Donnerstag, 28. März 2024

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"Der Augenzeuge" startete vor 75 Jahren 
Die langlebigste Wochenschau der deutschen Kinogeschichte

Am 19. Februar 1946 startete in der Sowjetischen Zone die Wochenschau "Der Augenzeuge". Die Inhalte mussten von den Sowjets abgesegnet werden, aber man ließ den Machern zumindest anfangs viel eigenen Spielraum – unter anderem, um den Ruf der Besatzungsmacht bei den Deutschen zu verbessern.

Von Christian Berndt | 19.02.2021
    Filmrollen in einem Regal
    Blick in den Filmbunker der DEFA-Filmstudios für Dokumentarfilme GmbH in Berlin-Johannisthal. Im "Wochenschau"-Positivlager sind über 2000 Wochenschauen "Der Augenzeuge" von 1946 bis 1980 untergebracht, aufgenommen am 24.1.1991. (picture-alliance / dpa | zentralbild)
    Den Siegermächten war es nach dem Zweiten Weltkrieg wichtig, die Wochenschau zur politischen Umerziehung zu nutzen. Während die Westalliierten bis 1949 deren Produktion in eigener Hand behielten, überließen die Sowjets in ihrer Zone den Aufbau einer neuen Wochenschau den Deutschen. Sie wurde von der 1946 gegründeten Deutschen Film AG, DEFA, produziert:
    "Wie sieht das heutige Berlin nun wirklich aus, ein einziger großer Trümmerhaufen?"

    Viel Freiheit zu Beginn

    Am 19. Februar 1946 startete in der Sowjetischen Zone die Wochenschau "Der Augenzeuge". Die Inhalte mussten von den Sowjets abgesegnet werden, aber man ließ den Machern – auch um den Ruf der Besatzungsmacht bei den Deutschen zu verbessern – viel Spielraum. Der erste Chefredakteur des "Augenzeugen", Kurt Maetzig, erinnerte sich später:
    "Ich fühlte mich völlig frei, und ich war in dieser Anfangsphase auch völlig frei. Es war ein Zensor da, aber der machte vom Zensurrecht kaum Gebrauch. Das gab uns das Gefühl von großer Freiheit und Souveränität, leider war es eine sehr kurze Phase, und leider nahm die Sache eine völlig andere Wendung."

    Selbst sehen, hören und urteilen

    Natürlich sollte die Wochenschau den Sozialismus propagieren. Für den überzeugten Sozialisten Maetzig, der aufgrund seiner jüdischen Abstammung die Nazi-Zeit nur mit viel Glück überlebt hatte, war das selbstverständlich. Von ihm stammte der Slogan des "Augenzeugen", "Sie sehen selbst, Sie hören selbst, urteilen Sie selbst", Texterin Marion Keller hatte den Titel erfunden. Beide hatten keine Wochenschau-Erfahrung und probierten neue journalistische Formen aus. Den Bericht über einen Boxkampf etwa ließen sie von einem der Boxer selbst kommentieren:
    "Auch ich werde unzählige Male links und rechts von ihm getroffen und muss des Öfteren die Zähne aufeinanderbeißen …"

    Lob aus dem Westen

    Keller arbeitete in ihren Texten viel mit Ironie und legte Wert auf Kultur aus Ost und West. Im Westberliner "Tagesspiegel" lobte der Kritiker Friedrich Luft die Lebendigkeit des Augenzeugen". Stefanie Eckert, Vorstand der DEFA-Stiftung:
    "Man hat am Anfang auch noch nicht diese Ost-West-Hetze, sondern immer noch versucht, eher unparteiisch über Gesamtdeutschland zu berichten."
    Der "Augenzeuge" wurde in ganz Berlin beliebter als die West-Wochenschauen. Dazu trug auch die lebensnahe, persönliche Ansprache mit Aktionen wie "Kinder suchen ihre Eltern" bei:
    "Der vierjährige Dieter, Familienname unbekannt, hat die Eltern auf der Flucht verloren."

    Chefredakteurin wird abgesetzt

    Als Maetzig zur Spielfilm-Regie wechselte, wurde Marion Keller Chefredakteurin. Aber mit der Verschärfung des Ost-West-Konflikts Ende der 40er-Jahre galt der "Augenzeuge" zunehmend als politisch unzuverlässig und die SED-Verantwortlichen setzten Keller ab:
    "Die Wochenschau wurde zunehmend als Propagandainstrument angesehen, es wurde ein ganz anderer Fokus gesetzt auf Tagungen, Kundgebungen."
    "Wir lieben unseren Präsidenten, schallte es Wilhelm Pieck entgegen."
    Das Ergebnis war eine rapide Abnahme des Zuschauerinteresses. Um die Bevölkerung wieder zu erreichen, wurde nach dem Volksaufstand 1953 Helmut Schneider zum Chefredakteur ernannt. Er hatte im Krieg für die BBC gearbeitet und gab dem "Augenzeugen" tatsächlich neues Tempo. Der neue Stil zeigte sich, wenn etwa von einer Party an der Berliner Hochschule für Angewandte Kunst berichtet wurde:
    "Die Kamera entdeckte wenig bildende, aber viel angewandte Kunst."
    Wie die entfesselte Kamera Rock’n’Roll tanzende und knutschende Studenten rauschhaft einfängt, wirkt heute noch mitreißend.

    Politische Vorgaben und künstlerische Entwicklung

    Aber die SED-Führung war entsetzt, Schneider wurde 1959 abberufen und der politische Ton wieder doktrinärer. Aber der Stil wandelte sich weiter:
    "Anfang der 60er-Jahre war allgemein in der DDR eher so ein Aufbruch innerhalb der Künste, des Films, der Musik, und das spiegelte sich auch in den Wochenschauen wider, die Musik wurde jazziger."
    Weil die Wochenschau nicht mit der Aktualität des Fernsehens konkurrieren konnte, wurden nun Geschichten und filmische Qualitäten wichtiger. Wochenschau-Beiträge des "Augenzeugen", wie eine stimmungsvolle Ostermarsch-Reportage, liefen 1966 sogar auf den Westdeutschen Kurzfilmtagen Oberhausen.
    In der zweiten Hälfte der 60er-Jahre begann in der DDR der Niedergang der Wochenschau. Auch die Staatsführung verlor das Interesse und kürzte die Mittel, worauf man beim "Augenzeugen" versuchte, mit besonderer Linientreue zu punkten. Doch auch das konnte nicht verhindern, dass die Wochenschau 1980 eingestellt wurde - als langlebigste Wochenschau der deutschen Kinogeschichte.