt das Gedicht "Die fallende Stadt". Atmosphäre ist es auch, die sich wie ein roter Faden durch Lavinia Greenlaws Gedichte zieht und die sie mit geringem rhetorischen Aufwand herzustellen weiß. Dahinter steht ihr filmisch genauer Blick, ihre Arbeit mit Schärfen und Unschärfen, als würde sie die Einstellungen verschiedener Kameraobjektive ausprobieren; ihre Offenheit für Fragestellungen der Naturwissenschaften, mit denen sie groß geworden ist, denn ihre Eltern sind beide Arzt und ihre Geschwister haben Chemie, Physik und Ingenieurswesen studiert; ihr besonderes Interesse - in der Nachfolge von Dichtern wie Elizabeth Bishop oder Robert Lowell - für die Grenzen und Variablen der Wahrnehmung, für ihre Mechanik gleichsam, sowie für die Relativität von Zeit und Raum. Wie gelingt es, "aus einer Materie, deren Instabilität und weitgehende Unbekanntheit offenkundig ist, festgelegte, gleichsam fixierte Bilder zu schaffen, selbst wenn die Fixierung nur für einen Moment gelingt?" - das ist die Frage, die hinter den Gedichten von Lavinia Greenlaw steht. Dass es ihr gelingt, das zeigt ein Gedicht, das neben der Fixierung eines wimpernschlagkurzen Moments auch ein Staunen über die unbekannten Größen unserer hochtechnisierten Welt zum Ausdruck bringt. Es heißt: "Was die Perfektion und Fülle des Lebens ausmacht": "Es kam mir erst wieder in den Sinn, als ich innehielt, / um zu erwägen, auf welche kleine Weise ein Garten Wasser hält, / ein angespanntes Innehalten im Türrahmen, wie der Traum, / der früh an jenem Morgen mit seinem prächtigen / Schweif gepeitscht hatte und dann verschwunden war."

    In der zweiten Abteilung von "Minsk" geht es um das Vermessen, Kartographieren und Erfassen von Räumen: von konkreten Orten wie beispielsweise den Tierhäusern des Londoner Zoos, deren Architektur und Baujahr Lavinia Greenlaw mit Momenten der jeweiligen Mentalitäts- und Zeitgeschichte verschränkt. Von so unwirklichen Orten wie "Minsk", die wie durch einen Spalt aus der Welt herausgefallen zu sein scheinen, Sehnsuchtsorten, an die man nie wieder zurückkehren kann, "hinter der Waldmauer, / wo die Bienenzüchter Steine zu Ziegel mahlen ( ... ) Eine Heimat auf einem goldenen Hügel, / Stadttore aus Stroh und Kinder mit strohigem Haar." Und schließlich von einem Ort wie dem endlosen Raum der Lüfte in dem Gedicht "Geryons Flug", in dem nichts weniger gelingt als der Sprung des Menschen ins Ungewisse und die Überwindung der Schwerkraft allein durch blindes Vertrauen und mentale Kraft.

    In der dritten Abteilung von "Minsk" schließlich führt Lavinia Greenlaw vor, dass sie nicht ohne Grund eine Meisterin des Lichts geheißen wird. Hier finden sich Gedichte über eine Winterreise nach Finnland in eine statische, ewige Welt aus Schnee und Eis ganz in Blau und über eine Mittsommerreise auf die Lofoten in die Helle der nicht untergehenden Sonne und die milchigen Pusteblumennebel der Schlaflosigkeit. Und wie Lavinia Greenlaw auf der Klaviatur des Lichts spielt, wie sie Schattierungen findet für den arktischen Winter von Enzian über Eisenhut, Schiefer, Phosphor und Pflaume bis zu Indigo und Tintenfischblau, wie sie Nuancen findet für den endlosen Hochsommerreigen der grellen, bleichen Tage und Nächte in Weiß, ja überhaupt wie sie diese etwas kargen, öden, rauhen Landschaften mit ihrer im Grunde strengen, elliptischen Sprache herbeizaubert und ablichtet, die einem als Bild dann noch lange vor Augen stehen, das ist höchst beeindruckend und lässt einen schnell vergessen, dass durchaus nicht alle Gedichte in "Minsk" ein solches Format haben. Aber wer wollte das auch verlangen.