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Denkmalschutz in Moskau
Die Nacht der Bagger

Seit dem Ende der Sowjetunion wurden in Moskau zahllose Baudenkmäler aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert abgerissen. Sie sollten Platz schaffen für Einkaufszentren, Hotels oder für größere, höhere, profitträchtigere Wohngebäude. In der Nacht zu Dienstag aber kam es in Moskau zu einer absolut beispiellosen Abrissorgie - und die Denkmalschützer applaudierten.

Von Uli Hufen | 09.02.2016
    Geschäfte rund um die Metro-Station Kropotkinskaja wurden dem Erdboden gleichgemacht.
    Geschäfte rund um die Metro-Station Kropotkinskaja wurden dem Erdboden gleichgemacht. (picture alliance / dpa / Anton Novoderezhkin)
    "Das Ende einer Epoche". "Bürgermeister Sobjanins Bombennacht". "Die Nacht der langen Schaufeln" - keine Schlagzeile war heute Morgen grell genug, um den Schock der Moskauer zu formulieren angesichts dessen, was sich abgespielt hat, während sie schliefen. 700 Bagger waren im Einsatz, um knapp 100 Gebäude abzureißen, für die die Stadtregierung das herrliche Wort Samo-Stroj verwendet: Selbstbau.
    Damit sind nicht Gebäude gemeint, die sich selbst errichtet haben, sondern solche, die ohne Genehmigung errichtet wurden. Normalerweise ist das Wort für illegale Garagen, Bungalows oder Balkons reserviert. Doch was in Moskau heute Nacht abgerissen wurde, das waren oft mehrstöckige, mehrere Hundert Quadratmeter große Pavillons, Arkaden und Shoppingcenter, die in den 90er- und 00er-Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft von Metro-Stationen und Bahnhöfen errichtet wurden.
    Es gab alles und das zu erträglichen Preisen
    Kein Moskauer und kaum ein Tourist, der nicht zumindest einige der Gebäude kannte und benutzt hat. Hier konnte man Kaffeetrinken und einen Imbiss nehmen, sich die Haare schneiden und die Schuhe putzen lassen, Wetten abschließen, auf dem Weg nach Hause oder zu Besuch noch schnell eine dieser herrlichen Torten kaufen. Lebensmittel, Bücher, Handys, Unterwäsche, Schuhe, Zeitungen und Blumen für die Liebste: Es gab alles und das zu erträglichen Preisen.
    Der Nutzen all der kleinen Geschäfte und Cafés im Alltag der Zehn-Millionen-Megacity Moskau war unübersehbar. Doch die Gebäude hatten einen Nachteil: Während die Metro-Stationen, in deren unmittelbarer Nachbarschaft sie sich befanden, zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Moskaus gezählt werden, waren die Pavillons und Arkaden allesamt profane Monumente des Kommerzes und rabiater Geschmacklosigkeit. Ein Beispiel: Die Metro-Station Kropotkinskaja von 1935 befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Kreml, direkt vor der wiedererbauten Erlöser-Kathedrale und am Ende des wunderbaren Gogol-Boulevards. Das Eingangsgebäude besteht aus einer Art zentralem Triumphbogen mit zwei seitlich angeschlossenen Vestibülen und gewann auf den Weltausstellungen in Paris und Brüssel 1937 und 58 Grand Prixs.
    In den 90er- und 00er-Jahren erbauten findige Geschäftsleute auf dem Platz vor und hinter der Station eine Reihe von Geschäften und Cafés, die sich zwar bemühten, den tempelartigen Stil des Gebäudes irgendwie aufzunehmen, im Gegensatz zu diesem aber aus Plastik, Aluminium und Beton errichtet waren.
    Hier wurde eine Epoche abgerissen
    Die Moskauer stellen angesichts der Abriss-Orgie von heute Nacht viele Fragen: War es vernünftig, mitten in der Wirtschaftskrise Tausende Arbeitsplätze zu vernichten? Wer hat den Bau eigentlich genehmigt? Und was wird aus den ebenso hässlichen Einkaufszentren zum Beispiel am Kursker oder Kiewer Bahnhof?
    Eine Frage, die kaum eine Rolle spielt, betrifft den Denkmalschutz. Die einflussreiche Moskauer Denkmalschutz-Initiative Archnadsor hat die Abrissorgie begrüßt - endlich werde der Blick wieder frei auf jahrzehntelang entstellte Ensembles im Zentrum des historischen Moskaus. Das ist ohne Frage richtig. Doch wer sich durch eine Fotogalerie der abgerissenen Gebäude klickt, erkennt schnell, dass hier mehr passiert ist, als eine Korrektur. Hier wurde eine Epoche abgerissen: Die Gebäude repräsentieren den Geist der russischen 90er- und 00er-Jahre in kristalliner Klarheit: die Korruption, die Goldgräberstimmung, die Rücksichtslosigkeit gegenüber der eigenen Stadt und die geradezu vollkommene Verwirrung oder Zerstörung aller ästhetischen Kriterien. Es ist heute schwer vorstellbar, aber vielleicht werden die Denkmalschützer der Zukunft bedauern, was heute Nacht passiert ist. Wer allerdings heute versuchen wollte zu erklären, warum architektonische Monster wie die Pyramide auf der Prachtmeile Twerskaja bewahrt werden sollen, der würde in Moskau wohl für verrückt erklärt.