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Den Holocaust mit der Fantasie erfassen

Yann Martel will in seinem neuen Roman auf die enormen Schwierigkeiten hinweisen, eine literarisch angemessene Form für Erzählungen über den Holocaust zu finden. Bisher gibt es hauptsächlich Tatsachenberichte, keine Fiktion.

Von Johannes Kaiser | 28.02.2011
    "Im Wesentlichen versuche ich mit dem Roman auszuprobieren, ob ich den Holocaust behandeln kann, ohne ihn wortwörtlich zu erörtern, denn der Holocaust ist vorwiegend in sachlicher Form dargestellt worden. Wenn wir an die großen Schriftsteller des Holocaust denken, dann neigen wir dazu, Menschen zu erwähnen, die entweder Überlebensgeschichten geschrieben haben wie Primo Levi oder Elie Wiesel, oder die große Historiker des Holocaust sind. Es gibt nur ganz wenig Platz für echte Schriftsteller, die erfinden, um die Wahrheit zu sagen. In diesem Roman versuche ich den Holocaust mit meiner Fantasie zu erfassen. Es ist also kein Tatsachenbericht über den Holocaust, kein prosaischer, kein historischer Roman. Es ist ein fantasievolles Herangehen."

    Yann Martels Hauptprotagonist Henry ist ein Schriftsteller, der nach dem Erfolg seines zweiten Romans nicht mehr weiter weiß, seine Schreibfähigkeit einbüßt und sich fortan als Kellner und Schokoladenverkäufer durchs Leben schlägt. Seine Schreibblockade hängt mit dem Thema zusammen, das er sich für sein nächstes Buch ausgesucht hat: den Holocaust. Ausführlich denkt er darüber nach, warum es so schwer ist, einen echten Roman über den Holocaust zu schreiben. Henry versucht sich an einer Mischung aus Essay und Roman, aber kein Verlag will ihm sein Werk abkaufen.

    Eine solche Diskussion in der Form eines inneren Dialogs ist als Romananfang auf alle Fälle schwierig, geradezu ein schwerfälliger Start und als Leser müht man sich denn auch durch die ersten Seiten, fragt sich, worauf der Autor eigentlich hinauswill, hat das Gefühl, in einen Essay, keinen Roman geraten zu sein. Yann Martel hat genau dies beabsichtigt. Er wollte auf die enormen Schwierigkeiten hinweisen, eine literarisch angemessene Form zu finden.

    "Das Problem ist nicht nur, dass der Genozid Menschen umringt, er bringt auch die Geschichten um. Damit meine ich, der Krieg tötet Menschen, aber er tötet nicht die Fähigkeit, Geschichten darüber zu erzählen. Zum Beispiel kann ein Krieg Ausgangspunkt für zahlreiche Geschichten sein. Es kann die Geschichte eines Soldaten sein, der im Graben getötet wird. Es kann aber auch eine Romanze sein, ein amerikanischer Soldat, der ein Mädchen in Frankreich trifft und sich verliebt. Es kann ein Thriller sein, eine Spionagegeschichte, es kann eine Geschichte von Verrat sein, von Kollaborateuren. Es gibt viele Möglichkeiten. Das Problem bei Genozid ist, dass Genozid nur eine einzige Geschichte erzählt und zwar die Ermordung von Menschen, und es kann keine andere Geschichte darüber erzählt werden, die gänzlich wahr ist. Der Holocaust tötete zwei Drittel der europäischen Juden. Also die typische Holocausterfahrung für einen Juden ist der Tod. Das bringt eine Geschichte um. Die Geschichten enden immer gleich. Außerdem soll sich in einer Geschichte ihre Figur verändern, sie soll sich im Verlaufe des Romans entwickeln. Im Holocaust gibt es keine Persönlichkeitsentwicklung. Ein Jude, ein Schuhmacher, übt seinen Beruf aus und plötzlich wird er verhaftet und schließlich umgebracht. Sein Charakter ist irrelevant. Er ist dort nicht als Schuhmacher oder weil er diesen oder jenen Charakter hat. Er ist nur da, weil er Jude ist. Seine Persönlichkeit ist irrelevant. Und auf der anderen Seite, auf der Seite der Nazis, ist es egal, was für eine Persönlichkeit ein SS Wächter hat. Er ist dazu da, Juden umzubringen. Wie soll man eine Geschichte erzählen, in der Persönlichkeit irrelevant ist. Deswegen sind die meisten Berichte über den Holocaust Tatsachenberichte. Im Prinzip ist dieser Roman ein Roman darüber, wie man ein Roman schreibt, über den Versuch, eine Geschichte zu erzählen."

    Die Argumentation Yann Martel überzeugt nur bedingt, denn Anna Seghers "Das siebte Kreuz", Jurek Beckers "Jacob der Lügner", Imre Kertész' "Roman eines Schicksallosen" oder Sempruns Buchenwald-Romane wissen das Thema durchaus literarisch zu bewältigen.

    Die Diskussion, die Henry, der schreibblockierte Schriftsteller mit sich selbst führt, endet in dem Moment, in dem er mit der Post die Szenen eines Stücks zugeschickt bekommt. Der Schreiber bittet ihn um ein Urteil und Hilfestellung. Zu seiner eigenen Überraschung geht er darauf ein, zumal sich der Schreiber auch noch in derselben Stadt aufhält. Damit beginnt endlich das, was man als Roman versteht: Eine dramatische, obskure, unheimliche, beunruhigende Erzählung, in der Spannung aufgebaut wird und die in einer Explosion mündet.

    Der Briefeschreiber erweist sich als Tierpräparator, der einen kleinen Laden und eine Werkstatt besitzt, in der er von der Ratte bis zum Elefanten im Prinzip alles ausgestopft hat, was man sich denken kann. Es ist ein alter Mann, mürrisch, herrisch, ohne jegliche Umgangsformen, der kein Bitte oder Danke kennt, sich benimmt, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass Henry ihm hilft.

    Das Stück, das er geschrieben hat, ist nicht weniger merkwürdig, denn seine Hauptfiguren sind ein Affe und ein Esel, die sich auf der Flucht befinden, benannt nach Vergil und Beatrice aus Dantes "Göttlicher Komödie" - eine Anspielung auf die Reise durch die sieben Kreise der Hölle. Die Martern, die die Menschen dort als Strafe für ihre Sünden erleiden, erleben die beiden Tiere allerdings im wirklichen Leben. Das Land, in dem sie auf der Flucht sind, ist "Das Hemd des 20. Jahrhundert", ein mysteriöser Titel für ein Stück.

    "‘Das Hemd ist das Land, in dem wir leben - das wollen Sie sagen?‘
    'Genau das ... ein Land wie jedes andere, Nachbar von, größer als, kleiner als ... Es ist ein gestreiftes Hemd', sagte der Präparator
    ‘Gestreift?‘
    'Ja, Längsstreifen."


    Die Anspielungen sind deutlich genug. Die beiden Tiere haben denn auch Schreckliches erlitten, sind zu Aussätzigen erklärt, gefoltert worden, befinden sich auf der Flucht und werden ihren menschlichen Verfolgern nicht entkommen, die sie ohne jegliche Skrupel massakrieren. Damit spielt der Tierpräparator auch auf eine alte französische Legende an, die Flaubert zu einer Kurzgeschichte animierte: "Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien." Er hat sie Henry zugeschickt und der begreift schließlich auch, was ihm der Tierpräparator damit sagen will, denn ihre Hauptgestalt ist ein junger Adliger, der in einem wahren Blutrausch alle Tiere umbringt, die ihm vor Pfeil und Bogen kommen. Reue empfindet er nicht. Darin gleicht er den Mördern im Stück und den Mördern in SS-Uniform. Es fällt nicht schwer, die Tiere als Allegorie des Holocaust zu verstehen. Sie haben beide entsetzliche Gräuel gesehen und werden selbst grausam umgebracht. Unklar bleibt allerdings, warum sich der Tierpräparator diese Allegorie ausgedacht hat. Yann Martel hat ihn ganz bewusst im Zwielicht gelassen:

    "Wenn wir heute auf den Holocaust schauen, dann sehen wir ihn mit unglaublicher Klarheit, seine moralische Monstrosität. Wie können die Deutschen das nur gemacht haben? Er erscheint ganz schwarz-weiß. Aber so war es nicht. Es gab keine 50 Millionen Antisemiten. Ja, Millionen Wähler stimmten für Hitler, aber nicht, weil sie Auschwitz wollten. Sie wollten eine Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme. Viele waren Antisemiten, aber nicht unbedingt gewalttätige Menschen. Warum es geschehen ist, ist also eine sehr komplizierte Angelegenheit. Ich wollte eine Figur, die diese Vieldeutigkeit repräsentiert. Heute zum Beispiel schauen wir zurück und wir sehen ganz deutlich, wie alles begann und mit einem Datum versehen ist. 33 wurde Hitler gewählt, Dachau wurde ein Jahr später aufgemacht, die Nürnberg Gesetze, die Kristallnacht. Aber wir handeln heute 2010 genauso. Wir machen Dinge, bei denen spätere Generationen zurückschauen werden und sagen werden, wie konntet ihr nur. Klimawandel: Warum habt ihr nichts unternommen. Die Zerstörung der Umwelt: Warum habt ihr nichts unternommen, und wir antworten: Wir wussten es nicht besser, oder ich führte ein schönes Leben und wollte es nicht verändern. Unsere Enkelkinder werden über uns empört sein, so wie diese Generation über das empört war, was die vorhergehende Generation über das, was sie empört ist, was sie tat.”"

    Yann Martel geht mit der Figur seines Tierpräparator weit über die Schulddiskussion des Holocaust hinaus. Für ihn symbolisiert er auch den vergeblichen Versuch, eine untergegangene Welt wieder zum Leben zu erwecken.

    ""Ich benutze Tierpräparation, denn sie verkörpert etwas sehr Schmerzliches. Man nimmt dieses tote Tier und versucht ihm Leben einzuflößen und je brillanter das Ergebnis, desto deutlicher wird, dass das Tier tot. Sie haben ein wunderbar ausgeschöpftes Tier, aber es steht in einem Raum mit Kunstlicht, künstlichen Wänden, künstlichen Decken und das erinnert mich schmerzlich daran, dass diese Welt verloren gegangen ist, so wie die Welt der jüdischen Zivilisation in Europa verschwunden ist, vollständig zerstört wurde. Ich sah dort so etwas wie eine Parallele zwischen dieser Welt der Tierpräparation und dieser verschwundenen jüdischen Zivilisation in Europa. Die Arbeit eines Tierpräparators ähnelt stark der eines Historikers. Der Historiker des Holocaust geht 60 Jahre zurück und versucht die jüdische Gemeinde in Ungarn wieder zum Leben zu erwecken. Der Tierpräparator macht dasselbe, nimmt eine Giraffe aus Afrika und versucht ihr wieder Leben einzuflößen. Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit, eine ähnliche Schmerzlichkeit."

    Möglicherweise liegt darin auch eine Erklärung für den dramatischen Schluss des Romans. Der Tierpräparator wird gegenüber dem Schriftsteller gewalttätig, als der sein Stück ablehnt, weil er in ihm eine Art Rechtfertigung für den Holocaust vermutet. Für ihn ist der Stückeautor

    ... nur ein widerwärtiger alter Nazimitläufer, der sich jetzt als Beschützer der Unschuldigen aufspielte. Nimm die Toten und sorg dafür, dass sie gut aussehen. Wenn das nicht mörderischer Wahnsinn war, hübsch verpackt und schön versteckt."

    Ohne an dieser Stelle verraten zu wollen, wie diese Geschichte endet, ist doch der Roman damit noch keineswegs beendet. Im Stück des Tierpräparators haben sich der Esel und der Affe Spiele für einen Toten ausgedacht. Die stehen nun auf den letzten Buchseiten. Es sind allerdings weniger Spiele als vielmehr schockierende, beklemmende moralische Fragen, wie man sie in einem Vernichtungslager stellen könnte. Da gibt es zum Beispiel den Friseur, der die Menschen für die Gaskammer schert und dem plötzlich gute Freunde gebracht werden.

    "Du kennst die Frau und die Schwester eines guten Freundes. Sie erkennen dich ebenfalls, ihre Augen strahlen vor Freude. Ihr umarmt euch. Sie fragen dich, was mit ihnen geschehen wird. Was erzählst du ihnen?"

    Zwölf solcher Fragespiele, in denen sich die zynische Unmenschlichkeit des Holocausts wie in einem Brennglas bündelt, hat sich Yann Martel ausgedacht. Ihm liegt sehr viel daran, den Holocaust künstlerisch zu bewältigen.

    "Es ist bedauerlich, dass man sich nicht nur politisch, sondern auch künstlerisch nicht frei mit dem Holocaust auseinandersetzen darf, denn damit verlieren wir alles, was die Kunst für den Holocaust leisten kann. Man fürchtet wohl, dass der Holocaust trivialisiert, banalisiert oder denaturiert wird. So zu denken, missversteht, worum es der Kunst geht. Ein Gemälde, eine Kurzgeschichte, eine Komposition, ein Gedicht ändern möglicherweise Fakten des Holocaust, dringen aber schneller zu seinem Wesen vor. Es gehört zur Natur eines großen Romans, dass er die Fakten erfindet, aber seinem Geist nach wahr ist angesichts dessen, was geschehen ist. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, ein sehr klares Beispiel dafür, was Allegorie erreichen kann. Guernica, ein wunderbares, außerordentlich starkes Gemälde von den Ruinen dieser Stadt nach einem Luftangriff der Deutschen. Man sieht dieses Gemälde und begreift anhand dieses einen Bildes, was mit diesem Dorf geschehen ist, den Horror. Das vermag Allegorie. Sie kann ganz schnell das Wesen von etwas erfassen, und wenn wir die Methode nicht auch beim Holocaust erlauben, hören wir auf, mit ihm in Dialog zu treten. Wir können uns dann nur auf die Geschichtsschreibung und die Augenzeugenberichte stützen. Aber je mehr Zeit vergeht, desto unglaubwürdiger werden sie, während große Kunst die Zeit überlebt."

    Ob Yann Martel mit seinem Roman solch große Kunst gelungen ist, darüber ist sich die Kritik nicht einig. Doch der Versuch ist es allemal wert.

    Yann Martel: "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts". Übers. Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010, 221 Seiten, 18,95 Euro.