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Der absoluten Macht ausgeliefert

Der Roman der syrischen Schriftstellerin liefert einen Eindruck davon, wie es sich anfühlt, in einer Diktatur zu leben. Er erklärt so auch die Vorgeschichte des Aufstandes in Syrien. Wer wissen will, wie das Regime zu der enthemmten Brutalität fähig ist, die es an den Tag legt, findet hier eine Antwort.

Von Kersten Knipp | 19.07.2013
    Der Zugriff erfolgt kurz vor Mitternacht. Eine Einheit der Staatssicherheit dringt in das Haus von Fahd Al-Dschalili ein, stürmt ins Schlafzimmer und verhaftet den jungen Mann. Splitternackt muss er den Beamten folgen, gerade schafft er es noch, sich ein durchsichtiges Deckchen vom Teetisch zu schnappen, um sich notdürftig damit zu bedecken. Kurze Zeit später findet er sich in einem der Folterkeller des Regimes wieder. Die Sicherheitskräfte wollen nur eines wissen: Wer ist der Autor jener kommunistischen Flugblätter, die Fahd in den palästinensischen Flüchtlingslagern in und um Damaskus verteilt hat? Fahd schweigt, verweigert die Antwort. So bindet man ihm eine Kette um die Hoden und zieht ihn daran in die Höhe. Ein paar Stunden, und Fahd gibt sein Geheimnis preis. Nützen wird es ihm nur bedingt: Er wird zwar nicht getötet. Aber er bleibt die nächsten 15 Jahre im Gefängnis.

    "Wächter der Lüfte" hat die 1974 geborene syrische Autorin Rosa Yassin Hassan ihren Roman über Syrien unter der Herrschaft Hafiz Al-Assads, des Vaters des jetzigen Präsidenten Bashar Al-Assads, genannt. Wer wissen will, wie das derzeitige Regime zu der enthemmten Brutalität fähig ist, die es vor den Augen der Weltöffentlichkeit an den Tag legt, findet hier eine Antwort: Das Regime brauchte sich nur einer Tradition zu bedienen, die Hafiz Al-Assad seit seinem Machtantritt Anfang der 1970er-Jahre begründete.

    Rosa Yassin Hassan verließ Syrien vor ein paar Monaten. Die engagierte Schriftstellerin, die sich öffentlich gegen das Regime gestellt hatte, fühlte sich in ihrer Heimat nicht mehr sicher. Doch ihr Roman reicht geografisch über Syrien hinaus. Denn die Ich-Erzählerin, Fahds Freundin Anat, arbeitet in der kanadischen Botschaft. Ihre Aufgabe dort: Interviews mit Flüchtlingen aus vielen Ländern der Region zu führen, die in ein westliches Land wollen. Emmanuel, der junge Chaldäer etwa. Seine Volksgruppe besiedelte den Irak schon vor der Ankunft der Araber. Auf einer Feier singt er ein traditionelles Lied - doch kaum ist es zu Ende, umstellen Beamte der irakischen Staatssicherheit das Gebäude. Ihr Vorwurf: Die Versammelten hätten den Sturz der Regierung geplant. So absurd die Anschuldigung ist, sie bringt Emmanuel ins berüchtigte Mahdschar-Gefängnis.

    Das Gefängnis war zugleich ein Ausbildungszentrum der Polizei, an das eine Abteilung zum Training von Polizeihunden angeschlossen war. Immer diese Details, diese verdammten Details.

    Man darf hinzufügen: Das Buch bringt viele Details, aus dem Sudan etwa, oder aus Saudi Arabien. Es berichtet von der Hierarchie der Gefangenen: von jenen, die unter der Folter geschwiegen und jenen, die ihre Mitstreiter verraten haben. Aber ist "verraten" das richtige Wort? Lässt sich unter Foltermethoden, wie das Buch sie beschreibt, an einen freien Willen denken? Rosa Yassin Hassan beantwortet die Frage nicht. Vielmehr wirft sie immer wieder eine Frage auf: Wie verhält sich der Mensch der absoluten Macht gegenüber? Die meisten Menschen scheitern, brechen zusammen. Und das ist nicht erstaunlich angesichts der Praktiken, die sie beschreibt. Ihr Buch liefert anhand der Details, in denen sie die Haftzeit von Fahd und deren Folgen für die Beziehung zu Anat erzählt, einen Eindruck davon, was es heißen mag, in und unter einer arabischen Diktatur zu leben. Durch die Razzien und nächtlichen Überfälle, aber auch die Entführungen am helllichten Tag, sogar während einer Vorlesung an der Universität von Damaskus, signalisiert der Staat seinen Bürgern vor allem eines: Ihr seid nicht sicher. Es kann jeden von euch treffen, immer und überall. Also passt auf, erhebt euch nicht und schweigt. Und das mag auch erklären, warum er nun, da seine Bürger sich gegen ihn erhoben haben, so enthemmt zuschlägt: In den Augen des Regimes ist etwas Unfassbares geschehen, etwas, das so schlicht nicht denkbar war - und das darum, weil es nicht sein kann und nicht sein darf, mit allen Mitteln zu bekämpfen ist.

    Die Gewalt lässt die Menschen nicht nur physisch leiden. Sie dringt auch auf anderer Ebene in ihr Leben ein. 15 Jahre hat sich das Paar immer nur kurz, nur flüchtig gesehen - so, wie es kurze Gefängnisbesuche eben zulassen. Dann, in der Freiheit, versuchen die beiden an die frühere Intimität anzuknüpfen. Doch die lange Haftzeit hat Fahd verändert. Die Unbekümmertheit der jungen Jahre hat er verloren, von den sozialistischen Idealen hat er sich längst verabschiedet. Sein einziger Wunsch: die vor ihm liegenden Jahre möglichst angenehm, zumindest aber ohne allzu viel Leiden zu verbringen. Diese Veränderungen angemessen zu beschreiben, fehlen ihm die Worte, oder besser: Er vermag sie nicht auszusprechen. So greift er zu Schrift und Papier, um sich Anat mitzuteilen. Und noch etwas lässt er sie wissen: Nachdem der Staat seine Existenz zerstört hat, kann er sich eine Zukunft in Syrien nicht mehr vorstellen. So geht er weg und findet Asyl in einem europäischen Land. Anat bleibt vorerst in Syrien. Wird sie nachkommen? Der Roman lässt es offen.

    Der im Frühjahr 2011 in Syrien ausgebrochene Aufstand kam nicht unvermittelt. Er hat eine lange Vorgeschichte, der bis in die 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückreicht. Diese setzt das elegant geschriebene Buch anschaulich in Szene. Melancholie und politischer Realismus verbinden sich zu einem ganz eigenen Ton, zu einer Elegie der verlorenen Jahre, auf die so viele Syrer zurückblicken.

    Rosa Yassin Hassan, "Wächter der Lüfte". Aus dem Arabischen von Stephan Milich und Christine Battermann. Alawi Verlag, 340 Seiten, 22 Euro.