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"Der 1. Mai ist nicht mehr lange hin"

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Brigitte Pothmer, hat an die FDP appelliert, die Einführung eines Mindestlohns für Zeitarbeiter nicht zu blockieren. Arbeitnehmer, Arbeitgeber und die Sozialminister der Länder hätten sich bereits darauf verständigt, um für die Arbeitnehmerfreizügigkeit ab 1. Mai 2011 gewappnet zu sein.

Brigitte Pothmer im Gespräch mit Anne Raith | 26.11.2010
    Christoph Heinemann: Ein bundesweiter Mindestlohn für Zeitarbeiter rückt offenbar näher. Nach monatelangem Streit registrierte Arbeitsministerin von der Leyen positive Signale aus der FDP und hofft nun auf eine Einigung noch in diesem Jahr. Hintergrund ist die geplante Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus Osteuropa ab Mai 2011 und die Furcht vor Dumping-Löhnen. Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Heinrich Kolb hatte laut "Rheinischer Post" gesagt, wenn die Union auf einem Zeitarbeits-Mindestlohn beharre, dann wolle man sich dem nicht in den Weg stellen. Die FDP sei nicht dogmatisch. Es gebe da noch Meinungsunterschiede über die konkreten gesetzlichen Umsetzungen, aber - und das kam dann als Dementi quasi später - er schob nach in einer Mitteilung, eine Zustimmung der FDP zu einem Mindestlohn für die Zeitarbeit gebe es noch nicht. Ziel der Liberalen sei es, für Zeitarbeiter die gleiche Bezahlung wie für Stammkräfte durchzusetzen. - Das klingt ein bisschen nach Hü und Hott. Meine Kollegin Anne Raith hat darüber mit Brigitte Pothmer gesprochen, der arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, und sie zunächst einmal gefragt, welchen Reim sie sich auf die Äußerungen aus der FDP macht.

    Brigitte Pothmer: Ich habe aufgehorcht und musste dann feststellen, dass sie sich dann letztendlich doch eher wieder als Dagegen-Partei profiliert hat. Man muss ja mal feststellen: Alle wollen den Mindestlohn. Die Arbeitnehmer, die Arbeitgeber, die Sozialminister der Länder haben sich heute darauf verständigt, nur die FDP blockiert und sozusagen verhindert damit, dass wir reagieren können auf eine osteuropäische Billigkonkurrenz, die mit drei bis vier Euro die Stunde hier auf den Markt drängen wird, wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit am 1. Mai nächsten Jahres kommt.

    Anne Raith: Aber die FDP scheint ja zumindest gesprächsbereiter zu sein als vorher. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Kolb sagt, die FDP sei bereit, über eine Lohnuntergrenze für die Branche zu reden. Sind das nicht die ersten Schritte in die richtige Richtung?

    Pothmer: Wissen Sie, Frau Raith, was haben die Beschäftigten in diesem Niedriglohnsektor davon, wenn die FDP Signale gibt? Also es ist dringend notwendig, dass gehandelt wird. Der 1. Mai ist nicht mehr lange hin. Und es kommt doch darauf an, dass die FDP nicht Signale gibt, sondern dass wirklich was passiert.

    Raith: Aber die FDP geht ja in Ihrer Forderung eigentlich noch weiter und pocht auf gleiche Bezahlung, also den sogenannten Equal Pay. Das heißt, dass Zeitarbeiter das Gleiche verdienen wie Stammkollegen sozusagen. Das klingt doch gerecht, um nicht zu sagen sogar gerechter.

    Pothmer: Das ist eine Forderung, die wir seit Langem erheben. Diese Forderung ist absolut richtig. Ich kann nur nicht verstehen, dass diese Forderung quasi sozusagen als Spielball benutzt wird, um dann gegen den Mindestlohn zu agieren. Also ich halte das wirklich nicht für glaubwürdig!

    Raith: Aber ist der Mindestlohn für die Branche dann nicht ungerechter als Equal Pay, wenn also ein Zeitarbeiter dennoch weniger verdient als sein Branchenkollege?

    Pothmer: Also wir sagen es mal so: Ich bin ausdrücklich nicht gegen Zeitarbeit. Ich glaube, dass wir eine bestimmte Flexibilitätsreserve für die Unternehmen auch brauchen. Aber Zeitarbeit ist leider in der Vergangenheit in zunehmendem Maße nicht genutzt worden, um Auftragsspitzen abzudecken, sondern um Stammbelegschaften zu ersetzen. Deswegen ist es dringend notwendig, dass wir Equal Pay kriegen, gleicher Lohn für gleiche Arbeit ab dem ersten Tag. Ich bin sogar der Auffassung, dass es einen Flexibilitätszuschlag geben muss, so wie es ihn in Frankreich zum Beispiel gibt, der sozusagen die negativen Anteile, die Zeitarbeit ja hat - also für die Beschäftigten weniger Sicherheit, keine Absicherung, wenn Entlassungen stattfinden, das haben wir jetzt in der Krise gesehen -, also alle diese Nachteile müssten eigentlich mit einem Zuschlag ausgeglichen werden. Deswegen bin ich sehr dafür. Aber das ersetzt doch nicht einen gesetzlichen Mindestlohn. Denn in dem Moment, in dem die Leiharbeiter nicht bei einem Unternehmen beschäftigt sind, sind sie angestellt bei der Leiharbeitsfirma, und da müssen sie doch auch ein Minimum an Lohn kriegen, von dem sie leben können.

    Raith: Aber der Mindestlohn wäre dann immer noch weniger als der derjenigen, die in der Branche einen Tarifvertrag haben?

    Pothmer: Das kommt ganz darauf an, wo wir diesen Mindestlohn ansetzen, und es kommt ganz darauf an, in welcher Branche jemand arbeitet. Ich will nur sagen: Es geht einfach nicht, diese beiden jeweils berechtigten Forderungen gegeneinander auszuspielen, weil sie für unterschiedliche Situationen eine Absicherung bilden.

    Raith: Sie haben jetzt den 1. Mai, Frau Pothmer, schon mehrere Male angesprochen und die Argumentation dieses Mindestlohnes ist ja: Deutschland soll vor Dumping-Angeboten aus dem Ausland geschützt werden. Was glauben Sie denn kommt ab dem 1. Mai auf den deutschen Arbeitsmarkt zu?

    Pothmer: Zunächst einmal muss man mal sagen, dass es völlig unzureichend ist, wenn wir nur über Mindestlöhne für Zeitarbeiterinnen und Zeitarbeiter reden. Wir brauchen, wenn wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit haben, insgesamt faire Wettbewerbsbedingungen. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet damit, dass ungefähr 140.000 Beschäftigte auf den deutschen Arbeitsmarkt kommen werden, und zwar in erster Linie Beschäftigte mit geringen Qualifikationen, also die, die bei uns im Niedriglohnsektor arbeiten. Und in diesem Niedriglohnsektor sind im Übrigen sogar im Aufschwung die Löhne noch zurückgegangen. Die Lohnspreizung nimmt immer weiter zu. Deswegen brauchen wir nicht nur einen Mindestlohn in der Zeitarbeit; deswegen brauchen wir dringend einen gesetzlichen Mindestlohn für alle Branchen.

    Raith: Aber glauben Sie, der Ansturm wird so groß sein, dass das tatsächlich notwendig ist?

    Pothmer: Wissen Sie, wir haben jetzt bereits in Deutschland den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa. 6,5 Millionen Menschen arbeiten in diesem Bereich und über zwei Millionen arbeiten für Löhne unter fünf Euro die Stunde brutto. Das ist der Ausdruck eines Alleinstellungsmerkmals, den Deutschland hat. Alle anderen europäischen Länder haben Lohnuntergrenzen, haben Mindestlöhne oder vergleichbare Regelungen. Und das ist etwas, was wir in Deutschland ohnehin brauchen, aber die Arbeitnehmerfreizügigkeit wird noch mal einen besonderen Druck insbesondere auf diese niedrigen Löhne auslösen. Wissen Sie, wenn selbst Herr Hundt sagt, wir brauchen einen Mindestlohn für die Leiharbeit, dann, glaube ich, sollte auch die FDP nicht länger zweifeln.

    Raith: Die FDP wiederum gibt sich ja mit Hinblick auf den 1. Mai gelassen. In England und Dänemark, so werden die Beispiele angeführt, besteht seit Längerem volle Freizügigkeit, ohne dass es zu Verwerfungen und zu chaotischen Verhältnissen auf dem Arbeitsmarkt gekommen ist. Warum fürchten Sie das dann für Deutschland?

    Pothmer: England hat einen Mindestlohn. England hat sozusagen faire Wettbewerbsbedingungen für diese Situation geschaffen, und in Dänemark gibt es etwas Vergleichbares wie den Mindestlohn. Also beide Beispiele sind dafür geeignet zu sagen: Lasst es uns so machen, wie es die Dänen gemacht haben, lasst es uns so machen, wie es die Engländer gemacht haben.

    Raith: Die Argumentation in Deutschland stützt sich ja auf den 1. Mai, auf die Freizügigkeit und die drohenden Dumping-Angebote dann aus dem Ausland. Stören Sie sich eigentlich an der Argumentation und der Tatsache, dass das alles unter Druck und nicht eben aus freien Stücken geschieht?

    Pothmer: Mir kommt es auf das Ergebnis an und es kommt darauf an, dass sich da etwas bewegt für die Beschäftigten in diesem Sektor. Dass ich es da nicht nur mit Gutmenschen zu tun habe, daran habe ich mich lange gewöhnt. Entscheidend ist, was am Ende dabei herauskommt für die Beschäftigten im Niedriglohnsektor.