Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Denken im olympischen Modus

Die Wirkung, die von Peter Sloterdijks Philosophie seit nunmehr knapp drei Jahrzehnten ausgeht, hat einen starken Grund darin, dass er den Begriff der Philosophie zuallererst in die Bewegung des Philosophierens übersetzt hat. Deutlich wird das auch in seinen neuesten Texten.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 22.02.2012
    "Ich habe alles gemacht, was mir am meisten unheimlich war, und habe nie meiner Neigung nachgegeben, zu Hause zu bleiben und mich zu verstecken ... Auf die Spitze der Unmöglichkeit gehen.”

    Dieses Bekenntnis Peter Sloterdijks gibt besonders eindrucksvoll die Tonlage wieder, in der sein Werk verfasst ist. Zeigt er sich aber in seinen neuesten Publikationen noch als einer, der Denken auf die Spitze der Unmöglichkeit treibt?

    Am Ausgangspunkt seiner Philosophie und der Philosophie insgesamt hält er fest: Die 2011 gehaltene Rede "Streß und Freiheit" (die unter diesem Titel jetzt auch als Buch erschienen ist) beginnt mit dem Hinweis darauf, dass Platon Sokrates sagen ließ, das Staunen oder die Verwunderung sei der einzige Anfang der Philosophie. Sloterdijk zeigt sich zu Recht erstaunt darüber, wie resistent die "organisierten" Wissenschaften gegenüber jedem erstaunten Innehalten vor unerhörten Gegenständen sind. Im Fall der Sozialwissenschaften ist besonders befremdlich, dass sie sich völlig unbeeindruckt zeigen von der bloßen Existenz dessen, was wir "Gesellschaften" und "Zivilisationen" nennen.

    "Nichts sollte erstaunlicher sein als das Daseinkönnen dieser Millionen- und Milliardenensembles von Menschen in ihren nationalkulturellen Hüllen und ihren vielfältigen inneren Unterteilungen Wir sollten fassungslos sein angesichts dieser stehenden Heere aus politischen Gruppen, denen es, man weiß nicht wie, immer wieder gelingt, ihre Angehörigen mit der Überzeugung zu versorgen, sie seien jeweils aufgrund einer gemeinsamen Lage und einer gemeinsamen Vorgeschichte aktuell miteinander schicksalhaft verbundene Gesellschafter, somit Rechtsgenossen und Teilnehmer an lokalen Überlebensprojekten. Das Erstaunliche an diesen Objekten überschreitet die Schwelle zur Unbegreiflichkeit."

    Jedes Staunen nimmt seinen Anfang in der Bereitschaft, sich ohne Seil und doppelten Boden auf die Welt, das Fremde, das Unheimliche und den Zauber einzulassen und sich neu zu erfinden, in sich selbst den Ort zu finden, von dem aus der eigene Entwurf in der Welt seinen Ausgang nehmen kann. Peter Sloterdijk hat den Anfang der Weltanfreundung immer wieder thematisiert und der Philosophie verlorenes Terrain - den Zauber des anfänglichen Daseins, das philosophisch vernachlässigte Wunder des Zur-Welt-Kommens - zurückerobert. Dazu musste er - das war das Thema seines ersten großen Wurfs, der "Kritik der zynischen Vernunft" - der Aufklärung eine neue Bedeutung als Selbstaufhellung des Daseins, als ein inneres Aufklaren, verleihen und sich dem deutschen Nachkriegsklima der Selbstanklage entziehen, sich dem religiösen wie dem politischen Miserabilismus, der Schlechtwetterlage, entgegenstellen.

    Die Wirkung, die von Peter Sloterdijks Philosophie seit nunmehr knapp drei Jahrzehnten ausgeht, hat einen starken Grund darin, dass er den Begriff der Philosophie zuallererst in die Bewegung des Philosophierens übersetzt hat. In dem mit Sven Voelker zusammen verfassten Buch "Der Welt über die Straße helfen" beschreibt er nun unsere Welt völlig distanziert, eher im Stil eines Sachbuchautors und begrifflich orientierten Denkers:

    "Das Weltalter, in dem wir leben, ist ein riesiges Experiment der primären technologiefähigen Nationen über das Motiv der grenzenlosen Steigerung von Macht und der immerwährenden Intensivierung des Lebens."

    Den "Könnenssteigerungen" galt zwar schon immer sein zentrales Interesse, aber nie zuvor dargestellt in isoliert wirkenden Ausdrücken, deren Aufgabe es doch gerade sein müsste, komplexe und vitale Lebensvorgänge zu beschreiben. Dies aber vermögen die um Macht- und Kompetenzsteigerungsspirale, Machtspirale, Könnenshorizont, Steigerungsmotiv, Neuzeitspirale, Könnenwollen, Könnenmüssen, Steigerungsindex, Ermächtigungsmacht, Kompetenz-Eskalation, Kompetenz-Evangelium, Kompetenz-Universum, Kompetenzradius und Individualkompetenz kreisenden Begriffe nur in sehr begrenztem Maße. Retten lässt sich diese Entwicklung nur, wenn man in einer solchen Darstellung einen quasi-literarischen Zugriff sieht.

    "Die Macht- und Kompetenzerweiterungsspirale der europäischen Neuzeit läßt sich als eine Art Fortsetzungsspiel beschreiben, in dem jeweils neue Generationen ihr eigentümliches Kapitel in den epochalen Steigerungsroman einfügten."

    Die Steigerung wird in ihrer Eigendynamik erfahrbar: nahezu autonom und doch entscheidend angewiesen auf die Individuen als Träger des Experiments, die die Spirale in Bewegung setzten, die Agenten und Medien eines "Reichs der Kompetenz" sind.
    Sloterdijks partielle (vielleicht nur vorübergehende?) Hinwendung zu einer eher starren Begrifflichkeit korrespondiert mit einer in anderen Texten gelegentlich angenommenen Haltung der Selbstverteidigung, die in dieser rigiden Form seinen früheren Schriften fremd ist. So hat er seinen letzten Beitrag zur Steuer-Debatte überschrieben mit: "Warum ich doch recht habe" - ein auf den ersten Blick verstörender Satz aus dem Mund eines Philosophen, der wie kein anderer in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Diogenes, den heiter-subversiven Verächter des Rechthabens und der argumentativen Verteidigung des eigenen Standpunkts oder gar dessen Verabsolutierung, zurück auf die Bühne der Philosophie geholt hat. Welche Entwicklung hat Peter Sloterdijk zu dieser veränderten Tonlage bewogen?
    Ist es denkbar, dass er heute bereit sein könnte, das Wertvollste und Vitalste seiner Philosophie, die eine Kunst des Philosophierens ist, nicht zu opfern, aber hintanzustellen für eine Annäherung an eine ihm im Kern fremde akademische Philosophie? Deren Vertreter werden ihm aber weiterhin mit äußerster Zurückhaltung begegnen und sich ihm gegenüber nicht öffnen, vielmehr ihr Terrain eifersüchtig verteidigen.
    Wenn man sieht, mit welchem Aufwand er in seiner letzten großen Studie "Du mußt dein Leben ändern" Voraussetzungen für eine andere Art von Wissenschaft (als eines Übungssystems) zu schaffen versucht, versteht man etwas besser, warum er sich von seiner dem Schüler viel stärker zugewandten Philosophie eine weitgehendere Integration in die akademischen Übungssysteme erhofft.

    "In der anspruchsvollsten Relation zwischen Meister und Schüler hängt letztlich alles von der Selbstformungswilligkeit der letzteren ab und dass sich die Schüler aus eigenen Stücken für dieses oder jenes Sujet interessieren."

    Selbst wenn Sloterdijk die real existierende und überdeutliche Differenz zwischen einer akademischen Philosophie und seiner Philosophie negiert, wird er niemanden von denen überzeugen, die in ihm einen "philosophischen Essayisten" sehen, der mit "methodologischem Leichtsinn" und "fatalem Tiefsinn" vorgeht. Für sie ist und bleibt "das Literarische2 eine Einschränkung, selbst dann, wenn es so gedämpft und zaghaft wie in seinem letzten Debatten erzeugenden Text "Die Revolution der gebenden Hand" daherkommt.
    Sie wird er nicht von seiner Philosophie als einer akademischen überzeugen; er kann ihnen nur ihre eigene Schwäche vor Augen führen, wenn er ihnen, mit vollem Risiko, entgegentritt: als Meister der Verblüffung, als Philosoph, der sich weiterhin am Unmöglichen orientiert.
    Wohl kein akademischer Philosoph wird seiner Idee folgen, Rudolf Steiners anthroposophisches Konzept der Lebensreform noch als zeitgemäß für eine "nach oben anschlußfähige Subjektivität" zu begreifen, wie dies Sloterdijk unlängst in einem Artikel dargelegt hat:

    "Steiner hat den Stecker entdeckt, mit dem man höhere Energien anzapfen kann ... Er hat eine Art Antennen-Anthropologie geschaffen ... Der Satz 'Du mußt dein Leben ändern' wird heute ... als Auftrag dekodiert, eine Lebensform zu entwickeln, die die Koexistenz der Menschen auf dem gefährdeten Planeten möglich macht ... Steiner ist ein idealer Transmitter für diese unumgängliche Botschaft."

    Einer von Sloterdijks besten Texten jüngerer Zeit zum "gefährdeten Planeten2 findet sich in dem Sammelband "Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang". Er greift hier, wie auch schon in früheren Arbeiten, auf Buckminster Fullers Metapher für die Erde als Raumschiff zurück. Diese Umschreibung ermöglicht ihm die Erörterung des notwendigen Klima- und Atmosphärenmanagements von einem raum-philosophischen Standpunkt aus.
    Wenn die Deutung der Erde als "Raumschiff" die gegenwärtige Lage präzise erfasst, dann bedeutet dies - das ist Sloterdijks Ausgangsüberlegung -, dass die Erdenbewohner der Besatzung eines Raumschiffs gleichen und sich folglich vor allem darum zu kümmern haben, die Lebensbedingungen "an Bord" des Planeten Erde aufrecht zu erhalten.

    "Atmosphären-Management wird darum zum ersten Kriterium der von jetzt an zu postulierenden Steuerungskunst für das integrale Raumschiff ... Das In-der-Welt-Sein des Menschen ... enthüllt sich somit als ein An-Bord-Sein auf einem störungsanfälligen kosmischen Fahrzeug."

    Der Mensch hat sich fortan als "Autodidakt der Raumfahrt" - und zwar auf Leben und Tod - zu bewähren.
    Peter Sloterdijk hat immer jeden Gegenstand, dem er sich gedanklich zuwendete, mit seiner Selbsteuphorie umhüllt. Auf diese Weise entreißt er - trotz der von vielen beklagten Tendenz zur Selbstherrlichkeit - jeden noch so abgegriffenen Gegenstand und jedes noch so platt gewalzte Sujet ihrer Mittelmäßigkeit und entführt sie in lichte Höhen, kraft eines (wie er dies des Öfteren von sich gesagt hat) "Denkens im olympischen Modus". Es ist aber gerade der olympische Modus, der in einigen seiner neuesten Schriften und Aufsätzen verloren scheint.
    Sloterdijks Denken wird von akademischen Philosophen, die es als "riskant", "gefährlich" und "Phantasterei" abwehren, wie eine Geisterbahn auf dem Rummelplatz gefürchtet, gleichgültig, wie er deren Inneres ausgestaltet, vielleicht sogar mit größerer systematischer Sorgfalt als die Systemphilosophen. Die Ernsthaftigkeit seiner Denk-Wissenschaft verträgt ein Höchstmaß an Literarität, Poesie, Überschwang - und Fröhlicher Wissenschaft. Er sollte festhalten an Nietzsches Aufforderung: "... alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln." Vielleicht folgt sein jetzt in Arbeit befindliches Projekt einer Oper - ja, wohlgemerkt: einer Oper - genau dieser Spur.

    Peter Sloterdijk: Streß und Freiheit.
    Suhrkamp Verlag, 61 Seiten, 8 Euro

    Peter Slolterdijk: Mein Frankreich.
    Suhrkamp Verlag, 150 Seiten, 7,95 Euro

    Peter Sloterdijk: Lesen in den Eingeweiden des Zeitgeistes
    Suhrkamp Verlag, 340 Seiten, 19,90 Euro

    Peter Sloterdijk: Die Großen Erzählungen.
    Suhrkamp Verlag, 320 Seiten, 10,95 Euro

    Peter Sloterdijk: Der Welt über die Straße helfen (zusammen mit Sven Voelker)
    Fink Verlag, 110 Seiten, 14,90 Euro

    Das Raumschiff Erde hat keinen Notausgang
    Mit einem Beitrag von Peter Sloterdijk
    Suhrkamp Verlag, 110 Seiten, 10 Euro