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Den vergessenen Toten des Bürgerkriegs

Es gibt Texte, da muss man sich zwingen, sie bis zum Ende zu lesen. Nicht etwa weil sie gravierende literarische Mängel aufweisen. Ganz im Gegenteil. Der enorme Widerstand, den sie der Lektüre entgegenstellen, der geradezu physische Widerwillen, den sie beim Lesen erzeugen ist ein Qualitätsmerkmal. Literatur leistet in ihnen ein Maximum. Sie verursacht eine tiefreichende, geradezu existentielle Verstörung.

Von Stefan Fuchs | 11.05.2006
    Alberto Méndez' Erzählungen gehören ganz sicher zu diesem Genre einer im metaphysischen Sinne grausamen Literatur. Sie führen den Leser in ein düsteres Reich der Angst, in dem der Schatten des allgegenwärtigen Todes alle Farben, alles Lebendige erstickt hat, lange bevor der unabwendbare gewaltsame Tod Erlösung bringt.

    Das Spanien der triumphierenden Franco-Truppen ist ein solches danteskes Schattenreich. "Die Blinden Sonnenblumen" erzählen vier geheimnisvoll miteinander verbundene Geschichten aus den Jahren unmittelbar nach dem Ende des spanischen Bürgerkriegs. Schicksale der Besiegten rekonstruiert nach Briefen und Dokumenten, düstere Geschichten vom endgültigen Scheitern, wie man sie sich unter dem Schreckensregime des Generalisimo Franco nur hinter vorgehaltener Hand erzählte, wenn sie nicht ganz unter den Bann kollektiven Schweigens fielen.

    " Besonders unbegreiflich ist mir, dass wir unvermeidlich alle Erinnerungen an den Bürgerkrieg hatten, an die Belagerung von Madrid, an die Bomben- und Granatenangriffe. Und all das doch nie mit einer einzigen Silbe erwähnten. In der Schule waren Franco, die Falange, die Bewegung wie durch Zauberhand aufgetaucht, vom Himmel gefallen um Ordnung ins Chaos zu bringen, um den Menschen Ruhm und Normalität zurückzugeben. Es gab keine Opfer, sondern Helden, es gab keine Toten, sondern für Gott und Spanien Gefallene, und es hatte keinen Krieg gegeben, weil der Sieg, unerschütterlich in seinem Singular, eher dem Gesetz der Schwerkraft glich als der Lösung eines menschlichen Konflikts."

    Alberto Méndes hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Schweigen zu brechen, der vermeintlichen Unerschütterlichkeit des Sieges der Faschisten die Allgegenwart der Niederlage und des Todes im Nachkriegsspanien als dunkle Rückseite entgegen zu stellen. Da ist etwa die Geschichte des Carlos Alegria, Hauptmann der Franco-Armee, der am 27. März 1939 vor dem belagerten Madrid zu den Republikanern überläuft, just am Vortag des Sieges der Francotruppen. Der Deserteur verweigert die Teilhabe an einem Sieg, der in Wahrheit ein Vernichtungsfeldzug gegen das Spanien ist, wie es war, bevor der Bürgerkrieg hereinbrach. Nach der Kapitulation des belagerten Madrid wird er von den siegreichen Franquisten verhaftet, des Verrats angeklagt, zum Tode verurteilt und gleich darauf standrechtlich erschossen.

    " Als Hauptmann Alegria wieder zu Bewusstsein kam, lag er in einem Massengrab, versunken in ein Chaos aus Toten und Erde. Er brauchte eine Weile, doch schließlich gelang es ihm, seinen Schmerz zu ignorieren, und er erkannte, dass er die Gesetze der Welt, die eine Rückkehr verbieten, erneut überschritten hatte. Er war am Leben. Ein Universum aus reglosen Knochen, Knorpel, geronnenem Blut, Exkrementen, angehaltenem Atem und vom Tod überraschten Herzen, das zwischen dem Wust aus Toten Lufttaschen bot, die ihm auch begraben noch zu atmen erlaubten. Es gibt eine Dunkelheit für die Lebenden und eine andere Dunkelheit für die Toten, und da Alegria zunächst nicht versuchte, die Augen zu öffnen, verwechselte er beide, bis ihm sein eigenes Schluchzen verriet, dass dies nicht die Stille des Todes war. Er war am Leben. "

    Schwer verletzt, blutend und über und über von der Erde bedeckt, die sein Grab werden sollte, irrt der zum Tode verurteilte Deserteur durch die Berge im Norden Madrids, ein grausames Sinnbild für den Zustand des lebendigen Todseins, in den der Bürgerkrieg die Menschen versetzt hatte, und zugleich Metapher für die Unerreichbarkeit der so dringlich gesuchten Versöhnung.

    " Die aufragende Gebirgskette teilt Spanien in zwei Hälften, und uns kommt es jetzt vor, als sei die unmenschliche Strapaze, sie zu überqueren, eine andere Form gewesen, das Entzweiende zu verleugnen, stets auf beiden Seiten sein zu wollen."

    Düsterer noch wirken die nach einem aufgefundenen Manuskript rekonstruierten letzten Lebenstage des jungen Dichters Eulalio Ceballos Suárez. Er hatte mit seiner hochschwangeren Geliebten vor den Faschisten nach Frankreich zu fliehen versucht. In einer verlassenen Berghütte in den Bergen zwischen León und Asturien stirbt sie bei der Geburt des Kindes. In der Eiseskälte des hereinbrechenden Winters ringen Vater und Säugling monatelang mit dem gleichwohl unabwendbaren Tod.

    " Das Kind ist krank. Es bewegt sich kaum. Ich habe die Kuh getötet und gebe ihm ihr Blut. Doch es kann fast nichts herunterschlucken. Ich habe Fleischstücke und Knochen zu einer sämigen dunklen Brühe gekocht. Mit Schneewasser verlängert flöße ich sie ihm ein. Wieder riecht alles nach Tod. Heute habe ich ihn geküsst. Zum ersten Mal habe ich ihm einen Kuss gegeben. Was wird er wohl gefühlt haben, bei diesem ersten Kontakt mit der Kälte? Es ist schrecklich, er muss bereits drei oder vier Monate alt sein, aber his heute hat ihn noch niemand geküsst. "

    Die Titelgeschichte schließlich erzählt von einem republikanischen Intellektuellen, der sich in einem Wandschrank versteckt über Jahre den Verfolgungen der faschistischen Schergen entzieht. Wie er verschwand eine ganze Generation hinter der Mauer des Schweigens, erstarrte in der allgegenwärtigen Angst der bleiernen Jahre der Franco-Diktatur. Auf der Jugend des Nachkriegs, zu der auch Alberto Méndez gehörte, lastet das erzwungene Schweigen der besiegten Väter, macht sie auch im übertragenen Sinne zu Waisen.
    " Mein Vater verließ seinen Schrank immer seltener. Selbst wenn wir allein zu Hause waren, schloss er sich in ihm ein. Ich hatte nichts dagegen, denn wenn ich von der Schule nach Hause kam, kauerte ich mich zu ihm und seinem Schweigen. Stundenlang blieben wir so nebeneinander sitzen. Mein Vater blieb immer länger in seinem Schrank. Irgendwann aßen meine Mutter und ich alleine am Küchentisch und er in seinem Versteck. Er kaute jeden Bissen mit einer verzweifelten Bedachtsamkeit, als wolle er noch das Geräusch vermeiden, das beim Abbeißen entsteht."

    Extrem zurückgenommen verstärkt die Sprache der "Blinden Sonnenblumen" den Schmerz, den das Geschehen beim Leser auslöst. Gelegentlich durchzucken düstere, an Kafka oder Faulkner erinnernde Bilder den lakonischen Bericht über das Schrecklich, das sich die Menschen antun, und steigern ihn ins Surreale.

    Méndez hat seine Erzählungen den Biografien der "Desaparecidos", den vergessenen Toten des Bürgerkriegs gewidmet. Ihre schneidende Eindringlichkeit erreichen diese Texte, weil es ihnen gelingt, im historischen Geschehen die Spuren des mythischen Verhängnisses freizulegen, das der Bürgerkrieg für die Besiegten ebenso war wie für die vermeintlichen Sieger.


    Alberto Méndez:
    "Die blinden Sonnenblumen"
    (Verlag Kunstmann)