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Der Absturz als Menetekel

Am Anfang von Michael Kumpfmüllers neuem Roman steht eine Nachricht, die beim Empfänger für Aufregung sorgt. Anisha, die Tochter des Innenministers Selden, teilt ihrem Vater in einer SMS mit, dass sie abstürzt. Was er zunächst für einen Scherz hält, wird zur Gewissheit. Als Selden erfährt, dass seine Tochter bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist, wird ihm klar, dass diese SMS das letzte war, was sie ihm mitgeteilt hat.

Von Michael Opitz | 09.03.2008
    Der Text: "Es hat eine Explosion gegeben. Es ist entsetzlich. Wir stürzen ab", prägt sich ihm ein.

    Mit dem Flugzeugabsturz gibt Kumpfmüller eine Bewegungsrichtung vor, die er im Handlungsgeschehen seines Romans aufgreift. Er siedelt seine Geschichte zwischen oben und unten an, wobei der Absturz wie ein Menetekel über den Ereignissen schwebt - Sicherheit stellt sich nicht ein. Kumpfmüller nimmt die Gegenwart nicht schlendernd in Augenschein. Bei seinem Gang in die Tiefe schaut er genau hin. Er entwirft in "Nachricht an alle" das Bild einer modernen Gesellschaft und prüft, ob sich diese Gemeinschaft ihrer prekären Verfasstheit bewusst ist.

    Die Bedeutung, die das Anfangsereignis für den Roman hat, erinnert an Pieter Brueghels Bild "Der Sturz des Ikarus". Kumpfmüller fokussiert zunächst auf ein Unglück, interessiert sich aber sehr viel mehr für das Umfeld. Auch auf Brueghels Bild wird der Katastrophe des vom Himmel gefallenen Ikarus Aufmerksamkeit geschenkt, doch im Vordergrund stehen die, die nichts gesehen haben. Sie scheinen nicht bemerkt zu haben, dass Ikarus abstürzt, obwohl sie hätten sehen können, wie er vom Himmel fällt. Unbeeindruckt gehen sie ihrer Arbeit nach, während Ikarus - und mit ihm ein Menschheitstraum - im Meer versinkt. Auf Brueghels Bild muss man den Untergehenden suchen, weil sich der Maler auf die konzentriert, die sich in unmittelbarer Nähe befanden, als sich das Außergewöhnliche ereignete.

    Bertolt Brecht diente Brueghels Bild als Vorlage für seine Überlegungen zum Verfremdungseffekt und es hat den Anschein, als würde Kumpfmüller in der Anlage seines Romans auf die Verfremdungstechnik zurückgreifen. Der Flugzeugabsturz bleibt in "Nachricht an alle" ein singuläres Ereignis. Doch er ruft es häufig in Erinnerung, sodass es im Zusammenhang mit dem zu lesen bleibt, was Kumpfmüller sichtbar machen will. Er wendet sich, ausgehend vom Einzelfall, der Totalen zu und entwirft das Bild einer modernen Gesellschaft, in der die Katastrophe als Möglichkeit aufgehoben ist.

    Im Zentrum von Michael Kumpfmüllers Roman, für den er 2007 den Alfred-Döblin-Preis erhielt, steht mit Selden ein Politiker. Der "Hausmeister des Staates" erfährt vom Tod seiner Tochter, als sich eine politische Krise anbahnt. In den Straßen türmen sich Müllberge und Ratten werden zur Plage. Doch stärker beunruhigt den Innenminister, dass sich die Straße unmissverständlich zu Wort meldet: Arbeiter streiken, Angestellte fordern mehr Lohn und Studenten demonstrieren. Selden ist herausgefordert und muss reagieren. Dabei ist es sein Bestreben, durch politische Maßnahmen wieder einen Zustand der Ruhe herzustellen. Das Zauberwort heißt Deeskalierung. Während die Protestierenden die Straße besetzen, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen, ist der Minister daran interessiert, die Unzufriedenen von der Straße zu holen. In diesem Interessenkonflikt verwischen sich die Wahrnehmungskonturen auf beiden Seiten. So verstellt der Wunsch nach Rückkehr zur Normalität Selden den Blick, in den momentanen Unruhen jene Anzeichen zu entdecken, die auf Künftiges verweisen. Weitsichtige Politik aber müsste dazu in der Lage sein. In dem von ihm entworfenen Bild hinterfragt Kumpfmüller auch, in wieweit Politik dies vermag. Selden interessiert weniger das Künftige, sondern das Gegenwärtige. Ein Freund macht ihn allerdings darauf aufmerksam, dass er auf mehr achten müsste:

    "Es scheint etwas in Bewegung zu kommen hier bei euch. Der ganze Westen scheint in Bewegung zu kommen. Es haben ein paar Autos gebrannt, sagte Selden. Das ist das, was man sieht, sagte Kleist. Die Frage ist, was sieht man nicht oder erst auf den zweiten Blick. Ich bin da draußen mal herumgelaufen für dich. Ein wenig schnuppern, wie es dort riecht, woher der Wind weht, was noch alles kommt, wie weit sie euch in Bedrängnis bringen. Mein Eindruck ist: Diese Jugendlichen sind überrascht. Sie haben sich das nicht zugetraut. Dass sie auf einmal etwas in der Hand haben, obwohl sie gar nicht wissen, was sie damit anfangen. Eine kleine Krise, sagt CNN. Ich mag ja Krisen. Ich sehe weit und breit keine Krise, sagte Selden und dachte: Das war von Anfang an das Problem zwischen uns, dass er ein Mann der Krise ist. Er lebt davon. Notfalls erfand er sie sich, obwohl es an Krisen wahrlich keinen Mangel gab." (119)

    Kumpfmüller stellt uns Selden nicht als eine Politmaschine vor. Nach seiner Scheidung hat der Mitfünfziger ein zweites Mal geheiratet. Doch auch in der Ehe mit Britta, einer Malerin, die tote Diktatoren auf Leinwände bannt, findet der Minister nicht, wonach er sich sehnt - gelegentlich flüchtet er zu seiner Geliebten Lynn. Das ist moralisch inkorrekt und wird zur Folge haben, dass der Minister ins Stolpern gerät, als die Krise eskaliert. Bilder seiner Geliebten werden in der Zeitung veröffentlicht und es werden Ungereimtheiten bei der Abrechnung von Reisekosten aufgedeckt. Sein Amt steht auf der Kippe. Doch bevor es so weit ist, belässt es Selden nicht bei der einen Geliebten, sondern er beginnt ein Verhältnis mit der Journalistin Hannah. Er lässt seinem Körper Freiheiten, wodurch er angreifbar wird. Man liest seine Körpersprache. Zugleich aber ist es Selden, der mit seinem politische Entscheidungen andere Körper zum Sprechen bringt.

    Für das Gesellschaftsbild, das Kumpfmüller entwirft, bedient er sich einer Perspektive, die ihm Einblicke in die unterschiedlichsten Bereiche des öffentlichen Lebens und der Privatsphäre erlaubt. Dabei ist er um Nähe und nicht um Distanz bemüht. Der Döblin-Preisträger fühlt sich durchaus dem Slogan Alfred Döblins verpflichtet: "Dichter heran müssen wir an das Leben."

    Wenn auch das Vage nicht Kumpfmüllers Domizil ist, so lässt er doch bewusst im Ungewissen, an welchem Ort das Geschehen topographisch festzumachen ist. Es gibt keinen eindeutigen Hinweis darauf, dass die Handlung in Deutschland spielt. Auszuschließen ist es nicht, aber der Autor liegt offensichtlich viel mehr daran, den Leser in dem Eindruck zu bestärken, dass es sich bei "Nachricht an alle" um einen in Westeuropa spielenden Roman handelt. Nicht einem einzelnen Land, sondern einer ganzen Region schenkt der Autor seine Aufmerksamkeit. Das Wo ist nebensächlich, entscheidend ist: Was ereignet sich wie und warum.

    Neben dem Politiker Selden, der im Zentrum der Macht agiert, schenkt Kumpfmüller auch jenen Unzufriedenen Beachtung, die auf die Straße gehen, und ihren Forderungen durch Protest Nachdruck verleihen. Hinzu kommt - vertreten durch die Journalistin Hannah - die Ebene der Medien, die mit beiden Gruppierungen in Kontakt steht. Hannah schreibt über jene, die ihren Unmut artikulieren und befragt als Interviewerin den Innenminister. Doch die Verständigung zwischen denen oben und den anderen unten wird erschwert durch die unterschiedlichen Sprachen, die zwischen oben und unten gesprochen werden. Selden spricht die Sprache der Politik, Mania und Joe, zwei Demonstranten, die Sprache der Straße und Hannah kennt sich in der Sprache der Medien aus.

    "Alles war Sprache. Alles war Entzifferungsarbeit", "

    heißt es im Roman. Die Sprache ist in Kumpfmüllers Roman überhaupt ein zentraler Topos. Seine Protagonisten setzen mit ihren Aktionen Zeichen, die gelesen und verstanden werden müssen. Entzifferungsarbeit ist ein Kernproblem des Romans. In Krisenzeiten tendiert das Verstehen gegen null und die streitenden Parteien sind weit davon entfernt, zu einer gemeinsamen Sprache zu finden. Vom Nichtverstehen wird aber auch der Ehealltag zwischen Selden und seiner Frau beherrscht. Britta hat es sich angewöhnt, über ihre Ehe Protokoll zu führen. Sie beschreibt sachlich einen Zustand und bedient sich dabei eines Stils, wie ihn Selden in der Politik pflegt. Aber der Hausmeister des Staates versagt im eigenen Haus und bemerkt nicht, dass es sich um ein Zeichen handelt, wenn Britta penibel den Ehealltag festhält. Selden versteht ihre Sprache nicht. Er lässt sich nicht darauf ein, was sie ihm mitteilen will und scheitert, noch bevor er mit der Entzifferungsarbeit begonnen hat.

    " "Das ist unsere Ehe. Ich führe Protokoll. Solange ich es noch führe, scheint mich das Thema zu interessieren. Vielleicht höre ich eines Tages auf damit, schien sie zu sagen. Vielleicht vergesse ich's einfach, weil mich auf einmal etwas anderes viel mehr interessiert. Wie Kinder von heute auf morgen ein Spiel vergessen. Selbst hochentwickelte Kulturen konnten vergessen, was sie sich mühevoll erarbeitet haben, Alphabete, komplizierte Bewässerungstechniken, die Idee der Freiheit (ha, ha), obwohl ja derzeit alle der Meinung waren, man müsse sie mit allen Mitteln verteidigen. Wer nicht vergessen werden will, darf nicht vergessen. Vergiss mich nicht, schien sie zu sagen." (134f.)

    Nach dem Tod seiner Tochter erweist sich das politische Krisenmanagement für Selden als idealer Fluchtraum. Er versucht, dem Tod auszuweichen, während der Erzähler nicht mit Hinweisen spart, dass dies eine fatale Illusion ist. Der Gedanke an den Tod wird stets wach gehalten. Seit er durch das Flugzeugunglück die Szenerie betreten hat, ist er permanent anwesend, auch wenn Selden ihm kein Ohr leihen will. Als geübter Weghörer beherrscht er auch die Kunst des Wegsehens. Beides gehört zum politischen Handwerk. Selden schaut weg, wie die Männer auf Brueghels Bild. Er weigert sich, den Absturz als Chiffre des eigenen Lebens zu lesen und macht stattdessen mit dem Fall Politik. Es klingt höhnisch, wenn die Medien berichten, dass die Tochter des Ministers leider nicht Opfer eines terroristischen Anschlags wurde, sondern nur ein Triebwerkschaden Ursache für den Flugzeugabsturz war. Aber genauso fragwürdig ist, wie Selden das Unglück benutzt, um im Kabinett Antiterrorgesetze durchzubringen. Der Fall hat Tiefe.

    "Selden hörte nur zu, dachte an Hannah, die mit solchen Leuten schon geredet hatte. Er fragte sich, was der Unterschied war, außer, dass sie schrieb und er nicht. Wahrscheinlich war es eine andere Form von Aufmerksamkeit, weniger deformiert, weniger gefiltert, was auch eine Frage des Vertrauens war. Hannah hätte darüber gelacht. Dieser lächerliche Mythos von der Unschuld des Journalisten. Alles blanke Theorie. Wir schreiben ja nur. Wir lesen die Welt, wie sie ist, aber wir haben sie nicht gemacht. Das machen andere, die bösen Manager, die Politiker, Leute wie du. Dabei ging es hier wie dort um Manipulation, das Durchsetzen bestimmter Versionen, die lesbar waren und unter starkem Konkurrenzdruck standen." (275f.)

    Selden als Fallstudie eröffnet Kumpfmüller die Möglichkeit, aus einem zunächst weltlich determinierten Verhältnis zwischen oben und unten die Konturen eines Bildes zu entwickeln, das durch den Himmel und die Hölle begrenzt wird. Was auf der Handlungsebene an Ereignissen passiert, findet im von Krisen erschütterten Zwischenbereich der Gegenwart statt. Die Protagonisten, das hat Kumpfmüller dem Text eingeschrieben, wären gut beraten, sich hin und wieder nach oben und nach unten zu orientieren. Sie sollten nicht nur geradeaus schauen, wenn sie nicht vom Weg abkommen wollen.

    Mit Figuren wie Mania und Joe, den beiden Demonstranten, deren Namen als Pseudonyme für Maria und Josef stehen, stellt Kumpfmüller neben dem weltlichen auch einen christlichen Bezug her. Er verleiht dadurch der Nachricht Gewicht, verklärt sie aber nicht. "Glotzt nicht so blöd", heißt es bei Kumpfmüller in Anlehnung an Brechts Formulierung "Glotzt nicht so romantisch" aus dem Stück "Trommeln in der Nacht". Dieser Aufforderung ist der Hinweis zu nüchterner Betrachtung der Wirklichkeit eingeschrieben. Kumpfmüller wendet sich der Jetztzeit zu, indem er die Gegenwart einfriert, um die erstarrten Verhältnisse besser analysieren zu können.

    "Sie hatte lange gedacht: Wer in die Politik geht, ist ein Gläubiger . Er glaubt, deshalb ist er bereit zu leiden. Das gute Leben, hier unten auf Erden, darum geht es, hatte sie gedacht. War das nicht ursprünglich das Ziel aller Politik? Die wohlgeordnete Stadt, in der es Häuser und Höhlen gab, vor Feinden geschützte Räume, in denen man sich auf die Geburt seiner Kinder vorbereitete, Männer und Frauen, die sich liebten und in allen denkbaren Variationen füreinander sorgten. Die Wahrheit sah bekanntlich anders aus. Politik war ein Job, meinetwegen, aber was für einer. Im Grunde Stallarbeit. Miste den Stall aus, zum Lohn machen wir dich unsterblich oder jagen dich zum Teufel. " (55f.)

    Selden entgeht dem Absturz, aber er kommt nicht ohne Verletzungen aus der Krise. Eine Frau verletzt ihn durch einen Messerstich lebensbedrohlich. In dieser Situation scheint sich die Ehekrise zwischen Selden und Britta ebenso zu legen, wie die öffentliche. Obwohl sich beide bereits voneinander entfernt hatten, finden sie wieder zueinander und beginnen, wieder eine gemeinsame Sprache zu sprechen.

    Die Krise, die sich anbahnte, ihren Höhepunkt erreichte und wieder abebbte, liegt in ihrem zyklischen Verlauf dem Handlungsgeschehen zu Grunde. Die drei Phasen finden sich in den drei Teilen wieder, in die sich der Roman gliedert und den drei Chören, auf die Kumpfmüller zurückgreift. Durch die Einführung des Chores gelingt es ihm, die Handlung vertikal zu strukturieren. Den Chor siedelt er dabei im Bereich zwischen oben und unten an. Während oben die verortet sind, die über politische Macht verfügen und unten die agieren, die an den politischen Verhältnissen etwas ändern wollen, verkörpert der Chor die schweigende Mehrheit.

    "Die aktuelle Stimmung ist, dass man besser die Klappe hält. Alles ist schlimm, es hat Tote gegeben, ein schwer verletztes Regierungsmitglied, also überlegt euch, was ihr sagt. Es ist mal wieder die Stunde der Affirmation, die Leute sollen zusammenrücken, nicht so kleinlich sein, aufhören, alles schlechtzumachen, was so klingt, als bestünde das halbe Land aus Kritikern. Aber das ist Quatsch. Wer herummault, hat noch lange keine Kritik abgeliefert. Im Gegenteil." (314f.)

    Ursprünglich war es Kumpfmüllers Absicht, den drei Chören Namen zu geben. Der erste sollte Chor der Vernünftigen heißen. Doch diese Idee hat er im Verlaufe der Arbeit verworfen. Auf Chöre, die in der gegenwärtigen Literatur eine Tradition haben, die von Heiner Müller über Elfriede Jelinek bis zu Einar Schleef reicht, wollte Kumpfmüller aber nicht verzichten. Während im ersten Chor die eine Stimme bekommen, die für Ordnung einstehen, , ohne Büttel der Ordnung zu sein, setzt sich der zweite Chor aus Stimmen zusammen, die aus der politischen Mitte heraus für eine Radikalisierung eintreten. Diese Haltung nimmt der dritte Chor auf, wobei diese Stimmen bereits von denen gebrochen werden, die an die Vernunft appellieren und zur Ordnung aufrufen. Der letzte Chor ist, darin unterscheidet er sich vom ersten und vom zweiten, ein gemischter Chor. In ihm ergreifen am Schluss die Mütter das Wort, die darauf hinweisen, dass alles zyklisch ist.

    "Man darf sich keine Illusionen machen. Aus Kindern werden bekanntlich Leute, es bleibt ihnen nichts erspart. Sie werden leiden und sie werden andere leiden lassen, uns selbst nicht ausgeschlossen. Aber deshalb war es nicht umsonst. Alles ist Kreis, Anfang und Ende, das Gebrabbel der Alten, das ja nicht ohne Grund an das Gebrabbel der Kinder erinnert, der Wechsel der Jahreszeiten, im Verlauf der Erdgeschichte warme und kalte Perioden, Krieg und Frieden. Alles geht weg und kommt nach einer Weile wieder, aus Ruhe wird Bewegung und dann, nach einer Weile, wieder Ruhe. [...] Der Wunsch ist: Ja, doch, so könnte es bleiben, hoffentlich bleibt es so. Und manchmal: Ist es nicht seltsam, dass alles so ist, wie es ist, dass es so gekommen ist?" (318f.)

    Was Kumpfmüller beschrieben hat, wird sich wiederholen - im Privaten wie im Öffentlichen. Während eine Krise vorbei ist, zeigen sich bereits erste Anzeichen der nächsten. Überzeugend vermag Kumpfmüller zu zeigen, wie diese Vorgänge ihre eigene Dynamik entwickeln. Es gelingt ihm, die Geschwindigkeit, mit der sie sich entwickeln, in Sprache zu übertragen. Er zeigt Figuren, die, wie immer sie sich auch verhalten, nach Halt suchen. Selden setzt alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel ein, um seinem Posten zu halten. Er arbeitet daran und zugleich hofft er, dass die Zeit die Wogen glättet. Von dem Politiker, den Kumpfmüller ins Zentrum seines Romans stellt, wird das Mögliche erwartet und er muss Sorge dafür tragen, nicht unter den Möglichkeiten zu bleiben, die ihm das Notwendige auferlegt.

    Das Buch entlässt seine Leser nicht in der Gewissheit, dass es "die" da oben schon richten werden. Sie sind auf den Druck von unten angewiesen, weil ihnen so Wirklichkeit präsentiert wird, die sie zum Handeln zwingt. Michael Kumpfmüller hat mit "Nachricht an alle" ein hochaktuelles Thema aufgegriffen, mit dem er in der Tradition von Wolfgang Köppens 1953 erschienenem - ebenfalls in der Politik angesiedelten - Roman "Das Treibhaus" steht. Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Kumpfmüller nicht auf den klassischen Konflikt zwischen Geist und Macht setzt. Seine Politiker, Selden insbesondere, haben ihre Chance. Der Roman "Nachricht an alle" ist ein Beleg für die These, dass die jüngste deutsche Literatur wieder politisch wird. Aber nicht deshalb ist es ein Ereignis des Bücherfrühlings 2008.


    Michael Kumpfmüller: Nachricht an alle.
    Kiepenheuer & Witsch. Köln 2008. 383 Seiten.