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"Der Absturz in die Unterschicht kann natürlich relativ schnell kommen"

Die Wirtschaftsjournalistin und Autorin des Buchs "Aufstand der Unterschicht", Inge Kloepfer, prophezeit nach jetziger Entwicklung, dass in zehn Jahren jeder Fünfte mangels Bildung in die Unterschicht abrutscht. Auch für die Mittelschicht seien die Risiken größer geworden, so Kloepfer.

Inge Kloepfer im Gespräch mit Stefan Heinlein | 11.11.2008
    Stefan Heinlein: Schlechter Lohn, unsichere Verträge; Leiharbeiter sind Arbeitnehmer zweiter Klasse und schon jetzt die ersten Opfer der Wirtschafts- und Finanzkrise. Zu Tausenden verlieren sie in diesen Tagen ihre Jobs. Von BMW bis Volkswagen, vor allem in der Autobranche sind Leiharbeiter nicht mehr gefragt. Doch auch die Stammbelegschaften müssen bangen. Wenn die Aufträge fehlen, sind auch ihre Jobs in Gefahr. Am Rande des Arbeitsmarktes die schlecht Ausgebildeten, ohne Schul- und Berufsabschluss, chancenlos und ohne Zukunft, und darüber hat die Wirtschaftsjournalistin Inge Kloepfer gerade ein Buch geschrieben mit dem Titel Aufstand der Unterschicht. – Guten Morgen, Frau Kloepfer.

    Inge Kloepfer: Guten Morgen, Herr Heinlein.

    Heinlein: Die Vorhersagen für das kommende Jahr sind trübe. Was werden die Folgen der Wirtschaftsflaute für den Arbeitsmarkt sein? Wer muss um seinen Job bangen?

    Kloepfer: Als allererstes müssen natürlich diejenigen bangen, die keine festen Anstellungsverträge haben. Das sind natürlich Leiharbeiter, das sind auch viele Minijobber, all diejenigen, die wir gemeinhin als Dienstleistungsproletariat bezeichnen, also die in entsicherten Arbeitskassen. Die werden natürlich als erste auch wieder ihren Job verlieren.

    Heinlein: Wer stellt denn die Masse der Leiharbeiter? Sind es immer noch die ungelernten, die Hilfsarbeiter?

    Kloepfer: Der Großteil sind immer noch die Arbeiter aus dem Helferbereich, wie man so schön sagt. Das sind Hilfsarbeiter, das sind welche, die nicht sehr qualifiziert sind, die einfache Tätigkeiten verrichten. Aber wir haben auch etliche Leiharbeiter, die qualifiziert sind. Es sind auch viele mit Hochschulabschluss dabei, Ingenieure. Die sind nicht ganz so gefährdet. Die sind vor allen Dingen, wenn sie irgendwo ihren Job verlieren, wieder leichter vermittelbar. Aber die große Zahl der Leiharbeiter im Helferbereich wird in der nächsten Konjunkturkrise erst mal keine Chance haben.

    Heinlein: Ist Leih- und Zeitarbeit ein wichtiges Mittel, um Menschen den Einstieg in den Beruf zu ermöglichen, gerade nach langer Arbeitslosigkeit? So wird ja von der Politik argumentiert.

    Kloepfer: Die Leih- und Zeitarbeit - das ist ja nichts anderes als eine Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse – ist ein ganz wichtiges Mittel gewesen, um auch den Sockel von Langzeitarbeitslosen abzuschmelzen. Die hat ihr Gutes. Sie hat aber dafür einen hohen Preis und das heißt, dass diejenigen, die im Konjunkturaufschwung, eine Chance kriegen, natürlich auch volles Risiko tragen im Abschwung. Das ist das eine Problem der Leiharbeit. Das andere Problem der Leiharbeit ist, dass die Aufstiegschancen nicht so groß sind wie von der Politik und der Wirtschaft gemeinhin suggeriert. Das heißt, wer einmal in diesem Leiharbeitsegment drin ist, der kommt nicht so schnell da wieder heraus. Und wir wissen auch, dass die Leiharbeit eine ganz, ganz hohe Fluktuation hat. Die Leute kommen und gehen. Das sind oft nur wenige Monate, die sie beschäftigt sind. Es ist eine On and Off-Beziehung zum Arbeitsmarkt. Es ist also nicht alles rosig auf diesem Feld.

    Heinlein: Also ein hire und fire. Ist das ein Grundprinzip der Leiharbeit? Wenn es boomt, könnt ihr kommen, wenn nicht, dann ab auf die Straße?

    Kloepfer: Das ist im Grunde das Grundprinzip und das wird auch dazu führen, dass viele Unternehmen in der Krise am Ende besser aufgestellt sind, weil sie natürlich nicht die ganzen Soziallasten tragen müssen, die sie treffen, wenn sie Leute entlassen müssen. Das hat für die Unternehmen sein Gutes, aber es hat eben für den einzelnen Arbeitnehmer einen hohen Preis. Er hat volles Risiko und wenig Chancen. Das ist eine Imbalance, ein Ungleichgewicht sozusagen, das vor allen Dingen die einfachen, wenig qualifizierten tragen müssen.

    Heinlein: Wird die Leiharbeit auch künftig den Unternehmen helfen, die kommende Konjunkturdelle dann besser zu verkraften, weil man eben flexibler ist?

    Kloepfer: Ich glaube, dass diese Flexibilität sehr wohl dazu beitragen wird, dass es so ist. Die Unternehmen müssen sich allerdings auch bemühen zu vermitteln, warum sie zwei Klassen von Arbeitnehmern akzeptieren oder brauchen. Das ist ja ein Problem der Vermittlung der Grundprinzipien unserer freien Marktwirtschaft. Warum haben die einen Chancen und die anderen nicht? – Die Lösung dieses Problems, die haben wir noch nicht gefunden.

    Heinlein: Droht, Frau Kloepfer, nun vielen Leiharbeitern der Absturz in die Unterschicht, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?

    Kloepfer: Der Absturz in die Unterschicht kann natürlich relativ schnell kommen. Das heißt, wenn die Konjunkturkrise nur lang genug ist und die Leiharbeiter oder auch die anderen einfach qualifizierten in schlecht bezahlten Jobs länger wieder arbeitslos werden, dann werden sie von Hartz IV abhängig und sind ganz schnell gesellschaftlich unten. Dazu muss man allerdings sagen, dass Unterschicht natürlich mehr meint als nur eine prekäre materielle Situation. Dazu kommt dann oft noch eine Bildungsferne und ein gewisses Verhalten, was dazu führt, dass man im Grunde sich weiter von der Gesellschaft entfernt. Das ist natürlich nicht bei jedem der Fall, der dann länger arbeitslos ist, aber es kann natürlich ganz schnell passieren, dass wenn man die Perspektive verliert man auch sein Verhalten so ändert, dass man weniger Chancen hat.

    Heinlein: Kann man eine Kausalkette beschreiben? Heute Hauptschule, morgen Hilfsarbeit und übermorgen Unterschicht?

    Kloepfer: Diese Kausalkette ist leider ganz fest. Die kann man feststellen. Das ist der große Systemfehler in unserer Gesellschaft. Wer heute auf schlechten Schulen ist, in schlechten Milieus groß geworden ist, der hat keine Chance. Das ist die Unterschicht von morgen und das betrifft inzwischen fast 20 Prozent unserer Jugendlichen. Das heißt, wenn wir heute von dem Prekariat sprechen, das etwa acht, neun Prozent ist, von dem abgehängten Prekariat derjenigen, die keine Chancen haben, dann könnte das in 10 Jahren fast jeden Fünften unserer Gesellschaft betreffen. Das ist eine gesellschaftliche Katastrophe.

    Heinlein: Ist deshalb eine gute Schul- und Berufsausbildung immer noch das beste Mittel für einen sicheren Job?

    Kloepfer: Das ist das absolut beste Mittel. Das weiß man, das weiß man auch aus soziologischen Untersuchungen, aus der Statistik. Je besser die Qualifikation, desto geringer das Risiko, arbeitslos zu werden. Das wird man auch jetzt wieder feststellen in der kommenden wirtschaftlichen Rezession, in die wir hineinsteuern. Die gut qualifizierten werden ihre Jobs nicht so schnell verlieren wie die schlecht qualifizierten. Aber um gute Schulbildung zu haben und eine gute Ausbildung, muss man eigentlich noch viel früher ansetzen.

    Heinlein: In einem Kapitel Ihres Buches beschreiben Sie die Angst der Mittelschicht vor einem Absturz. Was sind die Gründe dafür?

    Kloepfer: Die Gründe dafür sind einfach, dass viele der Mittelschicht, vor allen Dingen der unteren Mittelschicht natürlich mitbekommen, wie brüchig Erwerbsbiographien sind. Wir wissen, wie wir uns bilden und qualifizieren müssen, damit wir eine Aufstiegschance haben und eine Chance auf Sicherheit, aber diese ist keinesfalls mehr garantiert. Die Risiken sind einfach größer geworden. Auch der Zusammenhang zwischen beruflichem Erfolg und eigener Leistung ist brüchig geworden. Denken Sie an die Restrukturierungsmaßnahmen vieler großer Unternehmen. Da kann es schon auch die Mittelschicht sehr schnell treffen, wenn es in die Arbeitslosigkeit geht, ohne dass der einzelne überhaupt etwas Schlechtes geleistet hat. Das heißt, das spürt die Mittelschicht und daher kommt die große Sorge vor dem gesellschaftlichen Abstieg, die natürlich die eigentliche Tatsache weit überzeichnet.

    Heinlein: Also es gilt nicht mehr, wer gut lernt und fleißig ist, braucht sich keine Sorgen in der Zukunft zu machen?

    Kloepfer: Nein. Es gilt nur noch, wer gut lernt und fleißig ist, der hat auch gute Chancen, aber er hat keineswegs eine Erfolgsgarantie. Das ist die eigentliche Erschütterung, die die gesellschaftliche Mitte in Deutschland trifft.

    Heinlein: Heute Morgen im Deutschlandfunk die Publizistin Inge Kloepfer. Ich danke für das Gespräch.

    Kloepfer: Auf Wiederhören.