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Der Anti-Christo

In Stadien, auf Markplätzen oder Gletschern: Seit 1992 fotografiert Spencer Tunick Unbekleidete im Namen der Kunst. Mit den amerikanischen Behörden bekam er dafür regelmäßig Ärger, in Europa ging es immer etwas leichter. Auch als Tunick nun 1700 Splitternackte in der Münchner Innenstadt drapierte. Eine Betrachtung.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 23.06.2012
    Der Mensch trägt Kleidung aus zwei Gründen: einerseits um nicht zu frieren und andererseits um sich nicht schämen zu müssen. Die Scham hat zwar im Lauf der Zeit ihren Schwerpunkt verlagert, aber sie ist eine anthropologische Konstante, mit der man rechnen muss. Früher hat man Unbekleidetheit an sich als sündig empfunden und sich deswegen geschämt. Heute, da das ganze öffentliche Leben dem Motiv des sinnlichen Begehrens unterworfen ist, schämt man sich allenfalls, wenn der nackte Körper mangels jugendlicher Frische, muskulärer Festigkeit und cellulitisfreier Oberfläche die Stimulierung des Geschlechtstriebs gar nicht leistet. Wenn also Nacktheit mit Hässlichkeit gepaart ist wie bei 89,4 Prozent der Deutschen, wenn Brüste und Bäuche zur Hängepartie werden, wenn welkes Fleisch die Fläche füllt wie auf den Bildern Lucian Freuds, dann kommt man dem Seinsgrund unserer florierenden Textilindustrie nahe.

    Ausgerechnet in der deutschen Modehauptstadt München hat der amerikanische Spleenkünstler Spencer Tunick gerade seine zweite deutsche Massenentkleidung durchgeführt – nach der ersten vor sechs Jahren in der Modehauptstadt Düsseldorf. Tunick macht gewissermaßen als Anti-Christo Karriere, indem er mit der gleichen monomanischen Beharrlichkeit Leute auspackt wie jener Orte eingepackt hat. Das ist ja überhaupt ein Merkmal heutiger Kunst: dass man der Welt mit einer einzigen Grundidee solange auf die Nerven geht, bis man zum Star geworden ist. Tunick hat auf dieser Straße des Erfolgs bereits ein gutes Stück zurückgelegt.

    Denn jeder Kunstliebhaber fiebert heutzutage danach, dass seine verkrusteten Sehweisen aufgebrochen werden, dass seine Wahrnehmung erweitert und er mit Abgründigem und Ungewohntem konfrontiert wird. In seiner Erwartungshaltung enttäuscht zu werden, ist die ultimative Erwartungshaltung des Spießers von heute, und eine ganze Kunstindustrie bemüht sich, dieses Bedürfnis mit äußerster Plattheit zu bedienen.

    Nächstes Wochenende will der niederländische Fotokünstler Rob Sweere in Dresden vor der Frauenkirche eine auf dem Rücken liegende Menschenmasse inszenieren. In München hat Spencer Tunick die Nackten sich mit Farbe einreiben lassen. Was tut man nicht alles für die billigsten Verfremdungseffekte? Schon versinkt die gesamte Begrifflichkeit des Perspektivwechsels in einem Abgrund von Banalität. Jegliche Signalwirkung des Überraschenden ist ja bereits in unserem von Aufmerksamkeitserregung geleiteten Alltag verbraucht. Wenn Flash Mobs zu einem Teil der Normalität werden, ist durch forcierte Arrangements wie Nacktmachen, Hinlegen, nackt Hinlegen und vielleicht dabei die Zunge Rausstrecken ästhetisch nichts mehr zu gewinnen.

    Allerdings agiert der Leiberfotograf Tunick in Deutschland unter gewissermaßen verschärften ästhetischen Bedingungen. Denn aus Deutschland stammt nicht nur die Ideologie der Freikörperkultur, sondern in Deutschland verweist auch die Ikonographie von massenhaft entblößten Körpern auf eine furchtbare Geschichte, deren spezielle Verbindung mit Richard Wagner ihn nicht sonderlich zu stören scheint.

    Tunick verwahrt sich gegen solche Assoziationen natürlich auf das Schärfste. Seine Nackedei-Narretei ist nur friedlich und fröhlich gemeint; sie ist nicht mal ein Kommentar zu Lage der Nation zwischen Staatspleite und Datenkraken. Es ist eine Art "Wetten daß?"-Kunst, die den Dabeigewesenen so etwas wie ein Kirchentagserlebnis mit Erinnerungsfoto bescherte. Dass sie sich in der Gemeinschaft der Nackten durchaus geborgen gefühlt hätten, war hinterher von vielen zu hören. Störend waren nur die Spanner, die sich trotz der frühen Stunde – die Sache begann mit Tagesanbruch – eingefunden hatten: Journalisten mit Kamera, Mikrofon und Notizblock und natürlich allesamt warm angezogen.

    Schließlich mussten die 1700 Freiwilligen in der Münchner Morgenfrische bei 12 Grad Lufttemperatur peinvoll erfahren, dass Kleidung neben der symbolischen Funktion, die Tunick auf etwas plumpere Weise zur Darstellung bringt als etwa Buñuel es tat, auch eine ganz praktische besitzt: Sie schützt vor Kälte und Erkältung.