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Den Tod denken

Sterben wir noch denselben Tod, den Aristoteles, Thomas von Aquin und Kant starben? Wenn man von kleineren individuellen Unterschieden auf dem Weg bis zum juristischen Augenblick absieht, wird man diese Frage zumeist mit einem klaren 'ja' beantwortet bekommen. Doch gleich in zweierlei Hinsicht ergeben sich nicht unwichtige Unterschiede. Erstens, dass wir mit Gewissheit sterben, beginnt heute fraglich zu werden. Zweitens, was denn da passiert, wenn wir sterben, das Verständnis darüber hat sich im Laufe der Jahrtausende gleichfalls gewandelt.

Hans-Martin Schönherr-Mann | 22.07.2002
    Der Wiener Philosoph Hans-Dieter Bahr, 1968 Ernst Blochs erster Doktorand in Tübingen, analysiert in seinem neuen Buch Den Tod denken nicht einfach die diversen Todesvorstellungen, die die Geschichte der abendländischen Philosophie hergibt. Selbstredend lässt Bahr alle Spekulationen darüber außer Acht, was nach dem Tod kommen könnte. Diese füllen bereits die Bibliotheken.

    Beim Tod wollte ich nicht das Problem angehen: Ist der Tod nur eine Passage zu irgendeiner anderen Form von Seinsweise? . . Das überlasse ich doch besser den Religionswissenschaftlern.

    In drei Teile gliedert sich Bahrs Buch, die verschiedene Visionen vom Tod vorstellen und alle mitten ins Herz der Moderne treffen. Die dritte müsste zu einem gewissen Umdenken unter den Zeitgenossen beitragen. Heute herrscht die Vorstellung vor, die den Tod mit dem Nichts gleichsetzt.

    Was heißt es, dass mit dem Tod alles aus sei (. .)? Also nachzuprüfen, in welchem Sinne hat man eigentlich in der Philosophie überwiegend das Wort Nichts verwendet?

    Doch zunächst setzt Hans-Dieter Bahr sich vorherrschenden, hochaktuellen Visionen auseinander. Die erste beseelte bereits Homer, nämlich der Tod, der nicht enden will: Homer sieht die Menschen nach dem Tod in ein Reich der Schatten versetzt. Auch in der Moderne finden sich solche Visionen:

    Ausgehend von Kafkas Erzählung und dem Tod der selbst nicht mehr endet, dieses Thema ist derart aktuell, das ist irgendwo die Auffassung in der wir heute drinstecken, und zwar von verschiedensten ungemein vielen Seiten her, sei es bis hin zu den biotechnischen Phantasmen, den Tod endlos hinaus schieben zu können usw. Da ist dann das Sterben selber zu einem endlosen Prozess erklärt.

    Von Homer bis Franz Kafka verkörpert der Tod häufig das entkräftete, schwache Leben, das in seinem Leiden nicht enden will und dem der Geist entgegentritt, sei es einst in Form der Götter oder heute in Form der Medizin und der Biotechnologien. Was sich bei Homer als Schatten ankündigt, der nicht endende Tod, das realisiert sich heute unter der Vorherrschaft von Maschinen auf Intensivstationen und fordert ethische Debatten über Sterbehilfe heraus.

    Im zweiten Teil setzt sich Bahr mit den medizinischen Visionen auseinander, den Tod hinauszuschieben, ja verdrängen zu können. Das Märchen der Gebrüder Grimm vom Gevatter Tod transformiert die Vision vom nicht endenden Tod als Schattenreich in einen medizinischen Aufschub des Todes, eine bis dahin ungeahnte Perspektive ärztlichen Tuns.

    Dieses Märchen ist ein Paradigma für eine Auffassung die heute weitgehend vorherrscht, (. .) zumal es hier auch noch um die Einführung des Arztes geht, der zum ersten Mal, und das ist auch fast historisch parallel, von dem zum ersten Mal erwartet wird, dass er das Leben verlängert.

    Nicht mehr Gott und nicht mehr das abstrakte Schicksal herrschen über Leben und Tod, auch nicht mehr die Natur. Der Arzt verlängert das Leben. Darin eröffnet sich der Durchbruch in eine technische Welt, die das Leben wie die Natur gleichermaßen unter ihren Bann zwingt. Indem sie den Tod zu verdrängen trachtet, verfängt sie sich in den Fängen eines nicht endenden Todes. Bahr betont, dass der Tod in Grimms Märchen keinen dämonischen Charakter mehr besitzt, sondern dieselbe heilende Funktion wie der Arzt ausübt.

    Das hat ungemeine Folgen, (. .) der Paradigmenwechsel in der Auffassung der Tätigkeit des Arztes, der also nicht nur dafür zu sorgen hat, dass ich möglichst schmerzlos dahinlebe bis zum Ende, sondern dem plötzlich zugemutet wird, dass er mein Leben verlängert.

    Der Gevatter Tod wacht noch über die Tätigkeit des Arztes. Und doch beginnt er bereits im grimmschen Märchen seine absolute Macht aufzugeben. Lösten sich die Glaubensgewissheiten im 18. Jahrhundert auf, fühlte sich im 19. Jahrhundert der Mensch in seiner Subjektivität verunsichert, so scheint bis ans Ende des 20. Jahrhunderts doch wenigstens die eine Gewissheit als unumstößlich, nämlich die Todesgewissheit. Darf man diese antasten? Die sogenannten Lebenswissenschaften sind längst damit beschäftigt:

    Und meiner Ansicht nach ist das genau der Prozeß, in dem wir drinstecken, dieser Tod verliert seine Gewißheit. Dass er heute noch höchst wahrscheinlich ist, ist gar keine Frage, aber er ist nicht mehr in diesem Sinne notwendig und gewiss, wie bis vor hundert Jahren mit Sicherheit jeder noch angenommen und geglaubt hat.

    Ist das der Grund, warum Hans-Dieter Bahr im dritten Teil seines Buches die Frage stellt, was es eigentlich bedeutet, wenn der Tod in der Moderne mit dem Nichts gleichgesetzt wird? Tod bedeutet absoluter Mangel. Genauso versteht man auch das Nichts als Mangel. Die Sterblichkeit als Kennzeichen des Menschen erscheint ebenfalls im Sinne dieses Mangels als ein Verschwinden in ein leeres Sein. Doch einen solchen Mangel ergibt der Tod nur für den Anderen, den Überlebenden. Es handelt sich nicht um die Perspektive des Sterbenden.

    Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich nach meinem Tod plötzlich verloren hätte oder ich mir fehlen würde, da würden nur ziemliche Absurditäten rauskommen, wenn wir das versuchen würden zu denken.

    Dabei allerdings hat man immer übersehen, dass das Wort 'Nichts' keineswegs eine schlichte Verneinung bedeutet. Eine Verneinung setzt etwas voraus, z.B. die Anwesenheit anderer, für die der Tod des Anderen als Verlust von etwas erscheint.

    Und das hat man so gelesen, auch wenn man von Nichts redet, doch immer schon etwas voraussetzt, das zu Nichts geworden ist, oder aus dem Nichts entsteht usw., anstatt sich zu überlegen, Moment, sprachlich gesehen heißt das nur, . . . das Wort Nichts verwenden wir im Sinne einer Aussetzung von Bestimmungen.

    Das Nichts ist sowenig der Gegensatz zum Sein wie der Tod nicht den Gegensatz zum Leben darstellt. Das Nichts sagt nach Bahr nur, dass keine Bestimmung vorliegt. Wenn etwas nicht bestimmt ist, dann besteht aber die Möglichkeit zur Bestimmung. Das Nichts ist sowenig wie der Tod das Ende von Möglichkeiten, sondern deren Eröffnung.

    Also das Nichts ist eher das, was überhaupt Seinsmöglichkeiten selber ermöglicht, . . . als das man es jetzt einfach subsumieren könnte unter Mangel.

    Derart nun bleibt der Tod für Bahr zwar unbegreiflich. Es gibt keinen Begriff vom Tod. Der eigene Tod ist auch undenkbar. Aber er gibt zu denken und eröffnet dadurch auch das Denken, wenn auch auf etwas hin, das nicht gedacht werden kann. Der Tod erscheint dann nicht mehr als Mangel, sondern als Herausforderung an das Denken, und zwar zweifellos auf sehr unterschiedliche Art und Weise, seien diese heute medizinisch, gentechnologisch, dichterisch oder philosophisch.

    Diese Undenkbarkeit ist nicht ein Mangel des Denkens, sondern umgekehrt es ist ein Nein im Denken, das mir überhaupt ermöglicht, Denken von Nichtdenken zu unterscheiden, von dem, was eben nicht auf einen Gedanken reduzierbar ist, wie das Nicht selbst.